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Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode

Rezensiert von Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, 09.03.2009

Cover Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode ISBN 978-3-531-15897-6

Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2008. 2., überarbeitete Auflage. 134 Seiten. ISBN 978-3-531-15897-6. 12,90 EUR.
Reihe: Qualitative Sozialforschung - Band 16.

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Thema

In dem Buch von Arnd-Michael Nohl werden die beiden im Titel genannten Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung vorgestellt und kombiniert. Den Schwerpunkt bildet dabei die dokumentarische Methode, die Ralf Bohnsack „zu einem forschungspraktisch und methodologisch fundierten Auswertungsverfahren der qualitativen Sozialforschung entwickelt“ hat (S. 7). Sie hat in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern Anwendung gefunden, allerdings liegen bisher nur vereinzelte Versuche vor, Interviews dokumentarisch zu interpretieren (S. 14). Zudem gebe es keine umfassende methodologische Begründung für die Kombination beider Methoden (S. 8). Diese Lücke will der Autor mit diesem Buch schließen.

Autor

Der Autor, Arnd-Michael Nohl, ist seit 2006 Professor für Erziehungswissenschaft an der Helmut Schmidt Universität Hamburg. Nach seiner Promotion bei Ralf Bohnsack, dem maßgeblichen Entwickler der dokumentarischen Methode, war er Assistent bei Winfried Marotzki in Marburg und später Juniorprofessor für interkulturelle Bildung in Berlin (FU).

Anliegen

Der Tenor des Buches wird bereits durch die zweite Überschrift „Anleitungen für die Forschungspraxis“ klar und deutlich umrissen. Es soll den Leserinnen und Lesern „dazu dienlich sein, ihre eigenen empirischen Untersuchungen durchzuführen“ (S. 125). Weiterhin legt Nohl eine methodologische Begründung vor, „warum Interviews mit der dokumentarischen Methode ausgewertet werden können (und sollten)“ (S. 7).

Aufbau und Inhalt

Arnd-Michael Nohl gliedert das Buch in 7 Kapitel (plus Literaturverzeichnis und Anhang). Diese sind so strukturiert, dass die Leserinnen und Leser schrittweise an die methodologischen Hintergründe und die forschungspraktischen Arbeitsschritte herangeführt werden.

