Michael C. Frank , Bettina Gockel et al. (Hrsg.): Räume
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.03.2009

Michael C. Frank , Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich, Kirsten Mahlke (Hrsg.): Räume.
transcript
(Bielefeld) 2008.
154 Seiten.
ISBN 978-3-89942-960-2.
8,50 EUR.
CH: 16,50 sFr.
Reihe: Zeitschrift für Kulturwissenschaften - 2008,2.
Der Zwiespalt zwischen Raum und Geist, Körper und Macht
Was ist Kultur? Diese uralte und immer wieder neu formulierte, scheinbar selbstverständlich festgefügte wie in den Denk- und Handlungsprozessen der Menschen wandelbare Frage bewegt nicht zuletzt die Zunft, die sich wissenschaftlich mit „Kultur“ beschäftigt: die Kulturwissenschaften. Wenn Kultur, wie die UNESCO das definiert, als „die Gesamtheit der Formen menschlichen Zusammenlebens“ zu verstehen ist, wird gleichzeitig klar, dass die wissenschaftliche Disziplin, deren Frage- und Erkenntnisgegenstand „Kultur als dem Inbegriff aller menschlichen Arbeit und Lebensformen, einschließlich naturwissenschaftlicher Entwicklungen“ ist (Hartmut Böhme), systematisch und zielorientiert, nur interdisziplinär tätig sein kann. Etwa seit den 1980er Jahren gibt es im wissenschaftlichen Denken und Forschen einen Art Perspektivenwechsel bei der Frage nach Standort, Position und Aufgabe der Geisteswissenschaften, insbesondere in der deutschen Tradition.
Entstehungshintergrund und Thema
Auf diese Entwicklung hat ein Team von WissenschaftlerInnen der Universitäten Wien, Konstanz, Tübingen und Berlin reagiert, indem sie 2007 die „Zeitschrift für Kulturwissenschaften“ gegründet haben, mit dem Ziel, ein interdisziplinäres „Forum für aktuelle Debatten zwischen kulturwissenschaftlich orientierten Fächern“ zu etablieren. Die Herausgeber der ZfK, der Ethnologe Thomas Hauschild von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Wiener Kulturwissenschaftler Lutz Musner, wollen mit der zweimal im Jahr erscheinenden Zeitschrift eine „Plattform für Diskussion und Kontroverse“ über reflektierte Kulturthemen anbieten, mit dem Anspruch, „historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen“ über die kulturellen Entwicklungen in unserer sich immer interdependenter und (auch kulturell) entgrenzender Einen Welt zu thematisieren. Die bisher erschienenen Hefte – 1/2007: „Fremde Dinge“, 2/2007: „Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft“, 1/2008: „Kreativität“, 2/2008: „Räume“ und 1/2009: „Sehnsucht nach Evidenz“, erscheint im April 2009 – deuten schon an, wie breit der Diskussionsrahmen dieses Vorhabens gesteckt ist.
Das Heft 2/08 widmet sich dem „kulturwissenschaftlichen Dauerbrenner“ Raum in seiner neuen Aufmerksamkeit und eines neuen Bewusstseins für die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung an Raumkonstruktionen, insbesondere im deutschsprachigen Diskurs. In diesem Zusammenhang sei auf die folgenden Rezensionen verwiesen: Christian Berndt / Robert Pütz (Hrsg.) Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, socialnet 6651/2007; Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, 6606/2008; Andreas Reckwitz, Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, 6963/2008).
Aufbau und Inhalt
Im einführenden Beitrag weist das Herausgeberteam insbesondere darauf hin, dass „Raum“ in der semantischen Besonderheit des deutschen Begriffs und in der kulturwissenschaftlichen Zugangsweise nicht allein als „vorfindliche Kondition von Wahrnehmung und Erfahrung“ betrachtet werden kann, wie dies in der traditionellen philosophischen Diskussion geschieht, sondern es um die Aufdeckung des Verhältnisses von sozialem und physischem Raum, gewissermaßen als „genuinen Bezug zum Materialen, zur physischen, sinnlichen Wahrnehmung und zum sozialen Handeln“ geht. Die einzelnen Beiträge umfassen deshalb auch die Spannweite von „Raum und Grenze“, „Raum und Bewegung bzw. Stillstand“, „Raum und Blick“, „Raum und Verbrechen“, sowie „Raum und Krankheit“.
