Uta Kraft, Denis Köhler et al.: Risiko- und Schutzfaktoren bei jungen Straftätern
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 06.07.2009
Uta Kraft, Denis Köhler, Günter Hinrichs: Risiko- und Schutzfaktoren bei jungen Straftätern. Eine vergleichende Analyse von Tötungs-, Sexual- und Gewaltdelinquenten.
Verlag für Polizeiwissenschaft
(Frankfurt am Main) 2008.
185 Seiten.
ISBN 978-3-86676-032-5.
19,90 EUR.
Reihe: Polizei & Wissenschaft.
Thema
In der Diskussion um Entstehung, Entwicklung und Aufrechterhaltung jugendlicher Delinquenz stehen Risikofaktoren seit längerem im Fokus wissenschaftlichen Interesses. In jüngster Zeit wird der Blick zunehmend auch auf mögliche Schutzfaktoren für die Prävention gelenkt. Die Heterogenität jugendlicher Delinquenz wirft die Frage auf, ob es spezifische Muster von Risiko- und Schutzfaktoren für einzelne Tätergruppen gibt und so möglicherweise unterschiedliche Entwicklungspfade im Entstehungsprozess von Kriminalitätskarrieren identifiziert werden können. Derartige Erklärungsansätze ließen sich für Prävention und Behandlung nutzen. Die vorliegende Studie greift diese Fragestellung auf. Dazu wurden jugendforensische Gutachten zu Tötungs-, Sexual- und Gewaltdelikten retrospektiv hinsichtlich ihrer Risiko- und Protektivfaktoren analysiert und die unterschiedlichen Tätergruppen verglichen. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass für die einzelnen Deliktgruppen spezifische Risikomuster festgestellt werden können.
Autoren/Hintergrund
Die Autoren des Bandes beschäftigten sich beruflich in unterschiedlichen Behandlungs- und Hochschuleinrichtungen u. a. mit Fragen der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Daneben spielen Fragen der frühkindlichen Entwicklung im Zusammenhang mit Risiko- und Schutzfaktoren, sowie frühkindliche Bildungsprozesse (Uta Kraft), Risiko- und Schutzfaktoren bei jungen Straftätern und psychische Gesundheit bei jungen Straftätern (Denis Köhler), sowie jugendforensische Begutachtung, Kinder- und Jugendpsychiatrische Störungsbilder, Behandlung von Straftätern (Günter Hinrichs) den wissenschaftlichen (Forschungs)hintergrund. Die Autoren des vorliegenden Bandes sind Projektverantwortliche und -durchführende für die der Publikation zugrunde liegenden Studie.
Aufbau ...
Der vorliegende Band ist in sieben inhaltliche Kapitel unterteilt. Anschließend finden sich in einem Infoteil Literatur- und Autorenangaben, sowie das in der Studie verwendete Forschdungsinstrumentarium (Checklisten und Ergebnislisten zu psychometrischen Verfahren).
... und Inhalt
Im nur zwei Seiten umfassenden Einleitungsabschnitt leiten die Autoren ihr Forschungsinteresse und –selbstverständnis ab: Internationale Studien benennen seit kurzem die Bedeutung von Risiko- und Schutzfaktoren bei der Delinquenzentstehung. Im deutschsprachigen Raum fehlen derartige Forschungsaktivitäten noch weitgehend. Als Zugang zur Thematik wählen die Autoren eine besondere Form der Aktenanalyse, nämlich die Analyse von sämtlichen 153 Gutachten über jugendliche und heranwachsende Tötungs-, Sexual- und Gewaltdelinquenten, die in den Jahren 1990 bis 2006 von forensischen Sachverständigen an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Kiel angefertigt wurden. Für die Analyse dieses Forschungsmaterials wurde extra ein Erhebungsinstrument entwickelt, die „Checkliste zur Erfassung von Risiko- und Schutzfaktoren bei jugendlichen Delinquenten“, welche bereits in einer früheren Publikation der Fachöffentlichkeit vorgestellt wurde.
Kapitel
zwei beleuchtet den theoretischen
und empirischen Hintergrund der Studie.
Hier werden zunächst die für die allgemeine psychosoziale
Entwicklung vorliegenden internationalen Studien referiert.
Umgebungsbedingte und internale Risikofaktoren wie Alkoholmissbrauch
oder Straffälligkeit der Eltern, bzw. ADHS, intellektuelle
Beeinträchtigungen und Reifungsstörungen beim Kind wirken
sich negativ auf Entwicklungsprozesse aus. Dem Gegenüber stehen
die aus der Resilienzforschung benannten Schutzfaktoren wie
intellektuelle Leistungsfähigkeit, Bindungsfähigkeit,
Verbalisationsfähigkeit etc. Die Autoren führen aus, dass
auch für die vorliegende Studie keine sichere Basis für die
konkreten Wirkungen und Wechselwirkungen der Risiko- und
Schutzfaktoren vorliegt. Dieses Forschungsthema ist, ähnlich wie
die Frage nach Protektivfaktoren, welche Rückfalltaten von
Tätern verhindern helfen können, weitgehend unbeforscht.
