Jürgen Malyssek, Klaus Störch: Wohnungslose Menschen
Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 03.10.2009
Jürgen Malyssek, Klaus Störch: Wohnungslose Menschen. Ausgrenzung und Stigmatisierung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2008. 160 Seiten. ISBN 978-3-7841-1867-3. 22,00 EUR. CH: 39,90 sFr.
Autoren
Jürgen Malyssek und Klaus Störch haben langjährige berufliche Erfahrungen in der Wohnungslosenhilfe gesammelt. Der mittlerweile pensionierte Jürgen Malyssek hat als Sozialpädagoge und Referent für Wohnungslosenhilfe und Schuldnerberatung bei der Caritas Limburg an der Lahn gearbeitet. Klaus Störch leitet als Pädagoge eine Wohnungsloseneinrichtung der Caritas in Hattersheim am Main.
Thema
In neun Kapiteln behandeln die Autoren zahlreiche Fragen rund um das Thema Wohnungslosigkeit. Dabei lassen sie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis der Wohnungslosenarbeit zu Wort kommen. Ihr Buch wollen Jürgen Malyssek und Klaus Störch nicht als wissenschaftliches Werk, sondern als „Arbeitsbuch“ verstanden wissen, „das dem Leser die Möglichkeit eröffnen soll, sich dem gesellschaftlichen Phänomen der Wohnungslosigkeit zu nähern“ (18). Die Autoren nutzen dazu Interviews, Reportagen, Textanalysen, Portraits und Essays.
Aufbau und Inhalt
Im einleitenden Kapitel „Am Rande der Gesellschaft“ führen die Autoren zunächst mit Zahlen, Fakten und Definitionen in die vielschichtige Thematik ein, bevor sie die Lebenssituation wohnungsloser Menschen veranschaulichen. Sie legen Wert darauf, dass es den Wohnungslosen nicht gibt (wenn es ihn denn je gegeben hat) und sich „die Klientel der Wohnungslosen in den 1980er und 1990er Jahren stärker ausdifferenziert [hat]“ (28).
Im Kapitel „Der moderne Mensch und der Markt“ beschreiben Jürgen Malyssek und Klaus Störch die Prozesse der Überforderung und Entwurzelung des modernen Menschen in der „Risikogesellschaft“. Im Zeitalter von Globalisierung und Hartz IV sei das Risiko des sozialen Abstiegs und die Angst vor einem Leben in Armut und Ausgrenzung für große Teile der Gesellschaft rasant gestiegen. Obdachlosigkeit sei „eine der brutalsten Formen von Armut und Ausgrenzung“ (52).
Im Kapitel „Die Verachtung des sozial Benachteiligten“ wird anhand von Beispielen in Wiesbaden, Koblenz und Berlin die Vertreibungspolitik in deutschen Städten gegenüber unerwünschten sozialen Randgruppen wie Obdachlosen, Trinkern und Bettlern dargestellt. Seit den 1990er Jahren versuchen Politiker, Geschäftsleute und Hauseigentümer immer wieder Wohnungslose und andere als Störfaktoren wahrgenommene Randgruppen aus dem Stadtbild zu verdrängen. Öffentliche Reaktionen aus der Bevölkerung seien oftmals erschreckend, weil sie „diese Menschengruppen der Gescheiterten und Ausgestoßenen [als] eine Gefahr für das soziale Umfeld, vor allem für Kinder, darstellen“ (79). Obdachlose müssen als Sündenböcke für städtische Missstände herhalten. Daher gehen sie anschließend der Frage nach, welches Bild von Wohnungslosen, Armen und Außenseitern in den Medien produziert wird – in Doku-Soaps wie „Ausreißer auf der Straße“, Sozialfahnder-Serien oder BILD-Kampagnen gegen Hartz IV-BezieherInnen. Die Autoren beobachten einen „medialen Missbrauch von Opfern und Außenseitern“ (94) und einen „Hass auf Wohnungslose“, der aus der „eigenen Angst vor dem sozialen Abstieg“ resultiere (103). Dabei finden sie auch Zwischentöne in seriösen Reportagen und bieten Raum für gegenteilige Einschätzungen wie etwa am Beispiel des Online-Spiels pennergame.de.
Im Kapitel „Betteln – Bettelei – Bettler“ werfen sie einen recht ungewöhnlichen Blick auf den Bettler. Sie beschreiben Bettler als gescheiterte männliche Existenzen, als „mehrfach Gefallene, Ausgegrenzte und auf der Flucht befindliche ‚Herren‘.“ „Betteln ist eine Arbeit, ein möglicherweise letzter Versuch der Selbsthilfe in einer unerträglichen Situation“ (114), eine Reaktion auf den Zwangscharakter der Sozialhilfe, Betteln sei auch das Ringen um Anerkennung. Sie kritisieren, dass „prekäre männliche Lebenswelten, die inzwischen, auch auf dem Hintergrund der Massenarbeitslosigkeit und sozialen Unsicherheiten, mehr und mehr zunehmen, […] bislang nur randständig thematisiert [sind]“ (123).
