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Dieter Ferring (Hrsg.): Soziokulturelle Konstruktion des Alters

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 16.04.2009

Cover Dieter  Ferring (Hrsg.): Soziokulturelle Konstruktion des Alters ISBN 978-3-8260-3903-4

Dieter Ferring (Hrsg.): Soziokulturelle Konstruktion des Alters. Transdisziplinäre Perspektiven. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2008. 330 Seiten. ISBN 978-3-8260-3903-4. 29,80 EUR. CH: 52,20 sFr.

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Thema

Das Thema Altern und Altsein ist seit vielen Jahren Gegenstand zahlreicher Publikationen, wobei die soziokulturelle Betrachtung weniger im Fokus der Auseinandersetzungen stand. Die vier Herausgeber dieses Werkes sind: Dieter Ferring, Professor an der Universität Luxembourg, Tom Michels, Diplom- Psychologe an gleicher Universität, Hartmut Meyer-Wolters, Professor und Dr. Miriam Haller, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln. Weitere 17 Autoren haben einen Beitrag zu dieser transdisziplinären Herangehensweise geleistet. Der vorliegende Sammelband soll die Spezifik unterschiedlicher diskursiver Räume berücksichtigen und dadurch die regionale Determinierung der Alter(s)konstruktionen verdeutlichen (S. 11). Er ist Ergebnis der transdisziplinären Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Experten und Laien aus verschiedenen Praxisfeldern und zwölf Universitäten, die in der „Kulturwissenschaftlichen Forschungsgruppe Demographischer Wandel“ zusammen arbeiten. Eine Eingrenzung der Zielgruppe der Leser wurde nicht getroffen.

Aufbau

Das Buch ist neben einem Vorwort in sieben verschiedene Themenkomplexe mit zwei bis zu maximal sieben Kapiteln unterschiedlicher Länge untergliedert.

1. „Alter gestalten durch ‚Eigen-Sinn‘“

Im ersten Themenabschnitt „Alter gestalten durch ‚Eigen-Sinn‘“ wird in einem ersten Kapitel von Hanne Schweitzer über „Wie gestalten wir Alter? – Wer gestaltet Alter?“ diskutiert. In einer sehr alltagsnahen Sprache wird polemisiert, dass das Problem mit den Alten in der Verlogenheit der deutschen Politik begründet läge – „Die Alten werden zum Sündenbock gemacht, damit man die Demontage des Sozialstaats … und damit man die Aufhebung des Bestandsschutzes besser begründen kann.“

Das zweite Kapitel in ähnlichem Sprachduktus zur Thematik „Reden ist Silber, Zuhören ist Gold“, das von Eckard Krauss geschrieben wurde, resümiert aus differenzierten Aspekten: „Fragt die Alten, hört ihnen zu, setzt ihre Anregungen um und landet in die Goldgrube des wechselseitigen Verstehens“ (S. 34).

2. „Alter gestalten durch ‚Alten-Arbeit‘“

Im zweiten Thema „Alter gestalten durch ‚Alten-Arbeit‘“ betrachtet Eva- Maria Heinen „Bürgerschaftliches Engagement, Bewusstseinsbildung und praktische Hilfe eines Medienhauses“.

Von der Wärmestube zum SeniorenNetzwerk – ein persönlicher Rückblick auf die offene Altenarbeit von 1970 bis 2005“ gibt Cornelia Harrer in ihrem Beitrag. Adressaten der offenen Altenarbeit seien alte Menschen, die nicht pflegebedürftig oder stationär untergebracht sind. Die Autorin beschreibt aus eigener Erfahrung, wie sich die Generation der Alten in den letzten Jahrzehnten verändert habe und damit auch die Angebote, die für diese Zielgruppe vorgehalten werden.

Sandra Mortsiefer widmet sich der Thematik „Altern in Betrieben. Betriebsinitiative Demographischer Wandel“. Sie stellt einige Beispiele vor, wie es heute möglich sei, flexibel auf die zukünftigen Veränderungen Älterer in den Betrieben einzugehen. So gäbe es Bemühungen, Tätigkeitsbereiche in Belastungsgrade zu unterteilen, um danach gezielt Arbeitskräfte einzusetzen.

3. „Alter gestalten durch die ‚öffentliche Hand‘“

Der dritte Themenkomplex ist mit dem Titel „Alter gestalten durch die ‚öffentliche Hand‘“ überschrieben.

In einem ersten Kapitel von Mill Majerus „Politik der Lebensalter“ wird aus dem Blickwinkel des kleinen, aber wohlhabenden Landes Luxemburg das genannte Thema diskutiert. Leitlinien für eine Politik der Lebensalter beschließen den interessanten Beitrag.

