Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet - Das Netz für die Sozialwirtschaft

Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Jantzen, 10.08.2009

Cover Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung ISBN 978-3-7815-1649-6

Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des nationalsozialistischen Behinderten- und Krankenmordes in Hadamar. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2008. 204 Seiten. ISBN 978-3-7815-1649-6. 29,90 EUR.
Reihe: Klinkhardt Forschung.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Entstehungshintergrund und Autorin

Das Buch, aufgenommen in die Reihe Klinkhardt-Forschung mittels eines Peer-Review-Verfahrens, ist die Druckfassung einer an der Universität Gießen zur Erlangung des Doktorgrades des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften 2007 angenommenen Dissertation. Die Autorin, geb. in Washington D.C./USA ist Soziologin. Sie arbeitet in der Gedenkstätte Hadamar als pädagogische Mitarbeiterin und ist Geschäftsführerin des Vereins zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V.

Thema

Das Buch beschäftigt sich mit der kollektiven Erinnerung geistig behinderter Menschen an die NS-Verbrechen als bisher unerforschtem Terrain. Dass dieses Thema insgesamt im kulturellen Gedächtnis wenig ausgeprägt ist (10) ist keine Frage. Im kulturellen Gedächtnis geistig behinderter Menschen, die überlebt haben, war es zentral. Nur wurde es nicht Gegenstand systematischer Forschung. Wohl aber scheint es am Rande verschiedenster Arbeiten auf, welche die Nazi-Verbrechen im Anstaltsbereich, insbesondere nach dem vordergründigen Stopp der „Euthanasie„-Mordaktionen und ihrer geheimen Weiterführung behandeln. Hier und da wird erwähnt, dass ältere Bewohner von Einrichtungen noch sehr genau von dieser Zeit wussten. Dies systematisch aus den Randbemerkungen bisheriger Forschung zu rekonstruieren, wäre eine Möglichkeit gewesen, sich der Thematik anzunähern. Die Autorin hat einen anderen Weg beschritten. Sie berichtet von dem Versuch, an der Gedenkstätte Hadamar unter Einbezug sog. geistig behinderter Menschen ein entsprechend Erinnerungskultur aufzubauen. Entsprechend der engen Verflechtung dieses Projekts mit einer Reihe von Personen, die sich in „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V.“ engagieren, benutzt die Autorin im Text die Begriffe „Menschen mit geistiger Behinderung“ und „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ synonym.

Die Arbeit erfolgt auf dem Hintergrund der soziologischen Theorie des kulturellen Gedächtnisses (im Anschluss an Maurice Halbwachs), das als ständig sich erneuernde, sich verändernde und Umschreibungen ausgesetzte kulturelle Formation verstanden wird. In den Worten von Assmann zitiert: „der in jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchstexten, -Bildern und –Riten [...], in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) mit Bezug auf die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“ (16).

Aufbau und Inhalt

  • Ein kurzer Überblick informiert (in Kap. 1) über die Nazi-Verbrechen sowie die Arbeit am Erhalt des Aufbaus und Erhalt eines kulturellen Gedächtnisses dafür in der ehemaligen Mordanstalt Hadamar.
  • Drei Seiten befassen sich thesenartig mit Menschen mit Lernschwierigkeiten als Subjekten der Geschichtsforschung (Kap. 2).

Auf diesem Hintergrund entwickeln Kapitel 3, 4 und 5 das Sujet der Forschung.

  • Kapitel 3 liefert einen Überblick über die Lern- und Erinnerungsarbeit in der Gedenkstätte Hadamar insbesondere unter Schilderung der Kooperation mit dem Netzwerk People First. Mit Zielgruppen zu arbeiten, die in historischer Sicht als Bestandteil von Opfergruppen begriffen werden müssen, verlangt besondere Sensibilität, ist eine „schwierige Gratwanderung“ (58).
  • Kapitel 4 behandelt abrissartig die Problematik des Lernens in der Wissensgesellschaft für Menschen mit Lernschwierigkeiten, insbesondere auch in Rückgriff auf die Homepages verschiedener Bildungsträger.
  • Kapitel 5 behandelt „Vom Objekt der Betrachtung zum Subjekt der Lebensgestaltung“ und diskutiert diesen Prozesse auf der Ebene von in allen Lebensphasen stattfindenden Ausgrenzungsprozessen. Insgesamt gilt: „der durch die Gesellschaft vorgegebene Status wird übernommen und durch die erlernte Hilflosigkeit reproduziert. Die beschädigte Identität weist den Weg für eine behindertenspezifische Sozialisation.“ (85)
    Soziologietheoretisch wird äußerst knapp auf die mögliche strukturfunktionale Einordnung einerseits wie interaktionstheoretische andererseits verweisen, um dann das sog. „neue Paradigma“ in den Vordergrund zu stellen „die Betroffenen sprechen für sich selbst“.
    Wenn das doch mal so wäre: in der Regel ist das Sprechen der Betroffenen eingebettet in paternalistische Strukturen, die selbst dort auftreten, wo man sie nie erwarten würde (so meine persönliche Erfahrung auf der im Rahmen der „disability studies“ in Oldenburg im Januar 2009 stattgefundenen Tagung über „gender“ und „disability“). Und immer dann wird es in Frage gestellt, wo die eigene Macht-, Wohltäter/innen- usw. position zur Disposition gestellt wird.
    Ein Überblick über disability-studies ebenso wie sozialen Konstruktivismus schließt dieses Kapitel.

