Michael B. Buchholz, Franziska Lamott u.a.: Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern
Michael B. Buchholz, Franziska Lamott, Kathrin Mörtl: Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2008. 525 Seiten. ISBN 978-3-89806-881-9. D: 59,90 EUR, A: 61,60 EUR, CH: 101,00 sFr.
Reihe: Forschung psychosozial.
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Thema und Zielsetzung
Die Autoren begegnen der allgemeinen Angst und dem Unverständnis gegenüber (pädophilen) Sexualstraftätern und der in der Literatur qualitativ und quantitativ nur gering ausgeprägten Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Thema mit der Analyse therapeutischer Gruppensitzungen von inhaftierten Sexualstraftätern. Auf der Basis von Transkripten nutzen und erklären die Autoren zum einen die KANAMA (Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse) als sozialwissenschaftlich und psychologisch innovative Technik, klären zum anderen über den Umgang der Täter mit ihren Taten auf und erlauben weit reichende Einblicke in die Erlebens- und Erklärungswelt von paraphilen Sexualstraftätern.
Entstehungshintergrund
Die Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm wertete 90 1,5-stündige audiovisuelle Aufzeichnungen gruppentherapeutischer Sitzungen mit 16 inhaftierten überwiegend pädophilen Sexualstraftätern aber auch Exhibitionisten aus, die von zwei erfahrenen Psychologen einer Justizvollzugsanstalt geleitet wurden. Die Aufzeichnungen wurden aufmerksam transkribiert und ergaben aufschlussreiche Tat-Narrative.
Autoren
Das Autorentrio besteht aus Michael B. Buchholz, Franziska Lamott und Katrin Mörtl.
Prof. Dr. Dr. Dipl.-Psych. Michael B. Buchholz ist Sozialwissenschaftler und Psychologe. Er war Leiter der Forschungsabteilung einer psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, ist seit 1995 Professor für Sozialwissenschaften der Universität Göttingen, Mitbegründer der Sigmund-Freud-Universität (Wien) und Lehranalytiker (DGPT, DPG) und verfügt über Expertise in mehreren Psychotherapieverfahren. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze sowie zahlreiche Fach- und Sachbücher.
Die Soziologin und Sozialpsychologin Frau Prof. Dr. Franziska Lamott ist an der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der Sektion Forensische Psychotherapie tätig. Franziska Lamott sammelte mehrere Jahre Erfahrungen am Institut für Strafrecht der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie hat eine Gastprofessur zur Genderforschung in Basel inne und engagiert sich als Gleichstellungsbeauftragte an der Universität Ulm. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche Publikationen.
Frau Mag. phil. Kathrin Mörtl ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ulm tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich auf 525 Seiten in 8 Kapitel, von denen jedes wiederum in übersichtliche Abschnitte/ Unterkapitel unterteilt ist.
Nach Geleit- und Vorwort beginnen die
Autoren mit einem Kapitel über „Text und Kontext“,
nähern sich hier dem Forschungsfeld an und schildern ihre Ziele.
Zunächst findet ein kurzer Überblick über die
bestehende forensische Literatur, die Entwicklung forensischer
Begriffe in der Diagnostik und die Ätiologie vor allem aus
psychoanalytischer Perspektive statt. Darauf folgend beschreiben die
Autoren die aufgezeichneten Gruppensitzungen genauer. Sie gehen auf
Teilnahmebedingungen, Rollenwechsel und Motivdarstellungen von
Sexualstraftätern unter den speziellen Bedingungen in einer
Justizvollzugsanstalt bzw. einer soziotherapeutischen Einrichtung des
Strafvollzugs und den sich aus diesem Spannungsfeld ergebenden
Diskrepanzen ein. Auch ergeben sich in diesem Kapitel erste Hinweise
auf Erklärungsversuche von pädophilen Sexualstraftätern
für ihre Taten aus bestehender Literatur und der vorliegenden
Untersuchung.
Schließlich formulieren die
Autoren die „Ziele dieser Studie“ und nennen hier
die (Wieder-) Aufarbeitung der Biographien der Täter im Rahmen
des Kausalitätsprinzips und das Durcharbeiten der Tat/ en.