Maria Kröger beschreibt in einem weiteren Kapitel die „Stadtentwicklung unter den Bedingungen des demografischen Wandels“. Letzterer würde tendenziell zu Alterung und Vereinzelung, zu Schrumpfung und Heterogenisierung führen /S. 75). Leider werden zu den aufschlussreichen Anforderungen, die an die Stadtentwicklungsplanung der nächsten Jahre zu stellen sind, keine Lösungsbeispiele angeboten.

Neue Anforderungen an die kommunale Seniorenpolitik“ formuliert Marlis Bredehorst, Dezernentin für Senioren in der Stadt Köln, in ihrem Kapitel. Sie verdeutlicht, dass kommunale Politik in den 70er und 80er Jahren im Wesentlichen Förderpolitik für Begegnungszentren und andere Seniorenprojekte gewesen sei, wohingegen es heute um die Schaffung von Rahmenbedingungen für ein „gelungenes Alter“ gehe.

Michael Walter thematisiert in seinem Beitrag „Alte Menschen in Pflegebeziehungen – Probleme und wie man ihnen begegnen kann“. Er verweist auf das starke Gefälle in Pflegebeziehungen infolge von Verantwortung und Macht des Pflegenden und der Abhängigkeit davon durch den Pflegeempfänger, wodurch Gefahren entstehen können (Ausnutzung, alte Abhängigkeiten etc.). Ein Artikel, den es lohnt, zu lesen.

4. „Alter gestalten durch Kunst und Literatur“

Der vierte Themenschwerpunkt „Alter gestalten durch Kunst und Literatur“ wird mit einem Beitrag von Miriam Haller „Altern erzählen. ‚Rites de passage‘ als narrative Muster im zeitgenössischen Roman“ eingeleitet. So hätte sich in den USA eine „Literary Gerontology“ etabliert, wohingegen in Deutschland literarische Altersbilder kaum von klassischen Gerontologen wahrgenommen werden würden (S. 96). Literarische Figuren würden zu Funktionsträgern und Repräsentanten von Altersbildern. Sehr eindrücklich, tiefgehend und wissenschaftlich abstrahierend, beschreibt die Autorin anhand dreier zeitgenössischer Romane, dass es in den westlichen Ländern zwar keine zeremoniellen Riten des Übergangs zu einen Eintritt in eine neue Lebensphase gäbe, aber nichts desto trotz würden literarische Texte und Erzählungen ihre Wirkungen entfalten.

Wa(h)re Kunst kennt kein Alter! Kunstanthropologische Blicke auf den Umgang mit Lebens_Zeit in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts“ – so der Titel der Ausführungen von Ursula Pietsch-Lindt. Die Autorin illustriert wie das Alter in der Kunst in den historischen Epochen in der Malerei differenzierte Darstellung und Betrachtung findet. An den Selbstporträts dreier Künstler soll gezeigt werden, wie die autobiographische Annäherung an Alter und Tod im künstlerischen Prozess gestaltet und reflektiert wird. Die Diskussion über Alters- und Jugendwerke sowie die Verdeutlichung der Abbauprozesse durch den künstlerischen Ausdruck sind weitere Gegenstände eines sehr gelungenen und inspirierenden Beitrages.

Ein weiteres Thema „Alter gestalten durch Generationsbeziehungen“ mit einem ersten Beitrag von Jörg Tremmel soll die Frage beantworten „Was ist eine Generation“? So einfach scheint diese Frage nicht beantwortbar zu sein, denn es gibt inflationäre Unterscheidungen dieses Begriffs. Tremmel geht deshalb von einer kriteriengeleiteten Definition aus und unterscheidet zwischen familialen und gesellschaftlichen Generationen und chronologischer Generation und versucht die Generationengerechtigkeit zu klären.

Tom Michels fährt fort mit einem Beitrag über „Solidarität und Generationengerechtigkeit als Konstrukte in der Beschreibung intergenerationeller Beziehungen“. Hier wird versucht, die Begrifflichkeiten der intergenerationeller Solidarität und der Generationengerechtigkeit voneinander zu unterscheiden und zwar durch differenzierte Ebenen nach der ökologischen Theorie Bronfenbrenners.

Nichts zu versprechen: Autorität und Alter. Notizen zur vergeblichen Rettung des Generationenkonflikts …“ ist ein weiteres Kapitel, das von Roland Reichenbach verfasst wurde. Sein Resümee klingt sehr schlüssig: „Es scheint mir recht eindeutig zu sein … Je älter die Alten werden, desto weniger sind sie Führer, Herr oder Richter, desto weniger sind sie … Autorität… Bleibt also noch der Vater übrig. Doch je weniger Väter bzw. Mütter es gibt, desto schwächer wird insgesamt das affektive Band zwischen jung und alt … (S. 197).

