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Jörg Utschakowski, Gyöngyver Sielaff et al. (Hrsg.): Vom Erfahrenen zum Experten

Rezensiert von Prof. Dr. Marianne Bosshard, 30.10.2009

Cover Jörg Utschakowski, Gyöngyver Sielaff et al. (Hrsg.): Vom Erfahrenen zum Experten ISBN 978-3-88414-470-1

Jörg Utschakowski, Gyöngyver Sielaff, Thomas Bock (Hrsg.): Vom Erfahrenen zum Experten. Wie Peers die Psychiatrie verändern. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2009. 260 Seiten. ISBN 978-3-88414-470-1. 24,95 EUR. CH: 44,90 sFr.
Reihe: Fachbuch.

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Thema

In den vergangenen Jahrzehnten ist eine Fülle von neuen Begrifflichkeiten im Gesundheitswesen und in der Psychiatrie im Speziellen aufgetaucht, die tiefgreifende Veränderungen im Denken und Selbstverständnis von Betroffenen und Professionellen beschreiben, wie z.B. Salutogenese, Subjekt-, Bedürfnis-, Ressourcenorientierung, Trialog, Nutzerbeteiligung und Nutzerkontrolle, Empowerment, Resilienz, Recovery, Entstigmatisierung, Selbsthilfe von Betroffenen und Angehörigen, Peer Support… Dem Krankheits-, Symptom und Defizit orientierten Denken, das dem professionellen Experten die Definitions-, Entscheidungs- und Behandlungsmacht zusichert und den Leidenden zum passiven Objekt macht, wird etwas entgegen gestellt. „Vom Erfahrenen zum Experten“ gibt Einblick in eine konsequente Weiterentwicklung dieser Gegenkraft: Psychiatrie Erfahrene werden zu professionellen Experten aus Erfahrung. „EX – IN“, Experienced Involvement, ist der Name für diese Kraft.

Entstehungshintergrund

2005 wurde ein EU – Projekt von Betroffenen – Organisationen, Ausbildungseinrichtungen und Sozialen Diensten aus England, Norwegen, Schweden, den Niederlanden und Slowenien auf den Weg gebracht. In Deutschland beteiligten sich die Universitätsklinik Hamburg – Eppendorf und der Fortbildungsträger F.O.K.U.S in Bremen. Ziel dieses für zwei Jahre ausgelegten Projektes war die Entwicklung eines Curriculums zur Ausbildung von Psychiatrie – Erfahrenen zu Experten, die dazu in der Lage sind, ihre eigenen Erfahrungen im Umgang mit Krankheit und Behinderung und ihre Fähigkeit, mit ihren Einschränkungen aktiv umzugehen, für die Arbeit mit Betroffenen oder Angehörigen oder im Rahmen von Ausbildungs-, Aufklärungs- oder Entstigmatisierungsprojekten zu nutzen. Es ist ein Curriculum für 250 Ausbildungsstunden und Praktika entstanden, bei dem die eigenen Erfahrungen, ihre Reflektion und Strukturierung zum Ausgangspunkt für das Verstehen der Anderen wird. Hinzu kommt das Erlernen von professionellen Methoden der Beratung, Unterstützung und Fortbildung.