Gleichzeitig wird allerdings auch auf die kausale Begrenztheit von
biographischen Darstellungen hingewiesen, um eine „allgemeine
Theorie des Sexualstraftäters [zu] destillieren“. Generell
gilt: die Taten sind keineswegs motiviert von freier und fröhlich
enthemmter Lust (-auslebung) oder gar von „Sexualmonstern“
begangen worden, sondern von Tätern mit einem kärglichen
und verzagten Bild von Sexualität, großer Verklemmtheit
und Verschüchterung, wobei das moralische Moment der Schuld
(-frage) von den Betreffenden verleugnet und verdrängt bzw.
beständig (nach-) verleugnet wird.
Das zweite Kapitel stellt als
Methodenkapitel die „KANAMA: Konversations-, Narrations-
und Metaphernanalyse“ als qualitative Forschungsmethode der
Sozialwissenschaften und Psychoanalyse ausführlich dar, bei der
die Art und Weise der Schilderungen (beinahe) größeres
Gewicht bekommt als der Inhalt. Bei der Würdigung der hierfür
relevanten Literatur wird mehrfach auf Studien von „Baby-Watchern“
wie beispielsweise Daniel Stern und weitere Studien an Kindern
hingewiesen, die Auskunft über grundlegende und intrinsische
kommunikative Fähigkeiten geben.
Das Autorentrio
beginnt mit einem Unterkapitel über die Konversationsanalyse,
wobei zuerst auf den interaktiven Vollzug von Konversation und dann
auf die interne Kommentierung hingewiesen wird, wodurch die Analyse
verkompliziert wird, gleichzeitig aber gerade relevante Aussagen über
den Sprecher und dessen Beimessung von Bedeutung zum Gesagten
erlaubt, allerdings wiederum vom Sprecher auf den Zuhörer
zugeschnitten wird. In weiteren Unterkapiteln geben die Autoren
Auskunft über das Entschlüsseln von Abwehrmechanismen in
der Konversationsanalyse, die Fähigkeit sich selbst beim Denken
zu beobachten und eigene Motive zu konstruieren (Mentalisierung),
„Erzählung und Erzählen“, die interaktive
Verständigung über Symbolkonstruktion und -gebrauch, wie
sie bereits zwischen Mutter und (Klein-) Kind deutlich wird
(interaktiver Symbolbegriff) und den „Augenblick und die
Kinetik der Interaktion“. Hier nehmen sie erneut intensiv Bezug
auf die Studien der Bostoner Forschungsgruppe um Daniel Stern (z.B.
implizites Beziehungswissen, somethinig more, fitting together, being
sync).
Die Narrationsanalyse ist Thema des
nächsten Unterkapitels, die recht ausführlich besprochen
wird. Die Autoren verwenden u.a. den Terminus des „Mind
Reading“, dem sie ein Unterkapitel gewidmet haben, und führen
aus, wie sich ein Zuhörer Erschließungshilfen bedient und
wie intensiv sich der Sprecher bei der Darstellung von Sachverhalten,
impliziten Voraussetzungen und Erwartungen bedient („Die
meisten Menschen nehmen einfach an, dass andere die gleichen Dinge
kennen wie sie auch und dass sie diese auf die gleiche Weise
kennen.“). Dabei wird der Stellenwert des „social brain“
und des unbewussten und impliziten Erspürens betont, wobei
anschauliche Beispiele und Berichte von Forschungsergebnissen helfen.
Es wird deutlich, wie gut und schnell sich pädophile Straftäter
in das Seelenleben ihrer Opfer und von Polizei- und Vollzugsbeamten
sowie Therapeuten etc. einfühlen können und wie versiert
sie ihre Fähigkeiten in der Kontaktanbahnung zu potentiellen
Opfern zu nutzen wissen. Am Ende des Kapitels findet sich ein
Unterkapitel über „Desorganisierte Geschichten“ und
eines über „Narrative Räume“, in denen anhand
erster Aussagen von Studienteilnehmern das bislang in diesem Kapitel
Dargestellte Anwendung findet.
>Das letzte Unterkapitel stellt die
Metaphernanalyse dar, wobei Metaphern weit mehr sind als Verzierungen
der Sprache. Die Metapher reduziert und steigert gleichzeitig die
Komplexizität von Sprache. Diese Analyse ist immer eine
individuelle Analyse, die auch Auskunft über den therapeutischen
Wandel gibt. Am Ende greifen die Autoren beispielhaft auf
„idealisierte kognitive Modelle“ vor, die im Verlauf des
Buches noch näher erläutert werden. Schließlich wird
die Software zur Durchführung der Textanalyse vorgestellt,
gefolgt von einer Zusammenfassung der KANAMA-Methode.
