Marc Fischer, Ute Antonia Lammel: Jugend und Sucht
Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 28.09.2009
Marc Fischer, Ute Antonia Lammel: Jugend und Sucht. Analysen und Auswege.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2009.
166 Seiten.
ISBN 978-3-938094-72-3.
D: 16,90 EUR,
A: 17,40 EUR,
CH: 31,00 sFr.
Reihe: Schriften der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen - Band 10.
Thema und Entstehungshintergrund
Drogenkonsumierende Jugendliche finden sich in einer komplizierten Situation wieder – einerseits reklamiert sowohl die Psychiatrie als auch die Suchtkrankenhilfe eine Zuständigkeit für dieses Klientel, andererseits sind beide Institutionen kaum auf die besonderen Herausforderungen eingestellt, die diese Jugendlichen in ihrer keineswegs einfachen, aber entscheidenden Lebensphase stellen und auf die mit spezifischer Hilfe und Unterstützung zu antworten ist. Die wenigen Einrichtungen, die sich den besonderen Bedürfnissen jugendlicher Drogenkonsumenten mit praktischen Angeboten zuwenden, berichten zudem von einer deutlichen Veränderung der jugendlichen Klienten, die nicht allein durch ihren problematischen Drogenkonsum an den Erfordernissen des Erwachsenwerdens zu scheitern drohen. Praktiker beobachten zugleich eine Zunahme störenden Sozialverhaltens (Aggressionen, Demotivation), größer werdende entwicklungsbedingte Defizite sowie vermehrt zusätzlich auftretende psychiatrische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Diese Trends unterstreichen, dass die bisher vorgehaltenen Angebote dringlich überdacht und neu strukturiert werden müssen. Vor diesem Hintergrund sticht das Buch mit seinem vielversprechenden Titel „Patientenprofile und Empfehlungen für die pädagogisch-therapeutische Behandlung“ besonders denjenigen ins Auge, die um veränderte konzeptionelle Ansätze und die strukturelle Neugestaltung von Hilfeangeboten für ein anspruchsvoller werdendes Klientel ringen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch macht dem Leser Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsprojektes zugänglich, dessen empirische Grundlage die Klienten der Station „Szenewechsel“ der Rheinischen Kliniken Viersen liefern. Über eine retrospektive Querschnitts-Untersuchung wurden von 81 jugendlichen Drogenkonsumenten über einen Zeitraum von 3,5 Jahren empirische Befunde erhoben, wobei sich diese aus sozioökonomischen und demografischen Daten, Kennzahlen zur Konsumbiografie, aus über entsprechende Tests erhobene Persönlichkeitsmerkmalen und Aussagen zum Freizeitverhalten der Klienten zusammensetzen.
Dem Buch ist eine ausführliche Darlegung von Diagnosekriterien für Drogenmissbrauch und -abhängigkeit, von Ansätzen der Resilienzforschung, von Erklärungstheorien für Sucht und Ergebnisse der allgemeinen Bevölkerungsepidemiologie zum Substanzkonsum vorangestellt. Diese Zusammenstellung von Theorien und Erklärungsmustern, die als theoretische Hintergründe der Forschung präsentiert werden, eignen sich gut, um sich schnell einen Überblick über die gegenwärtig aktuellen Diskussionen zu verschaffen; einen Bezug zu den im nächsten Abschnitt präsentierten empirischen Material stellen die Autoren jedoch nicht her.
Ein nächstes großes Kapitel ist der Darstellung der empirischen Befunde gewidmet. Wer allerdings hier den angekündigten Einblick in Patientenprofile erwartet, wird enttäuscht. Auch derjenige, der sich mit gutem Willen durch die vielen präsentierten Daten quält, findet immer nur statistische Durchschnittswerte, die sich auf die untersuchte Gesamtpopulation beziehen und gegebenenfalls auf Signifikanz getestet werden. Damit gehen diese Aussagen kaum über Zahlenschlachten hinaus, die viele Einrichtungen in ihren Jahresberichten präsentieren. Umsonst sucht der Leser nach tatsächlichen Patientenprofilen, die mit typischen Merkmalen dargestellt werden; Leerstellen auch in Bezug auf Hinweise, welche Veränderungen im Untersuchungszeitraum von 3,5 Jahren eingetreten sind und wieweit für diese einen Bezug zu erhobenen Personentypen/Patientenprofilen und zu absolvierten Therapieangeboten aufgezeigt werden kann. Stattdessen schwallt dem Leser eine Flut von Daten entgegen, die für die untersuchte Institution interessant ist, dem ratsuchenden Leser jedoch kaum weiterhilft.
Das sich anschließende Kapitel referiert Therapieansätze für drogenabhängige Jugendliche. Allerdings beschränken die Autoren ihren allgemein gehaltenen Überblick im Wesentlichen auf psychotherapeutische Erklärungsmodelle und lassen damit Debatten und praktische Ansätze, die im Jugendhilfesystem geführt werden, ohne Kommentar aus. Diese Verengung der Sicht ist bedauerlich, weil damit die auch im Suchthilfebereich mühsam etablierten, aber sehr erfolgsversprechenden Bestrebungen, zu einer stärker teilhabebezogenen Therapiestruktur zu kommen, die auch nicht mehr primär Abstinenz, sondern die Befähigung zu selbstkontrolliertem Konsum anzielen, unverdient übersehen werden.
Im letzten Kapitel werden schließlich Konsequenzen für die pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit jungen Suchtpatienten dargestellt, nach denen der Leser so dringlich fragt. Diese lenken den Blick auf interessante Aspekte, rütteln jedoch nicht an den gängigen Therapiemustern, die, wie die Autoren eingangs selbst darlegen, zu der zur Diskussion stehenden jugendlichen Patientengruppe nur bedingt passen. Da ganz grundsätzliche Fragen, vor denen die praktische Arbeit steht, nicht aufgegriffen wurden, kann dieses Buch darauf leider auch keine Antworten geben.
Fazit
Der gewählte Titel des Buches ist ein Augenschmaus für alle, die sich mit den gegenwärtigen Fragen und Themen der praktischen Arbeit herumschlagen. Leider verspricht er aber mehr, als die Autoren einhalten und lässt denjenigen, der sich durch Themen mit Überblickscharakter und empirische Zahlenlandschaften gearbeitet hat, unverdient mit einer zu geringen Ausbeute an neuen Einsichten und Erkenntnissen zurück. Durch das relativ umfangreiche Referieren allgemeiner Aussagen zu substanzbezogenen Störungen und Abhängigkeit sowie zu psychotherapeutischen Therapieansätzen wird sich dieses Buch jedoch in der Ausbildung von Studenten schnell platzieren, wenn es denn als Studienbuch entdeckt wird – auch dafür ist der Titel allerdings eher irreführend.
Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
Mailformular
Es gibt 23 Rezensionen von Gundula Barsch.
Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 28.09.2009 zu:
Marc Fischer, Ute Antonia Lammel: Jugend und Sucht. Analysen und Auswege. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2009.
ISBN 978-3-938094-72-3.
Reihe: Schriften der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen - Band 10.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7462.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.