  1. In der Einleitung werden zunächst die Grundzüge der dokumentarischen Methode skizziert. Ausgehend von der Unterscheidung von „immanentem“ und „dokumentarischem“ Sinngehalt nach Karl Mannheim, skizziert Nohl beispielhaft die Arbeitsschritte zur empirischen Erfassbarkeit dieser Sinnebenen. Hier wird bereits deutlich, was das essentielle Charakteristikum der dokumentarischen Methode ist: eine von Beginn an konsequent vergleichende Forschungshaltung. Das wesentliche Ziel dieser komparativen Analyse ist die Typenbildung, was der Autor auf sehr anschauliche Weise verdeutlicht. In diesem Teil skizziert Nohl seine umfangreichen forschungspraktischen Erfahrungen mit der dokumentarischen Interpretation von Interviews. Abschließend gibt er einen Überblick über das Buch.
  2. In Kapitel 2 werden verschiedene Erhebungsverfahren für narrativ fundierte Interviews unterschieden und erläutert: Das leitfadengestützte Interview (nach Andreas Witzel bzw. Michael Meuser und Ulrike Nagel) und das biographische Interview (nach Fritz Schütze). Entscheidend ist Nohl in diesem Zusammenhang, dass Stegreiferzählungen genutzt werden. Gerade diese ermöglichten „nicht nur Meinungen, Einschätzungen, Alltagstheorien und Stellungnahmen der befragten Personen abzufragen, sondern Erzählungen zu deren persönlichen Erfahrungen hervorzulocken“ (S. 20). In dem deutlich umfangreicheren Abschnitt zum biographischen Interview wird deutlich, worin Nohl die besondere Bedeutung von Stegreiferzählungen sieht: Um „seine Erzählung komplettieren (in ihrer Gestalt schließen), kondensieren und detaillieren“ zu können, „verstrickt sich der Erzähler in den Rahmen seiner eigenen Erfahrungen und lässt damit in den Erzählungen einen tiefen Einblick in seine Erfahrungsaufschichtung zu“ (S. 29-30). In diesem Kapitel werden anhand von gelungenen Beispielen hilfreiche Hinweise für die Durchführung von Interviews und für die Unterscheidung von Textsorten innerhalb von Erzählabschnitten gegeben.
  3. Nach der Besprechung der Erhebungsverfahren behandelt Kapitel 3 die Narrationsstrukturanalyse und ihre Kritik.Hier wird also in die Auswertung von Interviews eingeführt, indem Auswertungsverfahren vorgestellt und kritisch diskutiert werden. Den Schwerpunkt bildet dabei die Narrationsstrukturanalyse. Nohl begründet in diesem Kapitel, worin (aus Sicht der dokumentarischen Methode) die Schwächen des von Fritz Schütze entwickelten Auswertungsverfahrens für narrative Interviews liegen. Bei der Abstraktion vom Einzelfall werde bei der Narrationsstrukturanalyse „vornehmlich auf die Intuition der Forschenden und ihre Vermutungen vertraut“ (S. 36). Dieser Vorgehensweise stellt der Autor die dezidiert vergleichende Forschungshaltung der dokumentarischen Methode gegenüber, welche im folgenden Kapitel dargestellt wird.
  4. In Kapitel 4 werden alle Arbeitsschritte der dokumentarischen Analyse von Interviews nachgezeichnet und begründet. Von der formulierenden und der reflektierenden Interpretation über die komparative Analyse bis zur Typenbildung und deren Generalisierbarkeit führt Nohl die Leserinnen und Leser stufenweise in die Methodologie der dokumentarischen Interpretation von Interviews ein. Eine Stärke in den Darbietungen des Autors ist die klare und exemplarische Entwicklung von Orientierungsrahmen, Typen und Typiken anhand von Erzählsequenzen. Insgesamt sechs Abbildungen visualisieren den Text auf gelungene Weise. Ebenso wird die Generalisierungsfähigkeit von Typen verständlich begründet: „Ohne dass gezeigt werden könnte, wie eine Typik A durch eine weitere Typik X überlagert wird, ohne dass also die Grenzen einer jeweiligen Typik spezifiziert werden könnten, kann auch nicht generalisiert werden“ (S. 64) Mit dieser Spezifizierung der Grenzen einer Typik im Vergleich zu einer anderen beschäftigt sich dieses Kapitel umfassend. Auf Besonderheiten bei der Struktur des Samples wird – auch in Hinblick auf die verschiedenen Erhebungsverfahren – eingegangen. In den beiden nun folgenden Kapiteln werden praktische Beispiele erläutert.
  5. Die Praxis der dokumentarischen Interpretation von leitfadengestützten Interviews wird in Kapitel 5 aufzeigt. Hierbei lässt sich der Autor bei der Interpretation gewissermaßen über die Schultern schauen. Anhand eines Forschungsbeispiels zur Untersuchung von Existenzgründungen werden alle Schritte bis zur sinngenetischen Typenbildung dargelegt. Hier werden eine Reihe von forschungspraktischen Hinweisen gegeben, bspw. wie man relevante Interviewabschnitte identifiziert und diese nach der Transkription in eigenen Worten zusammenfasst, wie die Textsortentrennung vollzogen wird und daraus – im fortwährenden Vergleich – sinngenetische Typen gebildet werden. Welche sozialen Zusammenhänge mit den individuellen Orientierungsrahmen in Verbildung stehen, kann erst mit der soziogenetischen Typenbildung erfasst werden, welche im folgenden Kapitel konkret entworfen wird.
  6. Nach der Interpretation leitfadengestützter Interviews wird in Kapitel 6 die Praxis der dokumentarischen Interpretation von biographischen Interviews dargestellt.Auch hier lässt Nohl die Leserinnen und Leser an seiner empirischen Praxis teilhaben. Die hier beschriebene Studie untersucht spontane Bildungsprozesse im Lebensverlauf. In diesem Kapitel wird insbesondere auf die soziogenetische Typenbildung hingearbeitet. Eine differenzierte Erläuterung der Generalisierungsfähigkeit der empirisch herausgearbeiteten sozialen Typiken verdeutlicht nochmals den Gesamtzusammenhang.
  7. Im Fazit und Ausblick fasst Nohl die Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode kurz zusammen und formuliert drei Desiderate, denen sich die Forschung mit und zu der dokumentarischen Interpretation von Interviews annehmen müsse. Mit dem Literaturverzeichnis und den Richtlinien der Transkription im Anhang endet das Buch.