Das nächste Kapitel, „Der
therapeutische Kontext in der Darstellung“, analysiert in
mehreren Unterkapiteln erste von den pädophilen
Sexualstraftätern angewandte Stilmittel aus den Anfängen
der therapeutischen Sitzungen. Hier geht es um die Erkämpfung
des (ersten) Rederechtes, Rangordnung sowie Sieg und Niederlage
während des Auftaktes. Hier werden kunstvolle Modi von deviantem
Konformismus („Gleiche unter Gleichen“) und der
Auszeichnung der Teilnehmer durch die Tat zur Zugehörigkeit
einer exklusiven Gruppe („Umbau von `Strafe` zu `Auszeichnung`)
als gemeinsame psychosoziale Abwehr deutlich.
„Die Schaffung der `dritten
Option`“ zeigt die Umgehung von Eindeutigkeit von schwarz vs.
weiss, schuldig vs. nicht-schuldig in der Narration der
Sexualstraftäter auf. Daraufhin werden in einem Kapitel über
„Gegengifte gegen die dritte Option“ gegensteuernde
therapeutische Mittel dargestellt. Hier wird deutlich, wie die
teilnehmenden Pädophilen nativ und unter therapeutischem Druck
in den Schilderungen ihrer Straftaten „Haken schlagen“
und sich mit verschiedenen Stilmitteln um die Entstehung von Klarheit
„herumdrücken“.
Das nächste Kapitel fokussiert
„Abwehrformen in der Gruppe“. Zunächst wird
die „`Zählt-als`-Umwandlung“ dargestellt (Vgl.
papierne Geldscheine „zählen als“ Geld), die in der
Metaphorik von den Teilnehmern häufig angewendet wird. Wie sie
sich „als“ Schicksalsgemeinschaft „zählen“,
so „zählen“ und ordnen sie auch ihre Taten „als“
bestimmte Kategorie ein, was folgenreich für den Umgang mit dem
Geschehenen ist. Hierzu zählt die Selbst-Kategorisierung der
Täter und ihrer Taten z.B. zu „Sexualstraftätern“
oder zu „sexuellem Fehlverhalten“ und decken eine
Hierarchisierung unter den Straftätern auf (generelle
„Kinderficker“ vs. inzestuöse Unzucht). Im Verlauf
des Kapitels erarbeiten die Autoren „Das ironische Spiel mit
der Kategorisierung“ und beleuchten die „Sozialen
Scanning-Fähigkeiten“ von Sexualstraftätern, die zu
erstaunlichen empathischen Leistungen in der Lage sind und daraus
schnell und mühelos die Intentionen ihres jeweiligen Gegenübers
(mitsamt des Therapeuten) ableiten können, wobei die Täter
selbst schnell die Rolle als „Gutachter“ über ihre
eigenen Taten und die anderer Teilnehmer einnehmen, somit sich
beinahe als Co-Therapeuten zu verorten suchen. Diese Rolle können
sie allerdings auf Grund der Diskrepanz zwischen eigener Tat und
erkannter Moral nicht durchhalten. Danach begibt sich das Autorentrio
auf die Suche nach „originellen“ und „passenden“
Metaphern für das Tatmotiv und Bagatellisierungen bei den an der
Studie teilnehmenden Sexualstraftätern. „So wird zum
Beispiel das Delikt zu einem `First Date`“ umgestaltet und die
darauf folgende Tat als Suche einer Lolita nach Nähe, Liebe und
adulter Sexualität dargestellt.
Aufschlussreicherweise
nehmen die Täter solcherlei Umgestaltungen im impliziten Wissen
um ihre Schuld und der Schändlichkeit ihres Handelns vor.
„Passivierungen“ sind in Schilderungen vieler
Sexualstraftäter zur Abwehr bzw. Schuldentlastung zu finden und
besagen, dass sie selbst nicht aktiv gehandelt haben, sondern das
Geschehen ihnen quasi zugestoßen ist. Auch dieser Modus der
Darstellung kann von den Tätern nicht durchgehalten werden, wie
an der Analyse der Narrative gezeigt wird.
Passivierungen werden durch „Entsubjektivierung“ im darauf folgenden Kapitel gesteigert, mit der die Täter bereits das bewusste Tatmotiv zu leugnen versuchen.
