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Annette Eberle: Pädagogik und Gedenkkultur

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.05.2009

Cover Annette Eberle: Pädagogik und Gedenkkultur ISBN 978-3-89913-601-2

Annette Eberle: Pädagogik und Gedenkkultur. Bildungsarbeit an NS-Gedenkorten zwischen Wissensvermittlung, Opfergedenken und Menschenrechtserziehung. Ergon Verlag (Würzburg) 2008. 261 Seiten. ISBN 978-3-89913-601-2. 34,00 EUR.
Reihe: Pädagogik und Ethik - Band 1.

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Lernen an historischen Orten

Diese Bildungsanforderung ist schon immer Bestandteil des historischen Lernens gewesen. Je nach ethnischen, völkischen, nationalen und ideologischen Standorten werden dabei für das eigene, nützlich erscheinende Geschichtsbilder hervor gehoben und andere vernachlässigt oder gar verschwiegen. Dass die Wege, die in der Auffassung über Geschichtsbewusstsein und –identität lang(wierig) und schwierig sind, zeigt das Projekt „Europäisches Geschichtsbuch“, das von der Europa-Union seit Anfang der 1990er Jahre initiiert wurde und bisher lediglich (immerhin!) zur Herausgabe eines deutsch-französischen Geschichtsbuchs für Abiturklassen geführt hat.

Thema

Um so aufwändiger und in der Tat einen Perspektivenwechsel herausfordernd, ist die Beschäftigung mit den Bildungs- und Aufklärungsanforderungen für schulisches und außerschulisches Lernen bei NS-Gedenkorten. Dabei geht es um „Bildungsarbeit … zwischen Wissensvermittlung, Opfergedenken und Menschenrechtserziehung“. Dieser Thematik stellt sich die Münchner Sozialwissenschaftlerin Annette Eberle in ihrer Arbeit „Pädagogik und Gedenkkultur“. In der von Eva Matthes, Werner Wiater (Uni Augsburg) und Guido Pollak (Passau) im Würzburger Ergon Verlag herausgegebenen Reihe „Pädagogik und Ethik“ subsumiert Annette Eberle ihre Erfahrungen bei der Mitarbeit in den bayerischen KZ-Gedenkstätten Dachau, Flossenbürg und den ehemaligen KZ-Außenlagern, nicht im Sinne einer Dokumentation (dazu liegt mittlerweile das mehrbändige Werk von Wolfgang Benz / Barbara Distel, Hrsg, Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, insbes. Bd. 2: Frühe Lager - Dachau - Emslandlager, Leineneinband, C. H. Beck Verlag, München 2005, 607 S., sowie von Andrea Tech, Arbeitserziehungslager in Nordwestdeutschland 1040 – 1945, Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2003, 331 S., und die von der Bundeszentrale für politische Bildung als Band 245 herausgegebene Zusammenstellung „Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“, Bonn 1987, 831 S., vor), sondern als Standortbestimmung des Zusammenhangs von Pädagogik und Gedenkkultur. Dabei sind drei Fragenkomplexe für die Autorin von besonderer Bedeutung:

  1. Welche Herausforderungen für Bildungsanstrengungen sind bei Gedenkorten, die an NS-Verbrechen erinnern, spezifisch?
  2. Was kann Gedenkstättenpädagogik für die Charakterisierung und Bewertung der NS-Zeit leisten?
  3. Wie kann sich Opfergedenken derzeit, vom Übergang einer von der lebendigen Erzählung geprägten Traditionsbildung zu einer Zeit ohne Zeitzeugen, bestimmen?

Inhalt

Die Autorin behandelt die Thematik auf drei Ebenen:

  1. der historisch-politischen Bildung,
  2. der institutionellen Entwicklung und
  3. der zeithistorischen Bedeutung der Gedenkorte

und entwickelt eine „Systematik der Gedenkstättenpädagogik“. Neben der deskriptiven Darstellung der in den Quellen und in der Literatur vorhandenen Dokumente hat die Autorin zwei Besucherbefragungen an der KZ-Gedenkstätte Dachau – eine bei ausländischen Besuchern und die andere bei deutschen Schulklassen – in ihre Arbeit einbezogen. Damit erhalten die Befunde einen didaktisch-methodischen Bezug, der insbesondere für die pädagogische Auseinandersetzung wichtig ist.

