Reinhard Bork, Tilman Repgen (Hrsg.): Das Kind im Recht
Rezensiert von Prof. Felix Wettstein, 01.03.2010
Reinhard Bork, Tilman Repgen (Hrsg.): Das Kind im Recht. Duncker & Humblot GmbH (Berlin) 2009. 214 Seiten. ISBN 978-3-428-12929-4. 48,00 EUR. CH: 82,50 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Schreckensmeldungen über Kindesvernachlässigungen, Kinderpornographie, Kindsentführungen, Kinderarmut waren Auslöser für eine Ringvorlesung der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg im Wintersemester 2007/2008. Daraus sind die Aufsätze entstanden, die in diesem Buch zusammengefasst vorliegen. Die Autorinnen und Autoren vertreten verschiedene rechtswissenschaftliche Disziplinen wie Rechtsgeschichte, Sozialrecht, Familienrecht, Medienrecht oder Steuerrecht. Im Fokus der neun Beiträge stehen die Schutzrechte der Kinder und Jugendlichen.
Aufbau und Inhalt
Tilman Repgen geht in seinem Beitrag „Privatrechtliche Altersgrenzen in rechtshistorischer Perspektive“ der Frage nach: Wann ist ein Mensch ein Kind? Die Antwort ist historisch keineswegs eindeutig und schon gar nicht einheitlich. Zwar ist der Rechtsstatus „minderjährig“ in der juristischen Tradition seit langem bekannt, aber das Ende wurde oft nicht mit einem bestimmten Altersjahr erreicht. Das Vormundschaftsrecht galt früher bei den Jungen bis 14, bei den Mädchen bis 12 Jahren. In der Zeit danach, der „pubertas“ bis 25 Jahre, waren junge Menschen geschäftsfähig und mündig, aber nicht volljährig. Die „väterliche Gewalt“ endete mit Begründung eines eigenen Hausstandes beziehungsweise beim Wegzug. Die Übereinstimmung zwischen Mündigkeit und Volljährigkeit ist erst jüngeren Datums und wird je nach Epoche und Staat bei 21, 20 oder 18 Jahren angesetzt.
Bettina Heiderhoff belegt in ihrem Aufsatz „Das Kind und sein rechtlicher Vater“, dass nicht die Biologie bestimmt, wer der rechtliche Vater eines Kindes ist, sondern das Gesetz. Nach der rechtlichen Vaterschaft richten sich sehr viele Entscheidungen aus, zum Beispiel Staatszugehörigkeit, elterliche Sorge, gesetzliche Vertretung, Unterhaltsansprüche, Steuerfreibeträge oder das Erbrecht. Entsprechend weitreichend ist eine nachträgliche Anfechtung dieses Status. Im Konfliktfall wird das Kindswohl hoch gewichtet. Faktisch haben aber viele Kinder zwei (oder mehr) Väter, auch aus ihrer eigenen Sicht. Hier ist die Rechtsentwicklung gefordert, um dieser sozialen Tatsache Rechnung zu tragen. Der „Sozialvater“ müsste rechtlich aufgewertet werden, insbesondere was die elterliche Sorge einerseits, die Unterhaltspflicht andererseits betrifft.
Peter Mankowski beschäftigt sich in seinem Artikel „Hol es dir und zeig es deinen Freunden“ mit Kindern und Jugendlichen als Zielgruppe der Werbung. Kinder von heute haben Geld, und wer Geld hat, wird umworben. In der Rechtssprechung Deutschlands gibt es Bestimmungen, die einen rechtlichen Rahmen setzen: Wer die geschäftliche Unerfahrenheit, Leichtgläubigkeit oder Zwangslage ausnutzt, handelt unlauter und wettbewerbswidrig. Die EU kennt seit 2005 als Rechtsgrundlage für ihre Staaten eine Lauterkeitsrichtlinie mit normativen Aufzählungen und einer Verbotsliste (black list). Deutschland hat mit der Umsetzung dieser Richtlinie verspätet und zögerlich begonnen. Schwierigkeiten macht allein schon die Begriffsbestimmung, ob nur Kinder bis 14 Jahre oder auch Jugendliche unter 18 Jahre gemeint sind. Einen grossen Interpretationsspielraum gibt es z.B. auch bei der „kommerziellen Kommunikation“, der „direkten Aufforderung zum Kauf“ sowie beim Reagieren auf neue Medien.