Durch die „Szenische
Umkehrung“ im nächsten Kapitel, das über einen
ausführlichen Exkurs über das Unbewusste verfügt,
transformiert sich der Sexualstraftäter über die
Passivierung und Entsubjektivierung endgültig in die Opferrolle.
Die Autoren berichten hier von einem pädophilen Busfahrer, der
über kleinere Ämter im Sportverein seine Opfer
„rekrutiert“, angeblich vom Dorfpfarrer und Bürgermeister
gedeckt wird, dadurch die Gelegenheit bekommt, weitere
Sexualstraftaten zu begehen, bei rechtzeitiger Anzeige aber von
weiteren Taten abgehalten worden wäre, wodurch er durch
angebliches „Wegschauen“ zur Kontinuierung seiner
Straftaten verleitet wird und so in die Opferrolle schlüpft.
Eine weitere Möglichkeit der Entlastung in der Narration
ist die Vergabe der Verfolgerrolle an das Opfer, das dem Täter
nachgestellt habe. Hier schildert ein Patch-Work-Vater, wie es die
Stieftochter auf sexuelle Kontakte „anlegte“. Darüber
hinaus schildert ein anderer Patch-Work-Vater, wie die Stieftochter
eine Art Komplizenschaft mit ihm eingegangen sei und die „gemeinsamen
sexuellen Erlebnisse“ der Mutter gegenüber verschwiegen
habe, ihn selbst damit gedeckt hätte und von der Justiz quasi
gegen ihren Willen gezwungen worden war, ihn zu beschuldigen.
Darüber hinaus werden im Verlauf weitere perfide Narrative
der pädophilen Sexualstraftäter dargestellt. Die
Zusammenfassung des Kapitels trägt den Titel: „Eine Liebe,
die schadet“, wenn adulte perverse – wie es in älteren
Diagnosemanualen benannt wird – sexuelle Interessen an Kindern
und Jugendlichen ausgelebt werden und schwere Schäden in ihrer
sensiblen psychosexuellen Entwicklung anrichten.
Das nächste Kapitel gibt Auskunft
über „Mikrostrukturen der Konversation“ und
beginnt mit der Darstellung konversationeller Strategien sexueller
Straftäter, ihren Erzählungen Glaubhaftigkeit zu verleihen,
wobei klar wird, dass sie sich gegenseitig in ihrer Glaubhaftigkeit
anzweifeln, was anhand zahlreicher Beispiele illustriert wird.
Darüber hinaus müssen Schilderungen von Sachverhalten nicht
unbedingt der Aufarbeitung dienen, sondern erregen mitunter pädophile
Phantasien anderer Gruppenmitglieder. Weiterhin wurden
„Konversationelle Anpassungen“ im Rahmen einer Übernahme
des Therapeutenjargons und daraus folgend eine Art Fügsamkeit
der Straftäter beobachtet. Ein weiteres beobachtbares Phänomen
ist die Identifikation der Gruppenmitglieder mit dem Opfer (oder dem
Täter), was die Erzählungen schambesetzter Inhalte anderer
Gruppenmitglieder mitunter zu erleichtern scheint. Auch leisten die
Sexualstraftäter mit der Identifikation selbst therapeutische
Arbeit, indem sie sich gegenseitig die Abscheulichkeit ihrer Taten
durch Perspektivübernahme der Opfer widerspiegeln.
Das
Kapitel wird abgeschlossen mit einem Unterkapitel über
„Initialzündung – Der Blick“. Hier wird
darüber informiert, wie bereits die Sichtweise („wie
er das Mädchen angeschaut hat“) auf ein potentielles Opfer
determinierende Funktion auf die spätere Tat haben kann.