Leider versäumen es Kraft,
Köhler
&
Hinrichs
an dieser Stelle, diesen (wenn auch übersichtlichen)
Forschungsstand (vgl. Rezension zu Hahn, Rückfallfreie
Sexualstraftäter)
zu referieren.
Im dritten Kapitel werden die aus den wissenschaftlichen Vorerkenntnissen abgeleiteten Fragestellungen und Hypothesen dargestellt. In sieben Forschungsfragen werden mögliche Unterschiede zwischen Tötungs-, Sexual- und Gewalttätern aufgeworfen. Die Betrachtungsebenen sind hier frühkindliche und familiäre Risikofaktoren, Aspekte des Alkohol- und Drogenkonsums und Sozialverhaltens, sowie Auffälligkeiten im Bildungsverhalten. Vier Hypothesen beschäftigen sich mit der Differenzierung zwischen Früh- und Spätstartern, also Tätergruppen, welche bereits sehr früh in der Kindheit, bzw. erst „später“ im Jugendalter mit delinquenten Verhaltensweisen auffallen. Nur eine Fragestellung fokussiert auf Unterschiede zwischen den Tätergruppen hinsichtlich ihrer je spezifischen Schutzfaktoren.
Nach der Darstellung des Untersuchungsdesigns im vierten Kapitel (retrospektive Analyse von 153 jugendforensischen Gutachten mit Hilfe eines standardisierten Erfassungsbogens) erfolgt in Kapitel fünf bis sieben die Präsentation der Untersuchungsergebnisse. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Gewalt- und Tötungsdelinquenten spezifische Belastungs- und Risikomerkmale und zwar in den Herkunftsfamilien, als auch intraindividuell bereits in der Kindheit aufweisen, welche in der Adoleszenz durch Substanzmissbrauch noch verstärkt werden. Für die Gruppe jugendlicher Sexualstraftäter wird ein Muster frühkindlicher Entwicklungsverzögerungen und eigener Missbrauch in der Kindheit mit späteren sozialen Desintegrationsphänomenen beschrieben, welche weit in die Adoleszenz hinein reichen. In der Interdependenz zwischen sozialer Ausgrenzung und Verbalisationsproblemen vermuten die Autoren ein bei dieser Tätergruppe tief verwurzeltes Misstrauen zur sozialen Umwelt, wodurch negative Gefühlsinhalte (z. B. in Bezug auf die eigene Traumatisierung) nicht thematisiert werden können, wodurch positive soziale Erfahrungen verhindert werden. Mit Verweis auf Studienergebnisse von Marshall und Barbaree diskutieren die Autoren die Bedeutung dieser Dynamik für die Entwicklung sexueller Delinquenz. Relevante Ergebnisse hinsichtlich bestehender Unterschiede zwischen den Deliktgruppen im Bereich der Schutzfaktoren ließen sich durch den Aufbau der Studie kaum gewinnen. Die Autoren der Studie gehen mit diesem Dilemma offen um: auf empirisch überprüfte Protektivfaktoren bei jugendlichen Straftätern kann bislang nicht zurückgegriffen werden, da derartige Erkenntnisse nicht vorliegen. Die Studie wirft hier mehr Fragen auf, als dass Antworten gegeben werden können. Dies liegt in der Natur der Sache. Bedingt durch das vorliegende Studiendesign (Untersuchung einer Population straffälliger Jugendlicher anhand von Aktenanalyse bei Fehlen einer delinquenzfreien Vergleichsgruppe), lassen sich keine neuen Erkenntnisse bzgl. Schutzfaktoren erheben. Erste Hinweise auf Unterschiede zwischen den Deliktgruppen finden sich dennoch im Untersuchungsmaterial: Tötungsdelinquenten weisen gegenüber Sexual- und anderen Gewalttätern hinsichtlich Bildungsprozessen deutlich bessere Leistungen auf. Sexualdelinquenten verfügen in der Kindheit und oft auch in der Adoleszenz häufiger als Gewaltstraftäter über mindestens eine verlässliche primäre Bezugsperson. Ernüchternd stellen die Autoren fest, dass die im Datenmaterial gefundenen Hinweise auf Schutzfaktoren bei den vorliegenden Fällen ihre protektive Kraft nicht entfalten konnten und so i. d. R. keine prosoziale Entwicklung gefördert werden konnte. Auch dieser Rückschluss liegt in der Natur der Sache: besteht die untersuchte Stichprobe ausschließlich aus straffälligen Jugendlichen, können so keine Aussagen über prosoziale Entwicklungsverläufe, welche zu Straffreiheit führen gewonnen werden. Protketive Faktoren sind hinsichtlich ihrer Wirkung für Straffreiheit und ihrer dadurch abgeleiteten Wirkung für Resozialisierung und Reintegration vernachlässigt worden. Die vorliegende Publikation bringt für diese Diskussion wenig Neues.