Die folgenden Kapitel sind der eigenen empirischen Forschung im Rahmen qualitativer Methodologie gewidmet.

  • Kapitel 6 liefert einen knappen Überblick über die Forschungsmethodologie und -methodik. In die Auswertung fließen ein fünf Interviews (mit insgesamt sieben Personen), eine Filmsequenz, in den Tagungen erstellte Wandzeitungen sowie Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung.
  • Sehr ausführlich erfolgt die Wiedergabe der Interviews in Kapitel 7 und die Auswertung übergreifender Themen (119-183) abgerundet durch abschließende Einschätzungen (189 ff.) sowie ein
  • Fazit (Kap. 8.).

Die übergreifenden Themen zu den Interviews zeigen Empathie, Trauer, „ethisch-moralische“ Einstellungen, Gefühle, dass schweres Unrecht geschehen ist, bis hin zur Notwendigkeit von Selbstbestimmung, die erkämpft werden muss.

Diskussion

So begrüßenswert die Arbeit in der Gedenkstätte Hadamar ist, so problematisch finde ich die Form der vorgelegten Arbeit. Was ist das für ein Peer-Review-Verfahren, wenn Arbeiten als Bücher publiziert werden, denen man nur allzu sehr den Charakter einer Qualifikationsarbeit anmerkt?! Der Arbeit und ihren Ergebnissen hätte es gut getan, zu einem lesbaren Buch umgearbeitet zu werden, statt mit weit über hundert Zwischenüberschriften zerstückelt jeden Lesefluss sofort wieder zu zerstören.

Dies ist der Autorin nicht anzulasten, die engagiert geschrieben und gearbeitet hat. Allerdings ist auffällig, wie oberflächlich soziologische Hintergrundtheorien eingeführt werden: bei Funktionalismus Parsons, wieso aber nicht Luhmann? Bei sozialem Konstruktivismus keinerlei relevante Originalliteratur, im Kapitel 6 taucht dann neben dem Konstruktivismus plötzlich die Phänomenologie als Hintergrund auf – ohne ein Wort, was die Autorin darunter versteht. Die Referenzliteratur aus dem Bereich der Behindertenpädagogik ist außerordentlich dünn, auf die Nichtauswertung bisheriger historischer Forschungen, um in ihnen Spuren der Betroffenenperspektive zu finden, habe ich bereits verweisen.

Und den Interviews selbst hätte es sehr gut getan, die Autorin hätte Bourdieus wunderbare Darstellungen einer mäeutischen Interviewpraxis zur Kenntnis genommen, in der dann wirklich die Betroffenen für sich sprechen („Das Elend der Welt“, Konstanz 1998). Ich möchte dies an drei Fragen aus dem Interviewleitfaden zeigen: die erste ist angemessen: „Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an die Tagungen in Hadamar denken?“ Die zweite ist im zweiten Teil tendenziös (und damit paternalistisch, weil sie die Betroffenen auf die Denkschiene der Interviewerin führt, die von der Sache her erst mit der dritten Frage beschritten wird). Sie lautet „Denken sie manchmal im Alltag an Hadamar und an die NS-Verbrechen?“ und die dritte: „Wie war es für Sie sich damit zu beschäftigen?“

Fazit

Trotz dieser Einschränkungen und einer für mich teilweise ärgerlichen Lektüre: das Anliegen selbst, geistig behinderten Menschen zu eigenen Formen der Erinnerungskultur zu verhelfen, ist verdienstvoll und verdient Unterstützung.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Jantzen
Website
Mailformular

Es gibt 1 Rezension von Wolfgang Jantzen.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Wolfgang Jantzen. Rezension vom 10.08.2009 zu: Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des nationalsozialistischen Behinderten- und Krankenmordes in Hadamar. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2008. ISBN 978-3-7815-1649-6. Reihe: Klinkhardt Forschung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7574.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht