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Georg Theunissen: Empowerment und Inklusion behinderter Menschen

Rezensiert von Prof. Dr. Erik Weber, 05.10.2009

Cover Georg Theunissen: Empowerment und Inklusion behinderter Menschen ISBN 978-3-7841-1871-0

Georg Theunissen: Empowerment und Inklusion behinderter Menschen. Eine Einführung in die Heilpädagogik und soziale Arbeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2009. 2., aktualisierte Auflage. 477 Seiten. ISBN 978-3-7841-1871-0. 32,00 EUR. CH: 54,90 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7841-2116-1 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Die Begriffe Empowerment und aktuell auch der Begriff der Inklusion nehmen in den Schriften von Georg Theunissen einen breiten Rahmen ein, sie sind Bezugspunkte und Richtgrößen seiner Lehre und Forschung. So ist es begrüßenswert, dass die zweite Auflage des ehedem „Handbuch Empowerment und Heilpädagogik“ betitelten, noch mit Wolfgang Plaute in gemeinsamer Herausgeberschaft erschienenen Werkes aus dem Jahre 2003, nun unter Federführung Georg Theunissens vorliegt. Theunissen hat sich bei dem Verfassen dieser Auflage Unterstützung bei verschiedenen anderen Autorinnen und Autoren, die er in der Einführung benennt, geholt.

Aufbau …

Das Buch ist in sieben Kapitel eingeteilt, von denen, nach zwei einleitenden Kapiteln, jedes einen bestimmten Lebensbereich beleuchtet:

  • Kapitel 1 widmet sich zunächst dem Begriff des Empowerments als ‚Wegweiser für die Heilpädagogik und Behindertenhilfe‘ (S. 27),
  • Kapitel 2 gibt einen Überblick über aktuelle Diskussionen der Wissenschafts- und Forschungsgebiete der Heilpädagogik,
  • Kapitel 3 widmet sich der ‚Arbeit mit Eltern und Familien‘,
  • Kapitel 4 dem Bereich ‚Schule und Unterricht‘,
  • Kapitel 5 dem Themenfeld ‚Teilhabe am Arbeitsleben‘,
  • Kapitel 6 dem Themenfeld ‚Bildung im Erwachsenenalter und Alter‘ und schließlich befasst sich
  • Kapitel 7 mit dem Bereich ‚Wohnen und Leben in der Gemeinde‘.

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein sehr hilfreiches Stichwortverzeichnis und Angaben zum Autor beschließen das Werk.

… und Inhalt

Wie der Titel des Buches verrät, zieht sich die Konzeption des Empowerments als Leitgedanke durch das gesamte Buch und die oben genannten Bereiche werden unter diesem Aspekt beleuchtet.

Kapitel 1 leitet den Empowerment-Ansatz her, wobei die Vielzahl amerikanischer Literaturbezüge herausragt. Theunissen erweist sich hier als ausgewiesener Kenner dieser Literatur, skizziert wichtige Kernquellen und macht sie somit für die deutsche Diskussion zugänglich. Weitere, zentrale Begriffe und Konzeptionen der Heilpädagogik werden in diesem ersten Kapitel erörtert, so z.B. der Begriff der ‚Selbstbestimmung‘ (S. 40 ff.), der Begriff der ‚Assistenz‘ (S. 71 ff.) oder eine historische Skizze des ‚Independent Living Movement‘ (S. 98 ff.), des Self-Advocacy Movement sowie der People First Bewegung (S. 108ff.). Das Kapitel ist darüber hinaus als historische Skizze zur Heilpädagogik insgesamt angelegt.

Kapitel 2 bietet einen knappen Überblick über Entwicklungen in Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Heilpädagogik. Ein Schwerpunkt liegt hier bei der kritischen Theorie, der kritisch-konstruktiven Pädagogik (S. 144 1ff.) und mündet in Ausführungen zur Handlungs- und Praxisforschung (S. 157ff.).

Nachdem diese Grundlagen beschrieben sind, widmet sich der Autor den genannten Lebensbereichen bzw. Arbeitsfeldern in unterschiedlich intensiver Form: Das Kapitel 3 ‚Arbeit mit Eltern und Familien‘ kommt mit etwa 30 Seiten aus, wohingegen dem Thema ‚Schule und Unterricht‘ (Kapitel 4) wesentlich breiterer Raum gewährt wird (etwa 80 Seiten). Auch in diesem Kapitel spielen wieder Entwicklungen in den USA eine zentrale Rolle und es werden beispielsweise erkenntnisreiche Konsequenzen für einen Unterricht unter der Leitidee des Empowerment (S. 252) beschrieben, ohne sie allerdings in ein didaktisches Modell zu integrieren.

Das Kapitel 5 ‚Teilhabe am Arbeitsleben‘ ist wieder etwas kürzer gehalten (knapp 30 Seiten) und legt seine Schwerpunkte auf Konzepte des ‚supported employment‘.

Das Kapitel 6 befasst sich eingehend mit Bildungsfragen von Menschen mit Behinderungen im Erwachsenenalter und im Alter und gibt einige Beispiele aus der Praxis wieder.

