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Judith Rich Harris: Jeder ist anders

Rezensiert von Prof. Dr. Hilde von Balluseck, 10.06.2009

Cover Judith Rich Harris: Jeder ist anders ISBN 978-3-421-04235-4

Judith Rich Harris: Jeder ist anders. Das Rätsel der Individualität. Deutsche Verlagsanstalt (München) 2007. 413 Seiten. ISBN 978-3-421-04235-4. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 43,90 sFr.
Originaltitel: No two alike.

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Autorin

Die Autorin, Jahrgang 1938, ist Psychologin und Wissenschaftsautorin in den USA. Ihr Buch „Ist Erziehung sinnlos? Die Ohnmacht der Eltern“ war ein großer Erfolg. Sie lebt mit Mann und Töchtern in New Jersey.

Entstehungshintergrund

Der große Erfolg ihres Buches über die Erziehung hat die Autorin offenbar veranlasst, nachzulegen und eine eigene Theorie zu der Entstehung der Unterschiede zwischen Menschen zu entwerfen.

Aufbau

In sechs von insgesamt 10 Kapiteln versucht die Autorin die verschiedenen Herangehensweisen zum Thema Unterschiedlichkeit von Individuen (bei in etwa gleicher genetischer und kultureller Ausstattung) darzustellen, zu analysieren, zu kritisieren und entwirft in drei weiteren Kapiteln ihre eigene Theorie. Das Fazit fasst die wesentlichen Erkenntnisse zusammen.

Inhalte

Es ist die unterschiedliche Entwicklung von eineiigen Zwillingen und von Geschwistern, die in genau der gleichen Umgebung aufwachsen, die die Autorin umtreibt. Weder die Verhaltensgenetik noch die Entwicklungspsychologie, noch die Sozialisationsforschung sind ihres Erachtens ausreichend, um diese Unterschiede zu erklären. Stück für Stück nimmt sie die Theorien auseinander und weist darauf hin, wie wenig diese – für sich genommen – zur Klärung des Sachverhalts beitragen. Sie kritisiert an vielen Stellen auf die Schlamperei und geradezu Unredlichkeit von Wissenschaftlern, die sich mit überraschenden Untersuchungsergebnissen schmücken wollen. Bemerkenswert ist ihre Kritik diverser Untersuchungen, die im (populär-) wissenschaftlichen Diskurs immer wieder zitiert werden und die empirisch letztlich auf schwankendem Boden stehen. Auch ihre Hinweise auf die falschen Schlussfolgerungen mancher Wissenschaftler sind sehr kreativ. Untersuchungen, die aus Interventionen bei Eltern auf ein verändertes Verhalten der Kinder schlossen, sind fragwürdig, wenn es keine Kontrollgruppe gibt, und wenn die anderen Faktoren, die das Verhalten des Kindes beeinflussen könnten (Kindergarten, Schule) nicht einbezogen werden.

Wesentliche Erkenntnisse von Rich Harris sind:

  • Kinder, die genetisch nahezu gleich sind, sind doch in einigen Punkten leicht unterschiedlich. Ihre Bezugspersonen entwickeln ein je eigenes Verhältnis zu ihnen und diese Reaktionen formen wiederum die Persönlichkeit des Kindes.
  • Ein Kind legt bei den Eltern sehr häufig ein ganz anderes Verhalten an den Tag als z.B. auf der Straße und in der Schule. Die Situationsabhängigkeit des Verhaltens ist ein wichtiges Thema, auf das die Autorin immer wieder hinweist.
  • Des Weiteren betont Rich Harris die Eigenaktivität des Kindes: Jedes Kind entscheidet auch teilweise darüber, wie es sich an eine bestimmte Situation anpasst.

Nach dem Rundumschlag zu Theorien und Untersuchungen, die ihres Erachtens nicht die Unterschiedlichkeit von Menschen erklären können, erläutert die Autorin ihr eigenes Modell, in dem sie das Beziehungssystem, das Sozialisationssystem und das Statussystem unterscheidet. Alle drei Systeme sind gesehen von den Bedürfnissen und Motivationen der Individuen.

  • So ist das Beziehungssystem ein Motivationssystem, das darauf drängt, menschliche Wärme zu erhalten.
  • Das Sozialisationssystem motiviert das Individuum dazu, sich den Gruppenzwängen anzupassen, also das Bedürfnis nach Konformität.
  • Das Statussystem ist die Motivation, von anderen sich abzuheben und der/die Beste, Stärkste, Schönste zu sein.