Das vorletzte Kapitel gibt Auskunft über „Die Rolle der Metapher in der Konversation“ und zeigt zunächst die Anwendung von passenden und „schrägen“, sowie „kreativen“ nicht-passenden Metaphern, die an Beispielen illustriert werden. Generell scheint das Stilmittel der Metaphorik im therapeutischen Prozess zunehmend von den Gruppenteilnehmern Verwendung zu finden. Das nächste Unterkapitel beschäftigt sich dann mit „Metaphorischen Biographiekonstruktionen“, in denen die Gruppenteilnehmer Erklärungsansätze für ihre Taten in ihrer Biographie suchen. Schließlich wird das Augenmerk auf „Die Übertragung biographischer Erzählformate“ (Tragödie, Komödie, etc.) gelegt und dargestellt, wie und welche Formate die Gruppenteilnehmer für ihre Taten heranziehen. Dabei konnten die Autoren vier typische Typen von Erzählungsmodi herauskristallisieren: die Krankengeschichte, der Entwicklungsroman, die Vita Sexualis und das Familiendrama, die von den Straftätern erklärend für ihr Verhalten bzw. zur Schuldentlastung herangezogen werden. Hier erscheinen Narrative von Interesse an Photographie, uro-genitalen Insuffizienzen und Operationen, Übermacht von Frauen am Arbeitsplatz, „Schwäche“ in der Frühkindheit, nicht erfüllter elterlicher Erwartungen, früher Kontakt mit Pornographie etc.
Das letzte Kapitel dreht sich um „Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen“ und fragt nach dem männlichen Selbstbild der pädophilen Sexualstraftäter und der Beziehung zum Weiblichkeitsbild. Das stählerne Männlichkeitsideal steht dabei dem empfindsamen weiblichen Bild gegenüber, wobei das Nicht-Erfüllen des männlichen Ideals erneut zu Hierarchisierung und zu Stigmatisierung auch unter den Gruppenmitgliedern führt, wie es sich in deren Interaktion deutlich zeigt. Diese idealisierten kognitiven Modelle enthalten nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Aspekte. Darüber hinaus untersuchen die Autoren im ersten Unterkapitel „Idealisierte Gender-Konfigurationen“ und stellen dar, wie Männlichkeit durch deviante Sexualpräferenz unter Druck gerät und welche Formen beschädigter Männlichkeit in den Narrativen zu finden sind. Verknüpft werden die analysierten Gender-Vorstellungen der Gruppenteilnehmer mit deren Erfahrungen der Vater- und Mutterrolle. Dies wird in Bezug zu den begangenen Straftaten gesetzt, wobei sich die unterschiedlichen Gender-Vorstellungen der pädophilen Straftäter zeigen: von der männlichen Dominanz des verständnisvollen Mannes als Retter der Frau über den selbstbezogenen, sexuell-aggressiven Mann, den verführten, unschuldigen Mann bis hin zur mütterlich-weiblichen Dominanz der Frau und dem Ausgeliefertsein des beschämten Mannes und der Impotenz des Mannes.
Nach einer Zusammenfassung dieses Kapitels werfen die Autoren einen „Rückblick auf eine lange Strecke“ und runden ihr Werk mit Literaturangaben und Kurzbiographien der Gruppenteilnehmer ab.
Zielgruppe
Das Buch zielt zum einen auf eine Klientel ab, die sich beruflich mit pädophilen Sexualstraftätern beschäftigt und zum anderen auf diejenigen, die an einer psychologisch und sozialwissenschaftlich innovativen qualitativen Forschungsmethodik (Konversations-, Narrations-, Metaphern-Analyse, KANAMA) und deren Anwendung interessiert ist.
Fazit
Michael B. Buchholz, Franziska Lamott und Kathrin Mörtl berichten in ihrem Buch nicht nur über „Tat-Sachen“ im Zusammenhang mit inhaftierten (pädophilen) Sexualstraftätern, sondern stellen enorm theoriefundiert und kenntnisreich aufschlussreiche Hintergründe, Motive, Erklärungen, Abwehrmechanismen, den Umgang mit dem Geschehenen, Effekte therapeutischer Interventionen, etc. dar. Die Autoren schildern daran theoriefundiert und kenntnisreich eine innovative sozialwissenschaftlich und psychologisch qualitative Analysemethode (Konversations-, Narrations-, Metaphern-Analyse, KANAMA).
Aus der Boulevardpresse bekannte „reißerisch-skandalisierende“ Inhalte über Sexualstraftäter erfährt der Leser nicht, sondern er gewinnt an Tiefe in dieser schwierigen Thematik und zudem an Erkenntnis in qualitativer Forschungsmethodik.
Rezension von
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke
M.A.
Professur für Medizin in Sozialer Arbeit, Bildung und Erziehung.
Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim
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Zitiervorschlag
Andreas G. Franke. Rezension vom 03.10.2009 zu: Michael B. Buchholz, Franziska Lamott, Kathrin Mörtl: Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2008. ISBN 978-3-89806-881-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7649.php, Datum des Zugriffs 24.01.2021.
Urheberrecht
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