Zielgruppe
Die Herausgeber der Studie geben einen Einblick in Risiko- und Schutzfaktoren welche im Zusammenhang mit der Entstehung jugendlicher Delinquenz diskutiert werden. Dieses Wissen besitzt eine äußerst hohe Relevanz für alle Berufsgruppen, die mit jugendlichen Straftätern in den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendforensik arbeiten. Daneben bieten die Studienergebnisse wichtige Hinweise für all die Kollegen, die in pädagogischen Arbeitsfeldern, sozusagen im möglichen Vorfeld delinquenter Entwicklungsstrukturen, etwa in der offenen Jugendarbeit, der Schulsozialarbeit oder der Erziehungsberatung tätig sind. In diesen Feldern gilt es mögliche Risikoaspekte und Konstellationen zu identifizieren und entsprechend zu intervenieren, in besonderem Maße aber auch, vorhandene Ressourcen und Schutzfaktoren aufzugreifen und zu stärken, um der Delinquenzentstehung und –entwicklung entgegenzuwirken
Fazit
Die Studie von Kraft, Köhler und Hinrichs benennt auf Grundlage einer kleinen Stichprobe von 153 Risikofaktoren bei jugendlichen Straftätern, welche für die Entstehung von Delinquenz bedeutsam sind. Wesentliche Unterschiede ergeben sich für die Gruppe der jugendlichen Gewalttäter: hier finden sich im Unterschied zu jugendlichen Sexualtätern bereits in der Kindheit belastende familiäre, individuelle sowie schulische Risikokonstellationen. Diese Problemlage wird in der Adoleszenz zusätzlich durch Substanzmissbrauch und polytrope Delinquenz verstärkt. Jugendliche Sexualstraftäter weisen deutlicher frühkindliche Entwicklungsverzögerungen und eigene sexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit, mit sozialer Isolation und folgenden Bindungsstörungen auf. Hinsichtlich der Bedeutung möglicher Schutzfaktoren ergeben sich erste Hinweise auf Bildungsaspekte und das Vorhandensein primärer Bezugspersonen. Die Studienergebnisse lassen sich nicht 1:1 im Sinn einer Behandlungsplanung, für Aktivitäten im Rahmen von Frühintervention, Resozialisierung und Prävention umsetzen. Eine derartige Zielsetzung war mit der Studie „Risiko- und Schutzfaktoren bei jungen Straftätern“ auch nicht beabsichtigt. Die Autoren beweisen durch die gut nachvollziehbare Darstellung des Studienaufbaus, der Forschungsfragen und –hypothesen und der kritischen Diskussion der Studienergebnisse ihre Seriosität im Umgang mit der Tragweite der erhobenen Ergebnisse. Sie verstehen ihre Arbeit vor allem als Diskussionsgrundlage und als Appell für weitergehende Forschungsaktivitäten: z. B. die empirische Begründung protektiver Faktoren bei der Verhinderung von Delinquenz, oder die Wechselwirkung zwischen Risiko- und Schutzfaktoren. Dafür finden sich in den Studienergebnissen allerdings einzelne Hinweise (z. B. den Aspekt positiver Bildungsverläufe bei Tötungsdelinquenten). Die durch den Titel möglicherweise geweckte Erwartung, neue Erkenntnisse bzgl. der Relevanz und Wirkungsweise von Protektivfaktoren zu gewinnen, wird insgesamt nicht befriedigt.
Für interessierte Praktiker in den betroffenen Arbeitsfeldern ergibt sich insgesamt ein differenzierter Einblick in das Forschungsgebiet und die Ursachen der Delinquenzentwicklung.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 06.07.2009 zu:
Uta Kraft, Denis Köhler, Günter Hinrichs: Risiko- und Schutzfaktoren bei jungen Straftätern. Eine vergleichende Analyse von Tötungs-, Sexual- und Gewaltdelinquenten. Verlag für Polizeiwissenschaft
(Frankfurt am Main) 2008.
ISBN 978-3-86676-032-5.
Reihe: Polizei & Wissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7541.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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