Quasi nahtlos schliesst das Thema „Das Kind als Schuldner“ von Reinhard Bork an. Die Verschuldung Jugendlicher ist ein Phänomen, das sich in letzter Zeit stark verschärft. Eigentlich können Minderjährige nicht von sich aus Schulden machen, da sie ohne die Zustimmung der Eltern keine rechtsgeschäftlichen Verpflichtungen eingehen dürfen. Mit der Ermächtigung durch die Eltern werden sie als beschränkt Geschäftsfähige jedoch zu Vertragspartnern, und allfällige Schulden liegen ganz bei ihnen. Junge Menschen zwischen 7 und 18 Jahren sind auch deliktsfähig, woraus sich ebenfalls eine Verschuldung ergeben kann. Es gibt rechtliche Schutzmechanismen gegen eine Überschuldung, insbesondere ist die Haftung beschränkt bzw. an die Eltern delegiert. Allerdings ist der Überschuldungsschutz nicht umfassend. Ein Gesetzesentwurf in Deutschland sieht vor, die „Restschuldbefreiung“ neu zu regeln, um völlig mittellose Personen am Anfang der Volljährigkeit zu entschulden.
Dagmar Felix beleuchtet in ihrem Beitrag „Das Kind im Sozialrecht“ das Spannungsverhältnis zwischen der Vorstellung des Kindes als Objekt staatlicher Förderung und jener des Kindes als Subjekt mit eigenen Rechten. Bei der ersten Betrachtungsweise steht im Zentrum, dass der Staat den Nachwuchs sichern will. Stichworte sind Familienlastenausgleich, Erziehungsgeld, Elterngeld, Beitragsvergünstigungen bei Versicherungen. Reformbedarf besteht vor allem dort, wo bisherige Regelungen dazu führen, dass Gutverdienende überdurchschnittlich von Zuschüssen profitieren. Das Sozialrecht gewährt Kindern aber auch eigenständige soziale Absicherungen. Unter bestimmten Bedingungen werden Sozialleistungen direkt an Kinder bezahlt bzw. so gelenkt, dass sie effektiv für den Unterhalt der Kinder aufgewendet werden. Minderjährige können auch selber Mitglied in einer Sozialversicherung sein, etwa als Auszubildende. Insgesamt zeigt dieses Kapitel, dass das Sozialrecht sehr facettenreich und einem starkem Reformdruck unterworfen ist.
„Kinder im Steuerrecht“ lautet der Essay von Arndt Schmehl. Hauptsächlich kommen Kinder im Steuerrecht als Mitglieder von Familien vor. Die Steuerpolitik soll eine wirtschaftliche Mindestbasis für ein Leben mit Kindern gewährleisten. Darum wird das Familienexistenzminimum nicht besteuert, wobei die konkrete Ausgestaltung einige knifflige Fragen bereithält. Das gilt zusätzlich für Steuerfreibeträge etwa für den Betreuungs- und Ausbildungsbedarf. Wenn Betreuungskosten dem Ziel der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf dienen sollen, müssten sie allenfalls als Erwerbsaufwendungen und nicht als Privataufwendungen verstanden werden. In seinem Fazit zeigt der Autor, dass das Einkommenssteuerrecht in Deutschland hohen Reformbedarf hat, denn es erreicht die Ziele der erhöhten Chancengleichheit schlecht und es behandelt unterschiedliche Modelle familiären Zusammenlebens nicht gleichberechtigt.
