Rainer Greshoff, Georg Kneer u.a. (Hrsg.): Verstehen und erklären
Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 21.09.2009

Rainer Greshoff, Georg Kneer, Wolfgang Ludwig Schneider (Hrsg.): Verstehen und erklären. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Wilhelm Fink Verlag (München) 2008. 524 Seiten. ISBN 978-3-7705-4630-5. 49,90 EUR. CH: 67,00 sFr.
Thema
Verstehen und Erklären sind die beiden überlieferten wissenschaftlichen methodischen Zugänge zum menschlichen Zusammenleben. Bis heute hält die Debatte darüber an, wie sie einzeln und ihr Verhältnis zueinander genau aufzufassen sind und welche Argumente für die eine oder die andere Perspektive sprechen. Diese Kontroverse ist für die sozial- und kulturwissenschaftliche Selbstverständigung zentral. Schon seit über einem Jahrhundert liegen Beiträge zu diesem Streit vor, nun aber werden sie ein erstes Mal (beinahe) repräsentativ in einem Band versammelt und diskutiert.
Herausgeber
Rainer Greshoff ist Sozialwissenschaftler an der Universität Oldenburg; Georg Kneer ist Professor für wissenschaftliche Grundlagen an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd; Wolfgang Ludwig Schneider ist Professor für Soziologie an der Universität Osnabrück.
Aufbau und Inhalt
Die drei Herausgeber verweisen in ihrer kurzen Einleitung auf Karl-Otto Apel, der in seinem Buch «Die Erklären-Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht» drei Phasen dieser Diskussion unterscheidet: erstens die Phase der Begründung einer methodologischen Eigenständigkeit der verstehenden Geistes- bzw. Kulturwissenschaften im Unterschied zu den erklärenden Naturwissenschaften; zweitens die Auseinandersetzung über die neopositivistische These einer einheitswissenschaftlichen Logk der Erklärung; und drittens die Debatte über den Versuch einer sprachanalytischen Erneuerung des methodologischen Autonomieanspruchs der verstehenden Geistes- und Sozialwissenschaften in der Nachfolge Wittgensteins. Letztere mündet in den Unterschied von Gründen des Handelns und Ursachen natürlicher Prozesse. Der vorliegende Band sieht indes von den philosophischen Diskussionen weitgehend ab und beleuchtet sozial- und kulturwissenschaftliche Argumentationen. «Bezogen auf die Gegenstände des Verstehens bzw. Erklärens wird u.a. kontrovers diskutiert, ob es primär um das Verstehen bzw. Erklären von subjektiven Absichten und Motiven oder von objektiven Sinnstrukturen, von individuell seligierten Handlungen oder sozial konstituierten Kommunikationen, von mikrosozialen Interaktionsprozessen und/oder makrosozialen Strukturen geht» (S. 9). Differenzen treten entsprechend auch bei den Konzepten des Verstehens bzw. Erklärens auf. «So ist etwa umstritten, ob der Gegenstand des Verstehens qualitativ bzw. quantitativ zu erfassen ist; ebenso, ob das Erklären auf die typologische Klassifikation von Daten oder die Aufdeckung von Kausalzusammenhängen (in Form von Gesetz- oder Regelmässigkeiten) zielen soll und inwiefern dafür deduktiv-nomologische, induktiv-statistische, strukturalistische, sozial mechanistische oder funktionale Erklärungsargumente zu formulieren sind» (S. 9). Und die Lage wird noch unübersichtlicher, wenn man auch die unterschiedlichen sozial-, wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Positionen in die Betrachtung einbezieht.
Die Herausgeber räumen selber ein, dass sie nicht alle geplanten Beiträge erhalten haben. Setzt der Reigen mit Tönnies ein, so hätte auch gut und gerne mit Marx und Engels begonnen werden können. Man vermisst auch Beiträge zur Kritischen Theorie der ersten Generation, zu Norbert Elias oder, mit Blick über die Grenzen, etwa zu Boudon, Touraine oder Alexander – um nur einige zu nennen. Und es sei nicht verschwiegen: Befremdlich wirkt, dass sämtliche 21 Artikel nur (männliche) Theoretiker besprechen – als hätte es nie eine feministische Soziologie oder eine feministische Vernunft- und Methodenkritik gegeben. (Und nicht weniger befremdlich wirkt übrigens, dass mit einer Ausnahme sämtliche 21 Artikel von Männern verfasst worden sind – als gäbe es keine … ).
Den (meisten) Beiträgen liegt um der guten Vergleichbarkeit willen ein ähnlicher Aufbau zugrunde: methodische Konzeption (Stellenwert methodischer Reflexionen, Anknüpfung an Traditionen, Definition und Verhältnisbestimmung von Verstehen und Erklären, gegenstandstheoretische Annahmen); Umsetzung der methodischen Konzeption (Anwendung in materialen Arbeiten mit Beispielen); Diskussion und Weiterentwicklung der methodischen Konzeption (Einschätzung der Position im wissenschaftlichen Diskurs).
Zielgruppen
Die Buchbeiträge, die meistens in einem soziologischen Jargon verfasst sind, richten sich vor allem an eine soziologische und kulturwissenschaftliche Leserschaft.
Fazit
Abgesehen von der Kritik, die eine oder andere Position wäre auch noch berücksichtigt worden, stellt die Publikation schon bei ihrem Erscheinen ein Standardwerk dar, das man von A bis Z durcharbeiten, aber auch sehr gezielt gebrauchen kann. Die Lektüren erfordern grosse Aufmerksamkeit und zuweilen Durchhaltewillen, aber sie werden reichlich belohnt.
Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 21.09.2009 zu:
Rainer Greshoff, Georg Kneer, Wolfgang Ludwig Schneider (Hrsg.): Verstehen und erklären. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Wilhelm Fink Verlag
(München) 2008.
ISBN 978-3-7705-4630-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7469.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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