Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hrsg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 11.04.2009
Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hrsg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam.
transcript
(Bielefeld) 2008.
232 Seiten.
ISBN 978-3-89942-992-3.
24,80 EUR.
CH: 44,00 sFr.
Reihe: Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung - 3.
Entstehungshintergrund und Thema
Im Jahre 2007 fand in Oldenburg eine von der DFG geförderte internationale Konferenz zum Thema „Migration, Islam and Masculinities: Transforming Emigration and Immigration Societies“ statt. In dem vorliegenden Band werden eine Auswahl weiterentwickelter Beiträge der DFG-Konferenz veröffentlicht.
HerausgeberInnen und VerfasserInnen
Die Gruppe der VerfasserInnen ist international aufgestellt. Zwei Autoren (Aslan, Buyurucu) sind in der Türkei aufgewachsen und später nach Deutschland immigriert. Einige der AutorInnen (Haeger, Huxel, Kühnemund, Scheibelhöfer, Tunc, Uslucan) befinden sich mitten im Promotionsprozess oder haben diesen vor kurzem abgeschlossen, verschiedene (Aslan, Buyurucu, Tunc) engagieren sich aktiv in praktischen Projekten im Bereich der geschlechtsspezifischen Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund. Die Herausgeberin Lydia Potts leitet die Arbeitsstelle „Migration-Gender-Politics“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist Mitbegründerin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung; der Herausgeber Jan Kühnemund graduierte an der Universität Oldenburg zum Thema Migration und Postkoloniale Theorie, ist als wiss. Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zu Afrikanischer Migration und Gender tätig und arbeitet als Freier Journalist.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist unterteilt in vier grosse Kapitel:
- „Mediale (De-) Konstruktionen“ mit drei Aufsätzen,
- „(Re-)Konstruktionen von Individualität“ mit fünf Aufsätzen,
- „Gewalt-Familie-Öffentlichkeit“ mit zwei Aufsätzen und
- „Fremdbilder-Selbstbilder“ mit ebenfalls zwei Aufsätzen.
Hinzu kommt eine Einführung des Herausgebers/der Herausgeberin und eine Information zu den Autorinnen und Autoren.
Im Mittelpunkt des Bandes steht der Zusammenhang von Diaspora und Konstruktionen (jugendlicher) Maskulinität. Eine deutliche Akzentuierung wird dabei auf muslimische Kontexte gelegt. Diese werden vielfach als spezifisch ´fremd´ und – insbes. seit dem „11. September“ – als gefährlich konnotiert.
Der erste Teil setzt sich mit Konstruktionen migrantisch-islamischer Maskulinitäten in der deutschen Öffentlichkeit auseinander. Migrantisch und/oder islamisch konnotierte Maskulinität wird hier als „stigmatisisierte Männlichkeit“ (Ewing) bezeichnet und führt – auf Basis der Analyse zweier Sachbücher im Resultat und im Zusammenhang mit globalisierten Diskursen zur ´Lokalisierung des globalen Patriarchen´ (Scheibelhofer). Abgeschlossen wird das erste Kapitel mit einem – wie verschiedene andere Beiträge auch – hervorragenden Beitrag über das deutsch-türkische Kino seit den neunziger Jahren (Mennel).
Im zweiten Teil richtet sich der Blick auf individuelle Erfahrungen und Verarbeitungsformen und auf die Vielfalt der Maskulinitätskonstruktionen in der Phase der Adoleszenz und bei jungen Erwachsenen. Huxel untersucht am Beispiel des fünfzehnjährigen Mehmet die Inszenierung einer gewaltbereiten Männlichkeit; Haeger beschreibt einen Mann türkischer Herkunft, dessen Maskulinität stark feminine Anteile hat. Konträr dazu (was die gewählte Perspektive angeht) liesst sich Tuncs wissenschaftlicher Artikel mit Überlegungen zur Übertragbarkeit des Forschungsansatzes der Intersektionalität von der Männer- auf die Väterforschung, illustriert am Beispiel des unzufriedenen Hakan, Vater von Drillingen. Buyurucu stellt – an Beispiel seiner sehr persönlichen Erfahrungen – Rituale dar, durch die das Kind zum Mann (gemacht) wird. Diese ehrliche und sehr private Beschreibung ging mir sehr nahe. Mit dem Aufsatz von Tietze zum Themenkomplext Muslimische Religiösität – Maskulinität – Migration/Diaspora im deutsch-französischen Kulturvergleich wird dieses Kapitel abgeschlossen.
Der „Gewalt-Diskurs“ ist das Thema im dritten Teil. Zwei Psychologen – Uslucan und Baobaid – beschäftigen sich in quantitativ-empirischen Studien mit dieser Thematik. Uslucan arbeitet Faktoren heraus, die Gewaltbereitschaft und Gewaltresilienz fördern. Zu seinen Ergebnissen gehört u.a., dass Söhne viktimisierter Mütter eine besonders hohe Gewaltbereitschaft aufweisen. Der in Kanada arbeitende yemenitische Baobaid befragte in seiner empirischen Studie Männern nach ihren Vorstellungen von ihrer Rolle in der Familie und nach ihrem Verhältnis zur Gewalt.
Das Abschluss-Kapitel besteht aus zwei Beiträgen, von denen der erste (Aslan) aus sozialpädagogischer Perspektive für eine offene Jugendarbeit plädiert und der zweite (Tan) die Vielfalt und Multidimensionalität der Maskulinitäts-Konstruktionen, aber auch die Konkurrenz, die zwischen diesen Positionen besteht, betont.
Diskussion
Der Band fragt nach der Bedeutung von Migration und Religion für die Transformationen und (Re-)Konstruktionen männlicher Identitäten. Eine wichtige Frage, die unser gegenwärtiges und zukünftiges Zusammenleben berührt. Der Band ist schön anzuschauen (Kompliment an die Designer) und hat einen vernünftigen Preis. Was mir fehlt, ist der Versuch einer Zusammenfassung der auf der Tagung gewonnen Erkenntnisse. Aber dies ist der Herausgeberin/dem Herausgeber nicht sonderlich anzulasten. Sie haben schon genug Mut und Weite mit der Organisation der Tagung und in der Zusammenstellung der Beiträge bewiesen.
Fazit
Ein ´junger´ und frischer Band, der durch eine Vielfalt von gleichberechtigt nebeneinander bestehenden Ansätzen/Perspektiven gekennzeichnet ist. Eine multidisziplinäre, internationale Mischung aus Beiträgen, die sich – jeder auf seine Weise – mit einem Themenbereich beschäftigen, der in der bisherigen deutschsprachigen Forschungslandschaft eine Lücke darstellte.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 11.04.2009 zu:
Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hrsg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. transcript
(Bielefeld) 2008.
ISBN 978-3-89942-992-3.
Reihe: Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung - 3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7414.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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