5. „Wissenschaf(f)t Alter – Alter gestalten durch Wissenschaft“

Der bunte Reigen der soziokulturellen Konstruktion des Alters wird mit einem neuen Thema „Wissenschaf(f)t Alter – Alter gestalten durch Wissenschaft“ mit einem Beitrag von Hartmut Meyer-Wolters zu „Wechselwirkungen von Forschung und Alter(n)skultur. Methodologische Überlegungen“ fortgesetzt. Die Ausführungen sind methodische Explikationen, die den Bezug zum Thema leider in weiten Teilen vermissen lassen.

Weitere Ausführungen sind von Frank Schulz-Nieswandt zu „Die Alter(n)sberichterstattung der Bundesregierung. Diskurs der Altersbilder und implizite Anthropologie“. Er schlussfolgert, was in seinen Darlegungen allerdings nicht ganz glaubhaft erscheint, in den Altenberichten fände man relevante empirische Befunde, die wertvolle Elemente einer philosophischen Anthropologie und Ethik der Sozialpolitik einer alternden Gesellschaft seien (S. 228).

Mit „Leiblichkeit und Verantwortung – phänomenologische Analysen zur Alternserfahrung und zur Ethik des Alterns“ ist der Beitrag von Malte Brinkmann überschrieben. Es ist eine theoretisch anspruchsvolle, außerordentlich anregende Explikation, die bisherige Überlegungen auf die Spur des Anderen führt (S. 249), um die leibbezogene Reflexion verdeutlichen zu können.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit „Von ‚Disengagement‘ zu ‚Successful Ageing‘: Modellvorstellungen über das (gute) Altern“ vom Herausgeber Dieter Ferring. Er analysiert vorwiegend psychogerontologische Theoriemodelle, die die individuelle Bewältigung der mit dem Alter einhergehenden Veränderungen thematisieren. Dieses und das voran gegangene Kapitel lohnen sich besonders zu lesen, weil sie aus einer veränderten, eher ungewohnten Perspektive das Thema beleuchten.

Ines M. Breinbauer ist die Autorin des Beitrages „Bildung als Antwort …?“. Es werden hier wahrhaftig viele und sicher wichtige Fragen gestellt, beantwortet werden können sie aber kaum.

Es schließt sich ein weiteres Kapitel von Breinbauer an zu „Wider die advokatorische Haltung gegenüber dem Alter“. Auch hier wird weitgehend polemisiert, der Sinn dafür bleibt zuweilen verborgen.

Ein letzter Beitrag von Kirsten Aner setzt sich mit dem Thema auseinander „Junge Alte als Hoffnungsträger zivilgesellschaftlichen Engagements“. Sie endet mit der Aussicht, dass verschlechterte Partizipationsmöglichkeiten im Erwerbsleben, die Anhebung zur vollen Altersrente und die Zunahme sozialer Ungleichheit im Alter dazu führen könnten, dass der Zusammenhang zwischen Bildung und Engagement zunehmend in Frage gestellt sein würde.

Fazit

Die vorliegende Publikation ist ein Gewinn für all jene, die Anregungen zum Neu- und Querdenken suchen. Allerdings gilt diese Einschätzung nicht für alle sieben Themenkomplexe, denn die ersten beiden Artikel lassen theoretische Tiefe und Reflexion weitgehend vermissen. Der Themenschwerpunkt „Alter gestalten durch Kunst und Literatur“ ist außerordentlich anregend und sollte Anlass geben, diesen spezifischen Zugang für die gerontologische Forschung stärker als bisher zu nutzen. Auch im letzten Thema „Wechselwirkungen von Forschung und Alter(n)skultur“ finden sich interessante Aufsätze, die vermögen, die theoretische Herangehensweise der Gerontologie zu befruchten. Zu bemängeln ist, dass es nur bei wenigen Kapiteln eine Zusammenfassung gibt, kein Glossar angefügt wurde und auch sonst mit Mitteln des Layouts sparsam umgegangen wurde. Die theoretische Tiefe der Beiträge, die Sprache sowie die Verständlichkeit der Fachausdrücke ist so differenziert, dass man meinen könnte, die Ausführungen gehörten nicht zusammen in eine Publikation.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische Sozialforschung und Gerontologie
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Es gibt 191 Rezensionen von Gisela Thiele.

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Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 16.04.2009 zu: Dieter Ferring (Hrsg.): Soziokulturelle Konstruktion des Alters. Transdisziplinäre Perspektiven. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2008. ISBN 978-3-8260-3903-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7471.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.


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