Der Beitrag "Theoretische Überlegungen zu einer Neukonzeption des Jugendmedienschutzes" von Karl-Heinz Ladeurstellt nicht so sehr eine Rechtspraxis als vielmehr eine Reflexion über die Grenzen bisheriger Vorstellung von "Jugendgefährdung" dar. Früher war klar, woran sich Jugendschutz orientiert, weil die verschiedenen gesellschaftlichen Instanzen eine geteilte Erziehungspraxis kannten. Heute fehlt die gemeinsame Normalität und Normativität. Medien sind Lückenfüller einer fragmentierten Erziehungspraxis und zugleich Mittel der Selbstsozialisation von jungen Menschen. Statt Gefahren abzuwehren, könnte Jugendmedienschutz das Ziel einer Risikokompetenz verfolgen. Medien könnten daran gemessen werden, ob sie ausreichend vielfältige entwicklungsfördernde "Skripte" für die Identitätsbildung produzieren. Die Generationengrenzen verwischen dabei zusehends.
Thomas Eger geht in seinem Artikel "Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht" von den empirischen Realitäten aus, insbesondere von den Schätzungen der International Labour Organisation ILO. Es zeigt sich, dass Kinderarbeit schwierig zu definieren ist und die verschiedenen Formen, die sich im informellen Sektor abspielen, kaum zu messen sind. Bei den extrem ausbeuterischen Formen ist weltweit ein Rückgang zu beobachten. Eng verknüpft sind aber Armut und Kinderarbeit. Angesichts der ökonomischen Realitäten stellt sich die Frage, ob ein - humanitär oder entwicklungspolitisch begründetes - Verbot von Kinderarbeit das sinnvollste Instrument ist. Alternativen sind Ansätze bei den Einkommen von Erwachsenen sowie Gewinnbeteiligungen. Eltern lassen ihre Kinder in aller Regel nur arbeiten, wenn sich der Lebensunterhalt der Familie nicht anders sichern lässt.
Im abschliessenden Beitrag "Warum ist das Recht der Kindschaft so schwierig?" begründet Gerhard Struck warum sich das Kindschaftsrecht schwieriger als andere Rechtsbereiche gestaltet. Bürgerliches Recht regelt zwei Sphären, die nach entgegengesetzten Prinzipien organisiert sind: die Sphäre von Warenproduktion und Warenzirkulation einerseits, die Sphäre von sozialer Reproduktion, Erziehung und Bildung andererseits. Zum Beispiel enthält das Kindesunterhaltsrecht den Grundsatz, dass Minderjährige in einer besonderen Weise "bedürftig" sind. Dieser Grundsatz ist dem Recht auf Produktion und Zirkulation, der Vertragsfreiheit, entgegengesetzt. Familie ist "paradox-funktional", eine Schutzzone, die den Ort für menschliche Wärme, Zuwendung, Vertrauen etc. bildet. Die Gesellschaft braucht diese Handlungsformen genauso wie Tausch, Kalkulation, Interessenvertretung. Familie ist aber faktisch bei weitem nicht immer ideal, und das "Kindeswohl" muss manchmal gegen innerfamiliäre Gewalt oder Vernachlässigung durchgesetzt werden. Der Artikel schliesst mit dem ehrlichen Eingeständnis, dass die Rechtspraxis manchmal ratlos ist.
Diskussion und Bewertung
Für Fachpersonen der Sozialwissenschaften und der Professionen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich ist die Lektüre von Fachbüchern der Rechtswissenschaft immer wieder faszinierend und gleichzeitig mit einigen Herausforderungen verbunden. Faszinierend sind die zahlreichen Perspektiven, die unterschiedlichen Blickwinkel, die schieren Möglichkeiten an Ausnahmen und Sonderfällen bei einer vordergründig so einfachen Frage wie derjenigen nach dem Vater eines Kindes. Spannend wie eine Detektivgeschichte zu verfolgen sind die Gegenüberstellungen und Abwägungen auf dem Weg zu einer besseren Ausgestaltung der Rechtsnormen, etwa im Artikel „Kinder im Steuerrecht“. Aufschlussreich und möglicherweise ernüchternd ist es festzustellen, dass sich ein rechtliches Dilemma manchmal nicht auflösen lässt.