Anhand der Analyse von klassischen Tragödien und Texten von Maxim Gorki, Samuel Beckett, Franz Kafka und anderen zeitgenössischen Autoren fragen Jürgen Malyssek und Klaus Störch danach, ob der „Wohnungslose als tragische Figur“ anzusehen sei. Denn der Wohnungslose sei nicht nur ein von Almosen oder Mitleid abhängiger Mensch. Er zeigt uns etwas auf, das wir auf den ersten Blick nicht wahrhaben wollen oder nicht erkennen können. „Der Wohnungslose ist ein Spiegel der Schattenseiten unseres Lebens und ein starkes Symbol für das Ringen um Würde und Solidarität in einer Gegenwart, in der scheinbar Erfolg, Leistung und Glück als wahre Werte gelten.“ (144)
Im anschließenden Kapitel beschreiben sieWohnungslose als wiederkehrendes Thema in Literatur, Film, Musik und Kultur, die „in einer großen Bandbreite zwischen Kitsch, Klischee, Sentimentalität, Pointierung, Emotionalisierung, Dramatisierung“ (179) dargestellt werden. Sie kritisieren die „Sentimentalität und […] Ausbeutung der fremden nahen Lebenswelt von Pennern, Stadtstreichern oder Wohnungslosen“ als kurzfristige „oberflächliche Empörungs- und Betroffenheitsrituale von Bürger/innen, die nicht wirklich ein Zeichen des Interesses für die Armen bedeuten und doch eher der Beruhigung des Gewissens und der Angst und Bedrohung vor einem sozialen Abstieg dienen“ (180).
Im Kapitel „Projekte und Veranstaltungen“ stellen die Autoren innovative und emanzipatorische Projekte wie Theater, Chöre oder Straßenzeitungen der Wohnungslosenhilfe in Berlin, Frankfurt, Limburg, Hattersheim und Luxemburg vor, „die den Betroffenen dabei unterstützen aus der passiven abhängigen Rolle in die des beteiligten und wertgeschätzten Mitmenschen zu gelangen“ (193).
In ihrem abschließenden Kapitel fragen sie nach den Herausforderungen an die Soziale Arbeit und ihren Perspektiven in Zeiten der Ökonomisierung und der Renaissance des Zwangs und stellen zusammenfassend ihre acht „Thesen zur Wohnungslosenhilfe“ vor (221). Sie verstehen die Wohnungslosenhilfe als Seismograph sozialer Schieflagen und als Basishilfe, die ihren Ausgangspunkt im Umgang mit Armut und Ausgrenzung hat. Sie ist ständig gefordert sich zu erneuern und ihr Aufgabenspektrum zu erweitern, weil sich ihr Klientel verändert und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sich ändern (215).
Den umfangreichen Anhang bilden eine nützliche Sammlung von Fach- und Sachliteratur und Belletristik zum Thema Wohnungslosigkeit sowie ein Glossar und „Lexikon der Berbersprache“.
Fazit
Das Buch ist auch eine persönliche Reflexion des Phänomens der Wohnungslosigkeit, mit dem die Autoren im Laufe ihres Arbeitslebens konfrontiert waren. Als roter Faden zieht sich der ungewöhnliche Blick durch das Buch, den die beiden auf Wohnungslosigkeit werfen. Der Wohnungslose ist nicht nur ein armer, von Sozialhilfe, Almosen oder Mitleid abhängiger Mensch. Er zeigt dem Einzelnen und gerade auch Menschen im Hilfesystem etwas auf, er fordert eine Reaktion heraus: sei die eigene Angst vor dem sozialen Abstieg oder sich der eigenen Motive des Helfens oder Nicht-Helfens klarzuwerden – als Passant, der von einem Bettler um etwas Kleingeld gebeten wird, oder als professioneller Sozialarbeiter in der Wohnungslosenarbeit.
Das Buch liefert zahlreiche Erkenntnisse und Inspirationen vor allem für Menschen der Wohnungslosenarbeit. Es ist ein großes und ergiebiges Sammelbecken von Ideen, Anknüpfungspunkten und Erfahrungen für die eigene Arbeit. Der langjährigen intensiven Auseinandersetzung von Jürgen Malyssek und Klaus Störch mit dem Thema ist diese tiefgreifende und erhellende Analyse zu verdanken.
Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website
Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.
Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 03.10.2009 zu:
Jürgen Malyssek, Klaus Störch: Wohnungslose Menschen. Ausgrenzung und Stigmatisierung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2008.
ISBN 978-3-7841-1867-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7436.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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