Diskussion und Bewertung

Der stringente Aufbau des Buches ermöglicht es, die methodologischen und forschungspraktischen Feinheiten der dokumentarischen Interpretation nachzuvollziehen und bei jedem Schritt den Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten. Sowohl für die Datenerhebung, die Auswertung und Interpretation als auch für die Darstellung von Ergebnissen und Zwischenschritten kann Nohl hilfreiche Hinweise und Anregungen bieten. Insbesondere durch zahlreiche Interviewauszüge und Interpretationsbeispiele sowie durch hilfreiche Abbildungen und Tabellen vermag es das Buch, anschaulich und tiefgehend zu informieren.

Dabei werden Bezüge und Differenzen zur Grounded Theory und zur Narrationsstrukturanalyse verdeutlicht und die besonderen Vorzüge der von Beginn an vergleichend angelegten dokumentarischen Interpretation herausgestellt. Insbesondere der schwierige Aspekt der Generalisierbarkeit der empirischen Ergebnisse wird mit gebotener Sorgfalt und auf nachvollziehbare Weise – wissenssoziologisch und forschungspraktisch – entfaltet.

Ein Modifikation der dokumentarischen Methode nimmt Nohl vor: Während Ralf Bohnsack die reflektierende Interpretation mit der thematischen Strukturierung beginnt, wird bei Nohl zunächst die Textsortentrennung im Sinne der Narrationsstrukturanalyse vorgenommen. Auch wenn der Autor diese Modifikation begründet, mag es den einen oder die andere Leser/in – der/die u. U. die Methode aus anderen Zusammenhängen kennt – irritieren. Auf diese Besonderheit sei hiermit hingewiesen.

Fazit

Mit diesem Buch will Arnd-Michael Nohl den Leserinnen und Lesern die Auswertung narrativer Interviews mithilfe der dokumentarischen Methode näher bringen. Gleichzeitig gelingt es ihm, in die Grundprinzipien rekonstruktiv-qualitativen Denkens einzuführen. Durch die mitunter redundante Führung durch alle Passagen der Forschungsmethode ermöglicht das Buch auch unerfahrenen Leserinnen und Lesern, in das komplexe Verfahren der dokumentarischen Methode einzusteigen. Daher kann der überschaubare Text (135 Seiten) sowohl als Ausgangspunkt für eine eigene empirische Untersuchung (im Rahmen einer Abschluss- oder Qualifikationsarbeit) dienen als auch als (anspruchsvolles) Lehrbuch für Studierende und Autodidakten.

Rezension von
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani

Es gibt 4 Rezensionen von Aladin El-Mafaalani.

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Zitiervorschlag
Aladin El-Mafaalani. Rezension vom 09.03.2009 zu: Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2008. 2., überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-531-15897-6. Reihe: Qualitative Sozialforschung - Band 16. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7450.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.


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