Die Beschränkung auf den bayerischen Raum ist kein Manko; vielmehr verweisen die Reflexionen, die die Autorin an den KZ-Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg, den ehemaligen KZ-Außenlagern in Mühldorf, Überlingen, Kaufering, Allach, Hersbruck, Augsburg, dem Zwangsarbeiterlager Gersthofen, der „Denkstätte“ Weiße Rose in München, der Bildungs- und Kulturarbeit der jüdischen Gemeinde in München und Würzburg, sowie den NS-Dokumentationszentren in Nürnberg und Obersalzberg, auf die wesentlichen, allgemeinbildenden und gesellschaftlichen Anforderungen einer notwendigen Auseinandersetzung überall in Deutschland, als „Bewusstseinsbildung für die räumlich-zeitliche Vergegenwärtigung des Gedenkens an die NS-Opfer und Bewusstseinsbildung für die reflexive Auseinandersetzung mit dem Opfer-Täter-Konflikt, der in der Dimension der NS-Verbrechen wurzelt“.

Annette Eberle gliedert ihre Studie, die sie als Dissertation an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg vorgelegt hat, in die folgenden Bereiche:

Neben der Einleitung stellt sie „Pädagogik und Gedenkkultur“ als erzieherische und aufklärerische Inanspruchnahme des Gedenkens an die NS-Opfer dar, verweist auf die Diskrepanz der Bedeutung der NS-Gedenkstätten als Gedenkorte an „fremde Opfer“ und zeigt auf, wie Lernorte zu einer politischen Handlungsorientierung beitragen können. Daraus entwickelt sie eine „Systematik der Gedenkstättenpädagogik“, die den Ansatz einer „historisch-politischen Bildung“ auf die Notwendigkeit zur Etablierung einer „Gedenkkultur“ erweitert. Mit der Frage „Was lernen Besucher an NS-Gedenkorten?“ diskutiert und bewertet sie die von ihr durchgeführten Befragungen an der KZ-Gedenkstätte Dachau. Indem sie die Informations- und Bildungsangebote an den Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg darstellt und die verschiedenen Erinnerungsprojekte an die KZ-Außenlager und Zwangsarbeit reflektiert, macht sie auf die lobenswerten privaten und institutionellen Initiativen aufmerksam und ordnet sie in den Zusammenhang einer Gedenkkultur ein.

Mit der Aufnahme der Initiative „Denkstätte Weiße Rose“ an der Münchner Universität in ihren Fragenkomplex weitet sie den Blick auf Aspekte des politischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Das deutsch-polnische Bildungs- und Ausstellungsprojekt „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit“ ist Aufforderung an Hier und Heute in einem zusammenwachsenden Europa. Mit der Darstellung über „Jüdisches und nicht-jüdisches Gedenken an die Auslöschung jüdischen Lebens in Bayern“ wird die Geschichte der Juden in Bayern verdeutlicht und auf die Bemühungen verwiesen, wie eine Erinnerung an die Shoa wach gehalten werden kann, nicht zuletzt durch die (noch) Befragung von Zeitzeugen und deren Hereinnahme und Inanspruchnahme für Aufklärungs- und Menschenrechtsbildung, jetzt und in der Zukunft. In den Zeiten der allgegenwärtigen Medien und Öffentlichkeit stellt insbesondere für die Gedenkstättenpädagogik die Medienpädagogik einen wichtigen Zugang dar. Dabei bildet die „aktive Rezeption“ von Medien als Mittel der Veranschaulichung eine genau so große Rolle, wie die der eigenen Medienproduktion zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Besuchen in KZ-Gedenkstätten.

Diskussion

Weil in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt nationale Identität, europäisches Bewusstsein und internationale Verständigung für das humane Überleben der Menschheit unverzichtbar sind, führen Wege zu Einer Welt und zu einer globalen Ethik nur über die Nachschau darüber, wie wir geworden sind, wie wir sind; also über das Erinnern und die Auseinandersetzung mit Erinnerungskonflikten, wie den NS-Verbrechen. Die Gedenkstättenpädagogik, wie sie Annette Eberle vorschlägt, kann es ermöglichen, von Verdrängung und Vergessen weg- und hin zu kommen zu einer aktiven Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Die Apotheose im Auschwitzoratorium des polnischen Komponisten Krisztof Penderecki lautet: „Versuchen wir zu leben. Versuchen wir miteinander zu leben!“ (vgl. dazu: A. Rieth, Den Opfern der Gewalt / To the Victims of Tyranny, 1968, S. 30).

Fazit

So stellt die Studie ohne Zweifel wichtige Hinweise und Anregungen für alle diejenigen in der Gesellschaft bereit, die sich, pädagogisch, aufklärerisch und erzieherisch, in der Schule und in der außerschulischen Bildungsarbeit, mit „Pädagogik und Gedenkkultur“ befassen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1710 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245