Die Wiener Historikerin Monika Ankele diskutiert die Zustände, wie sie in der Frauenpsychiatrie um 1900, als „begrenzter Raum“ - „das Bett als Raum im Raum“ – in den psychiatrischen Anstalten vorherrschten. In der Auswertung von Krankenakten von Patientinnen wird dabei deutlich, dass „die entmächtigenden Verhältnisse psychiatrischer Anstalten selbstermächtigende Praktiken evozierten“. Der an der Berliner Humboldt-Universität tätige Kulturwissenschaftler Robert Sommer setzt sich in seinem Beitrag mit „Sonderbauten“ auseinander, dem „Raum der Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern“. Durch die Gewährung von so genannten „Vergünstigungen an Häftlingen“ sollten die KZ-Häftlinge zu einer höheren Produktion und Steigerung ihrer Arbeitskraft gebracht werden. Am Beispiel der Baugeschichte des KZ-Bordells im Konzentrationslager Mauthausen zeigt der Autor das „sexualpolitische Panoptikum“ einer entmenschlichten, institutionalisierten Praxis im Nationalsozialismus auf. Der Kieler Historiker Christoph Nübel thematisiert das „Niemandsland als Grenze“. Es sind die „Raumerfahrungen an der Westfront im Ersten Weltkrieg“, die im kollektiven Gedächtnis über Erlebnisse bei Soldaten im Stellungskrieg, den Schützengräben und den (beinahe) sichtbaren und fühlbaren Feind haften bleiben, bis hin zu irgendwie sogar menschlichen Gesten, wie Feuereinstellung bei der Bergung von Verwundeten und Toten und „Gabentausch“ vor Ort; aber auch der strategischen Kalkulation der kriegsführenden Mächtigen, die so etwas wie Raumerfahrungen erster und zweiter Ordnung schafften. Die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin und Anglistin Anja Schwarz reflektiert „Linien im Sand“, indem sie die Wahrnehmung und Beschreibung des Südseestrands bei James Cook und Georg Forster miteinander vergleicht und in den Markierungen sowohl Abgrenzung wie Annäherungs- und Kommunikationsversuche erkennt. Der Dortmunder Geograf Achim Prossek richtet seinen Blick auf das Ruhrgebiet, indem er über „visuelle Regionsproduktion“ reflektiert. Er zeigt auf, dass in Schulbüchern, Filmen und anderen Zeugnissen vermittelten Stereotypen über die polyzentrische Region des Ruhrgebietes im rasant sich vollziehenden Wandlungsprozess einer Umdeutung bedürfen. Es sind die „Landmarken“, die ein „Selbst-Bewusst-Werden der Region“ schaffen. Der Historiker an der Technischen Universität Chemnitz, Manuel Schramm, weist in seinem Beitrag „Vermessene Räume“ darauf hin, dass technische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse auch zu neuen Raumauffassungen führen. Das zeigt er am Beispiel des Wandels von Raumkonzepten in der Vermessungstechnik auf und macht deutlich, dass „Transnationalisierungsprozesse … nicht nur zur Auflösung nationaler Räume (führen), sondern … auch neue Unterscheidungen hervor(bringen)“, die er als Fragmentierungstendenzen bezeichnet. Der Zürcher Kunsthistoriker Wolfgang Kersten äußert sich zur „Kunst und Erkenntnis visueller Raumerfahrung“. Es ist „der Blick des Bildes der Fotografie“, der dem Autor zu einer Betrachtung von gemaltem und fotografiertem Bild einlädt und zu der Schlussfolgerung bringt: „Die Erzeugung illusionistischer Räume durch die Bildkünste basiert auf historisch sich wandelnden Sehweisen und Techniken, die stets an die bestimmte Materialität des Kunstwerks gebunden sind“. Der Berliner Kunsthistoriker Pablo Schneider erinnert am Beispiel Versailles Ludwig XIV. daran, dass Raumbegrenzung auch als Tugend- und Machtmittel eingesetzt werden kann: „L’ état c’est moi“.
Immer, wenn man über den „Gartenzaun“ schaut, hinüber ruft, vielleicht sogar sich traut, darüber zu steigen, sind nicht selten physische und psychische Anstrengungen erforderlich; man kann dabei neue Einblicke und Erfahrungen gewinnen, genau so, wie man Gefahr läuft, die Hose zu zerreißen. Zum Schluss des Diskussionsmarathons in der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2/2008, wirft der Germanist am Department of Central, Eastern and Northern European Studies der University of British Columbia in Vancouver, Geoffrey Winthrop-Young, zumindest eine Mü(n)tze über den Gartenzaun, indem er einen „kanadischen Gesprächsvorschlag zu einem deutschen Theoriephänomen“ in den Diskurs einbringt: „Von gelobten und verfluchten Medienländern“. Seine sich auf Marshall McLuhan beziehende Replik nimmt die in der Wissenschaftszunft etablierte Auffassung auf, Deutschland sei das „gelobte Land der Medienforschung“; und er weist darauf hin, dass „die Entwicklung der deutschen Medientheorie (als) ein interessantes Beispiel für das prekäre Verhältnis zwischen Theorie(n)dynamik, Disziplingeschichte und Begriffsüberlastung“ betrachtet werden könne. Diese, kenntnis- und zitatenreich geführten Einwände und Provokationen können als ein Exempel dafür betrachtet werden, wie ein wissenschaftlicher Diskurs über die nationalen und systemimmanenten Gartenzäune und Mauern hinweg gewinnbringend und erkenntnisfördernd zustande kommen kann. Denn der Historiker und Medienwissenschaftler der Bauhaus-Universität Weimar, Friedrich Balke, der Literaturwissenschaftler und Philosoph am Department of German der Yale University of New Haven/USA, Rüdiger Campe, der Wiener Kulturwissenschaftler Helmut Lethen, sowie der Bremer Anglist und Medienwissenschaftler K. Ludwig Pfeiffer erwidern in jeweils dezidierten Korrekturen, Relativierungen und Zustimmungen. Zwar kann in der Kontroverse die Frage - „Was ist denn nun deutsch und besonders an der deutschen Medientheorie?“ – (zum Glück!) nicht eindeutig beantwortet werden; aber der Diskurs macht deutlich, dass es, in den Kulturwissenschaften wie überhaupt notwendig ist, darüber nachzudenken, interdisziplinär und international, „wie Medien uns zum Denken bringen und warum an verschiedenen Orten zugleich sehr ähnlich und unterschiedlich darüber geredet wird“, wie dies Geoffrey Winthrop-Young als Ergebnis der Diskussion wertet.
Fazit
(Fach)Zeitschriften sind Medien, um insbesondere die wissenschaftlichen, kontroversen wie einvernehmlichen Diskussionen sichtbar und hörbar zu machen. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften ist eine notwendige, nützliche und gewinnbringende Stütze beim (beginnenden) Bau des wissenschaftlichen Diskurses um das kulturelle Dasein der Menschen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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