Jens Clausen: Das Selbst und die Fremde
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 13.03.2010
Jens Clausen: Das Selbst und die Fremde. Über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2008.
2. Auflage.
340 Seiten.
ISBN 978-3-88414-473-2.
19,95 EUR.
CH: 35,90 sFr.
Reihe: Edition das Narrenschiff.
Thema
„Alles Unglück der Menschen kommt davon her, dass sie nicht verstehen sich ruhig in einer Stube zu halten“ behauptet Blaise Pascal in seinen „Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände“ (Berlin 1840) und wenn Sie auch diese Auffassung vertreten und daher Reisen prinzipiell ablehnen, sollten Sie dieses Buch nicht lesen. Es wird Sie nur verwirren!
Wenn Sie aber mit Bruce Chatwin die Einsicht teilen, dass „all die großen Lehrer – Christus, Buddha, Laotse, der heilige Franziskus – die ewige Pilgerfahrt ins Zentrum ihrer Botschaft gestellt und ihren Schülern erklärt, sie sollten, ganz wörtlich, dem Weg folgen“ (11), und auch Sie dies ganz praktisch und tun und leidenschaftlich reisen, dann müssen Sie unbedingt dieses Buch lesen.
Ausgehend von der Erfahrung, dass Reisende in der Fremde Grenzerfahrungen machen können, die nicht immer heilsam für das Ich sind, legt Jens Clausen eine wunderbare, belesene und kluge Studie vor, in der er eben diese Grenzerfahrungen beschreibt und analysiert. Sein methodischer Zugang wirkt auf den ersten Blick überraschend, in der Lektüre erweist er sich dann als brillant: Ausgewählte Texte der literarischen Moderne zeigen auf, „dass das Reisen die innere Konstitution labilisieren, die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Weltverbundenheit erschüttern und tiefe existenzielle Verstörungen verursachen kann“(299).
Aufbau und Inhalt
Nach einigen einführenden Fundierungen und Begriffsklärungen durch Hölderlin, Goethe (er darf und kann bei einem deutschen Autor nicht fehlen!) und Freud nimmt uns der Autor mit auf eine wunderbare Reise mit dem Selbst in der Fremde. Das „bedrohte Selbst“ in Angst und Panik lässt er uns durch Texte von Imre Kertész, Erich Wulff und W.G.Sebald erfahren; das „irritierte Selbst“ in seiner Dissoziation erleben wir mit Bouvier, Brinkmann und Sternberger; das „erschöpfte Selbst“ in seiner Depression zeigen uns Max Dauthendey, Albert Camus und die wunderbare weitreisende Annemarie Schwarzenbach und nach Textlektüren zum „verunsicherten“ und „entgleitendem“ Selbst schließt dieses zentrale Kapitel des Buches mit einem Exkurs über Rainer Maria Rilke und dessen literarisch verarbeitete „Momente des Selbstverlustes auf Reisen“:“Man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit einem Koffer und mit einer Bücherkiste und eigentliche ohne Neugierde“(282).
Wer selbst auf Reisen eben diese Momente des Selbstverlustes schon erfahren hat – ich erinnere mich an eine Vollmondnacht in der afghanischen Wüste, in der eine plötzlich aus dem Dunkeln auftauchende Karawane mich schlagartig in einen Dissoziationszustand verschob, den ich bisher nur aus Drogenerfahrungen kannte – findet in der Lektüre vertraute Ängste wieder. Und begreift lesend die heilsame Funktion des Schreibens als Abwehren jener drohenden Auflösung des Ichs. Die literarischen Schilderungen der Grenzerfahrungen sind so – fast immer – erfolgreich im Kampf gegen die Auflösung; denn vergleichbar Odysseus Bericht über seine Fahrt zwischen Scylla und Charybdis, lesen wir Texte von Heimgekehrten. Und erfahrbar wird so, wie Literatur eine Weltsicht ermöglicht, die jenseits einer „wissenschaftlichen“ Wirklichkeit, eben auch eine Sicht von Welt bedeutet.
Diskussion
Der Kunstgriff des Autors, bekannte und unbekannte Grenzerfahrungen beim Reisen mittels der Literatur der Moderne zu transportieren, macht die Besonderheit des Textes aus. Lesend werden wir Zeugen von seelischen Krisen und den entsprechenden unterschiedlichen Störungen, aber auch ihrer Bewältigung. „Kann man auf Reisen verrückt werden“(10) lautet die Eingangsfrage der Studie und durchgängig erfahren wir, dass genau dies geschehen kann, geschieht, aber auch wie diese Störungen als Schwellensituation zu neuen Einsichten ins eigene Leben genutzt werden können. Aber - so eine der grundlegenden Thesen des Autors, wie er sie in seinen „dreizehn zusammenfassenden Gedanken formuliert“(299) - „Nirgends so sehr wie auf Reisen wird einem bewusst, dass die Annahme eines eigenen Selbst ein fragiles Konstrukt ist“(305).
Wer reist, um eben diese Erfahrung in der Fremde zu machen, wer sein eigenes zerbrechliches Ich bewusst der Erfahrung der Erschütterung aussetzt, weil er genau diese Erschütterung als Gewinn, als tiefere Einsicht in sich erfährt und versteht, wird – jenseits der Neugier jedes Lesers, die auch dieser Band befriedigt – ein großes Vergnügen in der Lektüre finden. Jens Clausen hat ein menschenfreundliches und kluges Buch über das nomadische unserer Existenz geschrieben. Verstehen wir das Nomadische als das Eigentliche unseres Lebens, unserer Lebensreise, hat er einen nachdenklichen Text über die „condition humana“ verfasst. Und ganz nebenbei auch über das Schreiben, als eine mögliche letztgültige Antwort des Menschen, auf aktuelle und grundlegende Fragilität unserer Existenz.
Fazit
„Warum bin ich überhaupt hier?“ fragt sich Bruce Chatwin in Timbuktu um sich im nächsten Satz die Antwort zu geben:“Und doch muss ich…an den Wüstenwind denken, wie er das grüne Wasser aufpeitscht, an das dünne harte Blau des Himmels, an gewaltige Frauen, die in blaßblauen boubous aus Kattun durch die Straßen schlingern, an die Fensterläden der Häuser mit demselben harten Blau vor schlammgrauen Wänden, an die orangeroten Laubenvögel…und nachts der Mond, eine halbe Kalebasse, wie er sich im Fluß spiegelt“ (Bruce Chatwin, 1998: Der Traum des Ruhelosen. Hamburg. S.39).
Wenn Sie aus diesem Grund reisen, dann müssen Sie dieses kluge Buch von Jens Clausen lesen –nehmen Sie es doch einfach als Reiselektüre mit!
Bleiben Sie aber lieber mit Blaise Pascal in Ihrer Stube sitzen, sollten Sie die Lektüre besser sein lassen!
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation
Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.
Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 13.03.2010 zu:
Jens Clausen: Das Selbst und die Fremde. Über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen. Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2008. 2. Auflage.
ISBN 978-3-88414-473-2.
Reihe: Edition das Narrenschiff.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7597.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
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