In Kapitel 7 zum Thema des ‚Wohnens und Lebens in der Gemeinde‘ stehen Entwicklung und Perspektiven der Themen Deinstitutionalisierung (S. 374 f.), Community Care und Supported Living (S. 385 ff.) im Mittelpunkt. Dem Feld der ‚bürgerzentrierten Netzwerkarbeit‘ (S. 404) wird besonderes Augenmerk geschenkt und das Buch endet mit ‚Schlussbemerkungen zum Wohnen und Leben im Alter‘ (S. 415 ff.).

Diskussion

Das Buch von Georg Theunissen ist in seiner Fülle der angesprochenen und diskutierten Aspekte erst einmal ein sehr beeindruckendes Werk. Interessant ist die bereits in der Einleitung aufgegriffene Problematik, eine Personengruppe zu beschreiben, die traditionell als ‚Menschen mit geistiger Behinderung‘ bezeichnet wurde. Soweit es dem Rezensenten bekannt ist, ist Theunissen der erste ausgewiesene Autor des Feldes der Behindertenpädagogik, der in Folge der Kritik an dieser Bezeichnung, vor allem durch Vertreterinnen und Vertreter der People First Bewegung, auf den Begriff der ‚geistigen Behinderung‘ weitgehend verzichtet und stattdessen den Begriff ‚Menschen mit Lernschwierigkeiten‘ nutzt. Er ist sich auch dieser Problematik zwar bewusst (S. 11), geht hier aber einen eigenen Weg und es bleibt abzuwarten, ob sich diese Begriffsveränderung in der Literatur durchsetzen kann. Es muss in diesem Zusammenhang aber die Frage erlaubt sein, ob sich die Lebensrealität vieler Menschen, die traditionell als geistig behindert bezeichnet werden, tatsächlich dadurch auszeichnet, dass sie in erster Linie mit und gegen Lernschwierigkeiten zu kämpfen hätten. Dies mag für einige Personen, insbesondere für die bei People First Organisierten gelten. Ob es aber auch für Personen mit beispielsweise sehr hohem Hilfebedarf und/oder erheblich herausfordernden Verhaltensweise gilt, darf bezweifelt werden und diese Personengruppe ist, vorsichtig ausgedrückt, in Selbstvertretungsorganisationen bislang eher unterrepräsentiert. Kritisch angemerkt werden muss an dieser Stelle auch, dass die Nutzung der Bezeichnung ‚Menschen mit Lernschwierigkeiten‘ jenseits einer inhaltlichen Debatte im Text dazu führt, dass bisweilen umständlich anmutende Formulierungen wie etwa „…in Bezug auf Lernschwierigkeiten (geistige Behinderung) und Verhaltensauffälligkeiten…“ (S. 12) auftauchen und den Leser verwirren.

Ungeachtet dessen besticht das Buch aber durch eine konsequente Nutzung der Empowerment-Idee, die als Bereicherung heilpädagogischen Denkens und Handelns angesehen werden muss. Es ist dem Autor in hohem Maße positiv anzurechnen, dass er die breite US-amerikanische Literatur für den deutschen Diskurs zugänglich macht.

Warum der Begriff der ‚Inklusion‘ in den Buchtitel gelangt ist, dann aber in den Ausführungen selbst nur in der Einführung erörtert wird (S. 20), bleibt unklar. Eine kritische Rückfrage an den Autor bzw. an den Verlag sei hier erlaubt, denn es erschließt sich nicht, warum ein in der Fachwissenschaft noch nicht geschärfter und durchaus umstrittener Begriff wie der der ‚Inklusion‘ in einen Buchtitel gelangt, ohne ihn später genauso zentral zur Bezugsgröße zu machen, wie dies mit dem Begriff ‚Empowerment‘ geschieht. Wenn man sich hierdurch lediglich verspricht, die Auflage zu erhöhen, sollte dies überdacht werden. Zudem ist das Werk keine Einführung in Heilpädagogik und Soziale Arbeit im klassischen Sinn, sondern hat lediglich an ausgewiesenen Stellen (besonders Kapitel 1) den Charakter einer Einführung. Es entsteht hier und da der Eindruck, als wollte man möglichst viel in das Buch mit hineinnehmen, was aber dazu führt, dass einige Aspekte sehr knapp abgehandelt werden (beispielsweise die wissenschaftstheoretischen Ausführungen in Kapitel 2 oder das Kapitel 3 zur ‚Arbeit mit Eltern und Familien‘). Erfreulich ist der Schwerpunkt auf Bildung im Erwachsenenalter, vom Autor selbst als „Stiefkind der Heilpädagogik“ (S. 25) bezeichnet.

Fazit

Insgesamt überwiegt der überaus informative Wert des Buches, welches im Sinne eines Überblicks agiert, den Empowerment-Ansatz konstruktiv nutzt und den Leser und die Leserin in gut verständlicher Sprache erreicht. Eine eingehende Kritik des Empowerment-Ansatzes, im Fach durchaus in der Diskussion, wäre wünschenswerte Ergänzung einer möglichen dritten Auflage.

Rezension von
Prof. Dr. Erik Weber
Diplom-Heilpädagoge, Professur Inklusive Bildungsprozesse bei geistiger und mehrfacher Behinderung
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Es gibt 9 Rezensionen von Erik Weber.

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Zitiervorschlag
Erik Weber. Rezension vom 05.10.2009 zu: Georg Theunissen: Empowerment und Inklusion behinderter Menschen. Eine Einführung in die Heilpädagogik und soziale Arbeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2009. 2., aktualisierte Auflage. ISBN 978-3-7841-1871-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7438.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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