Michael Brünger, Wolfgang Weissbeck (Hrsg.): Psychisch kranke Straftäter im Jugendalter
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 09.06.2009

Michael Brünger, Wolfgang Weissbeck (Hrsg.): Psychisch kranke Straftäter im Jugendalter. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2008. 196 Seiten. ISBN 978-3-939069-46-1. D: 32,95 EUR, A: 41,15 EUR, CH: 69,50 sFr.
Thema
Straftäter im Jugendalter sind zunehmend in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und in die Fachdiskussion der Disziplinen geraten, die sich mit Straffälligkeit und abweichendem Verhalten im Jugendalter beschäftigen. Die Behandlungskonzepte für diese Tätergruppe sind im Bereich der Justiz bzw. in der Jugendhilfe angesiedelt: Maßregelvollzug einerseits und (geschlossene) Jugendhilfemaßnahmen stehen sich gegenüber. Der Band greift in interdisziplinärer Sichtweise die unterschiedlichen Herangehensweisen und Konzepte auf und stellt neue Daten zur bundesweiten Entwicklung der Gruppe der psychisch kranken straffälligen Jugendlichen vor. Die Herausgeber möchten so die Diskussion zwischen den unterschiedlichen Versorgungssystemen bündeln und bereichern, um eine möglichst umfassende Versorgung psychisch kranker Straftäter im Jugendalter zu erreichen.
Autoren/Hintergrund
Michael Brünger und Wolfgang Weissbeck arbeiten als Chefarzt und Stationsarzt im Pfalzinstitut – Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Klingenmünster. Dort richteten die Herausgeber bisher drei interdisziplinäre Symposien zum Themenkreis psychisch kranker Straftäter im Jugendalter aus. Der vorliegende Sammelband fasst die Beiträge des dritten Symposiums zusammen: neben grundlegenden Sichtweisen aus Forensischer Psychiatrie, Justiz und Kriminologie werden modellhafte Behandlungskonzeptionen aus den Bereichen Maßregelvollzug, Jugendstrafvollzug und aus dem Jugendhilfebereich vorgestellt.
Aufbau und Inhalt
Der Tagungsband ist in vier Abschnitte unterteilt.
- Bedingungen psychischer Erkrankung, zentrale Diagnosegruppen und Besonderheiten bei jugendlichen Straftäterinnen führen im ersten Abschnitt grundlegend in die Thematik „Psychisch kranke Straftäter im Jugendalter“ ein.
- Unter der Überschrift „rechtliche Aspekte“ werden im zweiten Abschnitt juristische Grundlagen, Aufgabenstellung und Probleme im Jugendmaßregelvollzug diskutiert.
- Abschnitt drei fokussiert die Behandlungsmöglichkeiten in der Jugendstrafanstalt und in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen.
- Als Praxiskapitel gewährt der abschließende vierte Abschnitt einen Einblick in die Behandlungsrealität des Jugendmaßregelvollzugs anhand einer sozialtherapeutischen Abteilung des Pfalzinstituts Klingenmünster.
Zu 1.
In ihrem Einführungskapitel weisen Brünger und Weissbeck darauf hin, welche Verantwortung in der Behandlung jugendlicher, psychisch kranker Straftäter liegt. Es geht um die Verhinderung langer Krankheits- und Kriminalitätskarrieren, was eine genaue Klassifikation der zugrunde liegenden Störungsbilder erfordert. Seitens der Jugendpsychiatrie bedarf es einer umfassenden Diagnostik und der Benennung der sich daraus ergebenden Folgen, was dem Helfernetz geschildert werden muss, um geeignete Hilfsmaßnahmen einführen zu können. Nur für einen kleinen Kreis betroffener Jugendlicher kommt dabei der Maßregelvollzug, also die strafrechtliche Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt in Frage, für den die Herausgeber eine strikte Trennung vom Erwachsenenmaßregelvollzug und eine Anbindung an Kinder- und Jugendpsychiatrische Einrichtungen fordern. Den besonderen Schwerpunkt der Behandlung legen Brünger und Weissbeck auf den Bereich der Prävention: psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, bleiben in der täglichen Praxis jedoch häufig unerkannt. Die individuellen Belastungsfaktoren stehen jedoch häufig im Zusammenhang mit einem höheren Risiko für Delinquenz. Im Sinn einer Primär- und Sekundärprävention fordern die Autoren, frühzeitig mit Präventionsprogrammen zu beginnen, um z. B. Entwicklungsverläufe zu verhindern, welche durch eine frühzeitige Belastung durch ein hyperkinetisches Syndrom, eine im Jugendalter auftretende Entwicklungsverzögerung und spätere Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung gekennzeichnet sein können.