Untermauert wird die Theorie durch profunde Kenntnisse der Autorin in Genetik, Verhaltensgenetik, Evoulutionsbiologie und Psychologie.

Diskussion

Judith Rich Harris ist sehr belesen und kennt sich in der Literatur, die sie ausführlichst zitiert und darstellt, sehr gut aus. Für die Leserin ergibt sich, doch kritischer mit schnell überbrachten neuen Ergebnissen umzugehen: Ohne genaue Kenntnis des Untersuchungsdesigns, der Methode etc. darf man diese Ergebnisse nicht einfach in den Common Sense einfließen lassen. So jedoch geschehen u.a. beim berühmten Experiment von Watson mit dem kleinen Albert.

In ihren langen Exkursen erwähnt Rich Harris auch einen Tatbestand, der in der gesamten Sozialwissenschaft meist verschwiegen wird: Männer und Frauen sind aufgrund ihres Aussehens mehr oder weniger erfolgreich. Besonders spannend ist der Hinweis, dass Männer nicht aufgrund ihrer momentanen Größe bewertet werden, sondern aufgrund ihrer Größe im Alter von 16 Jahren. Das bedeutet, dass das Selbstbewusstsein entscheidend ist, nicht der objektive Tatbestand. Dennoch ist die allein auf Evolutionsbiologie beruhende Behauptung, Männer hätten beruflichen Erfolg aufgrund ihrer Größe und Stärke, Frauen würden hingegen den „richtigen“ Partner finden aufgrund ihrer Schönheit etwas flachbrüstig und – sexistisch. Denn auch Frauen sind heute zumeist berufstätig.

Die Ausblendung soziologischer Tatbestände ist bemerkenswert. Wenn die Autorin schreibt „Eltern entscheiden, in welcher Kultur ihre Kinder leben wollen, in welcher Kultur ihre Kinder aufwachsen, wo sie zur Schule gehen werden“ (S. 322), dann kommt einer Sozialwissenschaftlerin schon die Galle hoch.

Problematisch erscheint auch die totale Ablehnung der Psychoanalyse. Nach Rich Harris bringt ein Wühlen in der Vergangenheit der Individuen keine Verbesserung ihrer Situation, vielmehr verstärkt die Erinnerung an negative Erlebnisse deren Wirkung in der Gegenwart. Diese Verallgemeinerung ist sehr simpel und vernachlässigt alle Erkenntnisse über die positiven Wirkungen des Erinnerns und „Durcharbeitens“ (wenngleich die Rezensentin zugesteht, dass auf dem Therapiemarkt sehr viel Murks gemacht wird).

Die Autorin liebt es offenbar, zu schreiben, denn sie kommt „vom Hölzchen aufs Stöckchen“, ist extrem weitschweifig, und wiederholt sich auch an vielen Stellen. Es braucht also viel Zeit und Geduld, um dieses Buch zu lesen.

Dass Rich Harris mit ihrem Dreiergespann Beziehungs-, Sozialisations- und Statussystem den Stein der Weisen gefunden hat, darf füglich bezweifelt werden. In einem allerdings ist ihr voll zuzustimmen – aber das weiß auch die Psychoanalyse schon des längerem: Es ist nicht der sexuelle Trieb, der Menschen zu Aktionen und Veränderungen veranlasst. Vielmehr ist es die Suche nach Anerkennung, die sehr viele psychische und soziale Phänomene zu erklären vermag (vgl. die Theorie von Axel Honneth).

Fazit

Ein interessantes Buch, das uns tiefe Einsichten in den Wissenschaftsmarkt vermittelt. Leider ist es zu weitschweifig und in der Vernachlässigung soziologischer Tatbestände und der Ablehnung der Psychoanalyse fragwürdig.

Rezension von
Prof. Dr. Hilde von Balluseck
Sozialwissenschaftlerin, emeritierte Hochschullehrerin an der Alice Salomon Hochschule Berlin mit den Arbeitsschwerpunkten Sozialisation, Geschlecht und Sexualität, Migration, Frühpädagogik, etablierte 2004 den ersten Studiengang für ErzieherInnen in Deutschland und war von 2008 bis Ende 2015 Chefredakteurin des Internetportals ErzieherIn.de

Es gibt 42 Rezensionen von Hilde von Balluseck.

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Zitiervorschlag
Hilde von Balluseck. Rezension vom 10.06.2009 zu: Judith Rich Harris: Jeder ist anders. Das Rätsel der Individualität. Deutsche Verlagsanstalt (München) 2007. ISBN 978-3-421-04235-4. Originaltitel: No two alike. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7586.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.


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