Rechtsfragen sind oft ausgesprochen landes- bzw. nationenspezifisch. Der vorliegende Sammelband geht (ausser in den Beiträgen zu Jugendmedienschutz und Kinderarbeit) von den Rechtsnormen in Deutschland aus. Auch wenn viele Grundhaltungen, welche die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen betreffen, in demokratischen Rechtsstaaten Zustimmung finden: Die konkrete Ausgestaltung des Rechts ist von Land zu Land sehr verschieden. Besonders deutlich zeigt sich dies im Sozialrecht oder im Steuerrecht. Bereits die Nachbarländer Luxemburg, Schweiz und Österreich mit (z.T. unter anderen) Deutsch als Amtssprache kennen ganz andere Terminologien, Normen und Bestimmungen. Mehrere Kapitel des Buches müssten für jeden Staat eigens geschrieben werden.
Als internationale Richtschnur ist zweifellos die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes zu nennen, die 1989 verabschiedet und inzwischen von praktisch allen Staaten der Welt ratifiziert wurde. Überraschenderweise ist im gesamten vorliegenden Sammelband von dieser Konvention nicht die Rede. Das lässt sich möglicherweise damit erklären, dass viele Artikel der UNO-Konvention normativ-appellativen Charakter haben und dass die konkrete Ausgestaltung in den Nationen erfolgen muss. Immerhin wurde das Vertragswerk mit der Ratifizierung im jeweiligen Land rechtsverbindlich und liesse sich da oder dort zitieren.
Was die UNO-Konvention bedeutsam macht: Kinder werden nun nicht mehr nur als Objekte der Rechtsordnung betrachtet, sondern auch als Subjekte der Rechtsausübung. Frühere Deklarationen hatten allein die spezifischen Schutz- und Förderrechte für Kinder betont: In der Pflicht standen Erwachsene. Mit der Konvention ins Blickfeld gerückt sind die Partizipationsrechte der Kinder, ihr Recht auf Anhörung und Mitsprache, ihr Recht auf Versammlung und Meinungsäusserung, ihr Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben, auch als „Schaffende“ von Kultur. Die Subjektorientierung wird zwar in den Aufsätzen über das Sozialrecht und über eine Neukonzeption des Jugendmedienschutzes angesprochen. Dennoch ist es schade, dass kein eigener Artikel den Beteiligungsrechten der Kinder gewidmet ist. Der Titel des Buches, „Das Kind im Recht“, ist durchaus mehrdeutig gewählt und lässt erwarten, dass die Frage beantwortet wird: Wann ist das Kind im Recht, auch gegenüber Konkurrenzansprüchen?
Fazit
Der Sammelband umfasst neun Beiträge aus verschiedenen rechtswissenschaftlichen Disziplinen, die sich alle mit Kindesrecht beschäftigen. Die Ausführungen sind sehr sorgfältig und facettenreich; der Wissenszuwachs für Fachpersonen der Sozialwissenschaften dürfte gross sein. Im Zentrum stehen die spezifischen Schutzrechte von Kindern, mehrheitlich dargestellt an Hand von Rechtsnormen in Deutschland. Entwicklungs- und Reformbedarf werden aufgezeigt, zum Beispiel beim Sozial- und Steuerrecht oder bezüglich der Vorstellung, woran sich ein zeitgemässer Jugendmedienschutz orientieren könnte. Die Beteiligungsrechte der Kinder, eine der Errungenschaften der UNO-Kinderrechtskonvention, sind in diesem Band nicht ausgeführt.
Rezension von
Prof. Felix Wettstein
Pädagoge, Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit der FH Nordwestschweiz in Olten, Leiter des Master of Advanced Studies (MAS) Gesundheitsförderung und Prävention, Mitglied der Koordinationsgruppe des Netzwerks Gesundheitsförderung D|A|CH.
Zusätzliche Homepage www.dach-gf.net
Website
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Felix Wettstein.
Zitiervorschlag
Felix Wettstein. Rezension vom 01.03.2010 zu:
Reinhard Bork, Tilman Repgen (Hrsg.): Das Kind im Recht. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2009.
ISBN 978-3-428-12929-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7634.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.