Martin Schmidt unterzieht derartige Verlaufskurven einer kritischen Betrachtung und fragt danach, ob sich hinter der im ICD 10 aufgeführten „Störung des Sozialverhaltens“ tatsächlich eine einheitliche Störungsklasse i. S. eines Krankheitsbilds verbirgt, bzw. ob es sich doch nicht „nur“ um Verhaltensauffälligkeiten handelt. Schmidt referiert zunächst die eingängigen Klassifikationskataloge und stellt diesen Befunde einer Langzeituntersuchung zur lebenslangen Persistenz früh beginnenden dissozialen Verhaltens gegenüber, welche darauf hinweisen, dass eine Frühbehandlung für eine bestimmte Gruppe von Kindern und Jugendlichen unabdingbar ist. Für die Praxis der Jugendhilfe formuliert Schmidt den Auftrag, dass, „sobald der Gedanke an Hilfen zur Erziehung wegen oppositionell-aggressiver, dissozialer oder delinquenter Symptome aufkommt, die Möglichkeit einer seelischen Behinderung mitgedacht werden muss“ (27 f). Genau in diesen feinen Differenzierung, der Autor spricht hier vom „Mitdenken“ klassifikatorischer Muster, nicht von einer psychiatrischen Breitenbehandlung, zeigt sich der Wert der einzelnen Buchbeiträge und des gesamten Tagungsbandes: die Besorgnis erregende Zunahme psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen und die damit verbundene Zunahme delinquenter Problematiken wird hier nicht zum Anlass einer Psychiatrisierung der Jugendhilfe genommen, sondern Maßnahmen zu einer verbesserten Diagnostik und einer kritischen Evaluation der Qualität von Jugendhilfemaßnahmen vorgeschlagen.
Ähnlich argumentieren Häßler et al. in ihrem Beitrag „‘Schwachsinn‘ – ein Unterbringungsgrund im Maßregelvollzug?“, der sich kritisch mit der Einweisungspraxis jugendlicher Intelligenz geminderter Straftäter in den psychiatrischen Maßregelvollzug auseinandersetzt. Gestützt auf aktuelle Forschungsergebnisse wird auch hier beschrieben, dass nur für eine kleine Gruppe von Betroffenen die einschneidende Maßnahme einer Unterbringung zur Besserung und Sicherung notwendig ist. Der Großteil der in dieser Diagnosegruppe zusammen gefassten Patienten könnte alternativ in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder, wie Beispiele aus England zeigen, ambulant behandelt und betreut werden.
Besorgniserregend ist die Zunahme von Straftaten, die von weiblichen Jugendlichen und Heranwachsenden begangen werden. Auf Grundlage einer Gutachtensanalyse von 44 Gerichtsgutachten beschreiben Günter und Miller den für jugendliche psychisch kranke Täterinnen in besonderem Maße typischen Tathintergrund: das Opfer ist oft Ersatz für eine enge Bezugsperson (Motiv: z. B. Rache), das Tatgeschehen ist nur verstehbar auf dem Hintergrund der Beziehungsdynamik (z. B. zum Tatopfer) und die Beziehungsdynamik hat wesentlichen Einfluss auf die Tat selbst. Für Diagnostik und Behandlung psychisch kranker jugendlicher Straftäterinnen ergeben sich für die Autoren wesentliche Folgen: zur Einschätzung des Tathintergrunds und der sich darin ausdrückenden emotionalen und Beziehungsaspekte in der gutachterlichen Arbeit, ist eine entsprechende Diagnostik, die z. B. soziale Beziehungsmuster mit erhebt notwendig. Günter und Miller plädieren für eine umfassende Behandlung, die neben der Bearbeitung der zugrunde liegenden psychiatrischen Problematik, auf eine sozialarbeiterische Reflexion der inneren Konflikte, der Stabilisierung des äußeren Umfelds, der Arbeit an den Beziehungen und Verhaltensänderung abzielen sollte.
Zu 2.
Im zweiten Abschnitt werden in fünf Beiträgen rechtliche Aspekte im Zusammenhang mit der Anordnung des Maßregelvollzugs bei Jugendlichen behandelt.