Herausgeber und Autoren

Die drei Herausgeber sind nicht nur als Initiatoren, Teilnehmer und Pädagogen im EX-IN-EU-Projekt ausgewiesen sondern als Experten, die ihre Professionalität schon seit vielen Jahren in den Dienst von Betroffenen und ihren Angehörigen gestellt haben. Utschakowski hat als Leiter von F.O.K.U.S in Bremen systematisch Betroffene in die Ausbildung von Professionellen mit einbezogen, Sielaff hat das mit Psychiatrie – Erfahrenen arbeitende Entstigmatisierungs – Projekt „Irre menschlich Hamburg e.V.“ mit begründet und Bock hat mit der Entwicklung des ersten trialogischen Psychose – Seminars in Hamburg die deutsche Psychiatrie – Landschaft grundlegend verändert. So ist es fast nicht nötig zu erwähnen, dass die 21 Autoren aus Deutschland, England, den Niederlanden und Österreich sowohl Experten aus Erfahrung als auch durch Ausbildung sind oder Vertreter von Angehörigen. Auch ein Leiter eines Dienstes, der die Frage der bezahlten Einstellung diskutiert, ist dabei.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Teil stellen Berufs–Experten Philosophie, Geschichte, Begründung und Vorraussetzungen für Peer-Arbeit in der Psychiatrie dar. Das breite Spektrum von Einsatzmöglichkeiten wird sichtbar aber auch die unvermeidlichen Konflikte und Schwierigkeiten , die auftreten, wenn Experten aus Erfahrung mit Berufsexperten zusammen arbeiten müssen oder, wenn Träger auf die Idee kommen, die „Neuen“ als billige Arbeitskräfte zu bevorzugen.

Ein zweiter Teil gibt einen lebendigen und bewegenden Einblick in die Ausbildung und ihre Bedeutung für die Teilnehmer – sowohl für die Dozentin als auch für die Auszubildenden. Es wird deutlich , wie wichtig die Ausbildung und der erreichte Status für die Betroffenen sind: Sie ermöglichen die Verarbeitung eigener Erfahrungen, Weiter – Entwicklung, Zuwachs von Selbstsicherheit und Zufriedenheit, neue Kontakte, Sinnfindung und, last but not least, die Verbesserung der ökonomischen Situation. Ein psychosozialer Dienst strebt für Peers eine Beschäftigungsquote von 3 – 5 % an und sieht langfristig darin ein unverzichtbares Qualitätsmerkmal.

Ein drittes Kapitel gibt Einblick in Erfahrungen von Einrichtungen, die bereits mit Peers arbeiten, wie z.B. die Berliner „Krisenpension“ oder der Verein „Offene Herberge“ in Stuttgart .

Und in einem letzten Kapitel werden Projekte in England, den Niederlanden und Österreich vorgestellt. Hier reicht das Spektrum von einem seit 10 Jahren von Nutzern geleiteten Tageszentrum in den Niederlanden bis hin zu einem von Nutzern und Profis geführten Krisenhaus in England.

Hinzu kommen ein detailliertes Literatur- und Autorenverzeichnis mit Kontaktadressen.

Zielgruppen

Das Buch gibt sowohl Psychiatrie – Erfahrenen Einblick in ganz besondere Hilfe – und Ausbildungsmöglichkeiten als auch Psychiatrisch Tätigen und Trägern von Diensten Informationen und Anregungen für eine Erweiterung und Verbesserung ihres Angebotes. Zweifellos könnte dieses Buch auch Mitarbeitern in Kliniken und Ämtern ganz neue Impulse geben.

Fazit

Das Buch führt umfassend in ein aktuelles Thema ein. Es beschreibt einen weiteren Meilenstein auf dem Weg durch die Psychiatrie – Landschaft in Richtung Menschenwürde, Selbstfindung, Selbstbestimmung, Integration und gesellschaftlicher Anerkennung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dieser Weg ist angesichts der vielen Sackgassen, die sich in dieser Landschaft auftun, weiter führend, ohne dass der Blick von ideologischen Mauern eingeschränkt wird. Auch Hindernisse werden beschrieben – aber der Weg ist begehbar und beglückend.

Rezension von
Prof. Dr. Marianne Bosshard
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Es gibt 7 Rezensionen von Marianne Bosshard.

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Zitiervorschlag
Marianne Bosshard. Rezension vom 30.10.2009 zu: Jörg Utschakowski, Gyöngyver Sielaff, Thomas Bock (Hrsg.): Vom Erfahrenen zum Experten. Wie Peers die Psychiatrie verändern. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2009. ISBN 978-3-88414-470-1. Reihe: Fachbuch. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7500.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.


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