Jungmann beschreibt in seinem Beitrag die Rahmenbedingungen des Maßregelvollzugs für Jugendliche, welche i.d.R. in geschlossenen Abteilungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt werden. Dieser Arbeitsbereich ist in der Öffentlichkeit, aber auch in Fachkreisen wenig bekannt, da im Jahresdurchschnitt meist weniger als 50 Patienten im Rahmen einer solchen Unterbringung bundesweit behandelt werden. Im Gegensatz zur zivilrechtlichen Unterbringung (welche mit Fallzahlen von bundesweit jährlich mehr als 2700 Patienten wesentlich häufiger angeordnet wird) liegen bei den jugendlichen Straftätern im Maßregelvollzug derart erhebliche psychische Störungen vor, dass deren Schuldfähigkeit im Zusammenhang mit delinquentem Verhalten als erheblich beeinträchtigt oder aufgehoben eingeschätzt werden muss. Reichling führt dazu in ihrem Beitrag aus, dass diese Krankheitsymptomatik unabhängig von einer eventuell bestehenden Reifeverzögerung unterscheiden muss, unabhängig davon feststellbar sein muss. Aus dieser Konstellation ergibt sich dann auch die Notwendigkeit einer „Unterbringung zur Besserung und Sicherung“: Die Gesellschaft soll vor weiteren Straftaten dieser Jugendlichen geschützt werden. Innerhalb eines spezifischen Sicherungsrahmens soll dann die Behandlung stattfinden, um das Ausmaß der Erkrankungen und ihrer Folgen zu minimieren. Aus diesem Spannungsverhältnis von Hilfe- und Kontrollaspekten ergibt sich für die Kinder- und Jugendpsychiatrie eine besondere Belastungssituation: Pädagogisch-therapeutische Hilfen im geschlossenen Zwangsrahmen können ungleich schwerer vermittelt werden, eine ständige Reflexion der Betreuer und Therapeuten ist unabdingbar, um einschätzen zu können, ob die Jugendlichen diese besondere Hilfeform überhaupt noch als Angebot wahrnehmen können und ob die gewählten Maßnahmen noch darin bestehen, den nachhaltig beeinträchtigten Prozess der sozialen Identitätsstörung bei den Jugendlichen sinnvoll zu begegnen, oder ob reine Sicherungsmaßnahmen einer derartigen Aufgabenstellung entgegenstehen.
Seit 1970 haben sich die Unterbringungszahlen bzgl. psychisch kranker Straftäter im Jugendalter kaum verändert, allerdings ist für die Gruppe der Heranwachsenden ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Ostendorf weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass für diese Gruppe weiterhin von einer gemeinsamen Unterbringung sehr junger Patienten mit erwachsenen Straftätern auszugehen ist und mahnt in seinem Beitrag eine stärkere Orientierung an jugendspezifischen Bedürfnissen an; bspw. sollten im Rahmen des Jugendmaßregelvollzugs konsequentere berufliche Ausbildungsmöglichkeiten angeboten werden, welche bislang fast vollständig fehlen.
Zu 3.
Der dritte Abschnitt befasst sich mit den konkreten Behandlungsmöglichkeiten für jugendliche Straftäter in der Jugendstrafanstalt, in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen und im Rahmen des Maßregelvollzugs.
Michael Bock plädiert im Einführungskapitel zum dritten Abschnitt erneut für eine kriminologische Interventionsplanung bei jungen Straftätern. Sein kriminalsoziologischer Ansatz fußt auf der Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA). Die in einer individuellen Straftat zu Tage getretenen Verhaltensweisen und Hintergründe werden mit Idealtypen (bezogen auf Unterschiede im Sozialverhalten und in den Lebensverläufen) verglichen. Durch den kriminologischen Vergleich des Verhaltens und der Biografie eines konkreten jugendlichen Straftäters können sich Hinweise auf die Interventionsplanung in der Praxis ableiten lassen. Bock beschreibt die positiven Wirkfaktoren der MIVEA-Methode, der den Jugendlichen als „Experte seiner Biografie“ bereits in der Diagnosephase in die Interventionen einbezieht. Erste Praxisberichte für diese Diagnose- und (begrenzt) auch Behandlungsmethode liegen vor und werden vom Autor zitiert, umfassende Evaluationsstudien stehen derzeit allerdings noch aus.
Therapiemöglichkeiten in der Jugendstrafanstalt (Claudia Kröper) und die Behandlung im Rahmen einer geschlossenen Unterbringung in der Jugendhilfe (Christian Schrapper, Wolfgang Friesen) werden in drei weiteren Kapiteln dargestellt. Psychotherapeutische Einzel- und Gruppenangebote, Anti-Gewalt-Training, Suchtberatung, Entspannungsgruppen, Kreativangebote und Arbeitstherapie, sowie erlebnispädagogische Angebote sind das Repertoire dieser Arbeitsfelder, welche in Ansätzen beschrieben werden. Allerdings bemängeln die Autoren strukturelle Probleme und Schwierigkeiten, die sich aus dem Selbstverständnis des Jugendhilfebereichs ergeben, was die komplizierte Arbeit im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle weiter erschwert.
Zu 4.
Der vierte Abschnitt ermöglicht einen umfassenden Einblick in die Praxis des Jugendmaßregelvollzugs und der dort angewandten Methoden und Techniken. Weissbeck und Brünger stellen hier die Konzeption der Sozialtherapeutischen Abteilung im Pfalzinstitut Klingenmünster als beispielhaftes Organisationsmodell des Maßregelvollzugs und der Sozialtherapeutischen Behandlung von psychisch kranken, straffälligen Jugendlichen vor. Die Konzeption fußt auf der Integration von Maßregelvollzug und Sozialtherapeutischer Anstalt (als Behandlungsvollzug neben dem Strafvollzug) im Rahmen einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik. Inhaltliche Schwerpunkte sind neben den gängigen psychiatrischen Behandlungsmethoden kriminaltherapeutische Ansätze (Delikt- und Täterarbeit), Schul- und Berufsausbildung und eine umfassende ambulante Nachsorge. Aus ihren bisherigen Erfahrungen ziehen die Autoren den Schluss, dass Jugendmaßregelvollzug und Sozialtherapie im Jugendalter zusammen gehören und entsprechend organisatorisch zusammen gefasst werden sollen. Damit wird die gemeinsame Unterbringung und Behandlung psychisch kranker und gesunder straffälliger Jugendlicher propagiert. Beide Gruppen benötigen nach Auffassung der Autoren „ähnlich geartete strukturelle und bauliche Voraussetzungen“ (169), im Vordergrund stehe bei beiden Gruppen „dass der Grad der Dissozialität im Wesentlichen die zukünftige Straffreiheit determiniert“ (ebd.). Der Behandlungsansatz liegt für beide Gruppen in einem stark strukturierten Rahmen und ebenfalls strukturierten pädagogisch-therapeutischen Interventionen. Der Tagungsband wird mit Überlegungen zur psychoanalytischen Therapieprozessgestaltung im Jugendmaßregelvollzug (mit Schwerpunkt auf Aggression, Affektstruktur und Entwicklung im Jugendalter) und mit einer weiteren Konzeptvorstellung (des Jugendmaßregelvollzugs in Rostock) abgeschlossen.
Zielgruppe des Buches
Der Tagungsband richtet sich zunächst an Pädagogen und Therapeuten, die mit der Behandlung psychisch kranker Straftäter im Jugendalter beschäftigt sind. Das Phänomen Jugenddelinquenz beschäftigt darüber hinaus Mitarbeiter in allen Bereichen der Jugendhilfe, Straffälligenhilfe und Psychiatrie, welche durch die Lektüre des gelungenen Werks einen Überblick zu spezifischen Täter- und Patientengruppen erhalten.
Fazit
Der Band zeigt in überzeugender Weise auf, dass es sich beim Thema Straffälligkeit psychisch kranker Jugendlicher nicht um ein Sonderthema handelt, das nur für eine Handvoll von Spezialisten von Relevanz ist. Vielmehr ist von der Problematik der gesamte Bereich der stationären und ambulanten Jugendhilfe, die Jugendstraffälligenhilfe, sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie betroffen. In einer konsequent interdisziplinär angelegten Behandlungsauffassung werden psychiatrische, psychologische, sozialarbeiterische und sozialtherapeutische Behandlungsansätze vorgestellt und in ihrem Zusammenwirken beschrieben. Dadurch wird auch dem Fachfremden ein umfassender und dabei verständlicher Einblick in die Thematik gegeben. Da Praxisbeispiele aus Begutachtung und Behandlung einen breiten Raum der Publikation einnehmen, sind die enthaltenen Kurzfallbeispiele eine wichtige Orientierungshilfe. Ein großer Nutzen für die gesamte Fachwelt in den betroffenen Arbeitsbereichen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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