Tony Wagner: The Global Achievement Gap
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 25.06.2009
Tony Wagner: The Global Achievement Gap. Why Even Our Best Schools Dont Teach the New Survival Skills Our Children Need - and What We Can Do About it.
Basic Books Perseus Running Press
(London, EC4Y 0HP, UK) 2008.
320 Seiten.
ISBN 978-0-465-00229-0.
Preis: 26.95 Dollar (Listenpreis)
Preis: 15.99 Pound (Listenpreis) .
Thema
In der aktuellen Bildungsdiskussion gehört die Kompetenzorientierung zu einer der prominentesten Konzeptionen. Angestoßen durch die regelmäßigen internationalen PISA-Überprüfungen, hat sie sich auch in der schulischen Arbeit niedergeschlagen. Die Orientierung an Kompetenzen meint kurz gesagt die Abkehr vom memorierend-rekapitulierenden Lernen hin zur aktiven Auseinandersetzung mit Fragestellungen. Dies passt einerseits zum Lebensgefühl der Informationsgesellschaft, wo Wissen in vielen Bereichen sowieso nur eine beschränkte Haltbarkeit besitzt. Welche Kompetenzen aber sind für das 21. Jahrhundert im Zeichen der Globalisierung essentiell? Und wie können sie in der Schule vermittelt werden? Sind sie überhaupt im Horizont der Bildungspolitik? Dies sind Fragen, denen Tony Wagner für das amerikanische Schulsystem nachgeht - deren Beantwortung allerdings auch ein Schlaglicht auf die Bildungspolitik hierzulande wirft.
Autor
Tony Wagner blickt auf über fünfunddreißig Jahre Erfahrung auf dem Gebiet der Schulentwicklung zurück: mit zwölf Jahren Berufserfahrung als Lehrer an einer Highschool, als Schulleiter, ebenso wie als Universitätsprofessor der Erziehungswissenschaft und zurzeit als Co-Direktor der „Change Leadership Group“ an der Harvard Universität. Über dieses Projekt bleibt er verbunden mit der Bill & Melinda Gates Stiftung, in deren Stiftungsrat er zwischen 1999 und 2008 mitgewirkt hat. Wagner ist darüber hinaus Berater für Schulentwicklung (www.schoolchange.org) und hat zahlreiche Artikel sowie vier Bücher zu den Themen Bildung und Bildungsmanagement verfasst - darunter auch prägnante Titel wie: „Change Leadership: A Practical Guide to Transforming Our Schools“.
Aufbau
Wagner entfaltet sein Thema in sechs Kapiteln, die durch eine ausführliche Schlussfolgerung ergänzt werden.
1. „The New World of Work and the Seven Survival Skills“
Nach dem Vorwort und der Einleitung, wo die Struktur des Buches ausführlich dargelegt wird, bringt das erste Kapitel bereits einen wesentlichen Baustein: Hier beschreibt der Autor seine zufälligen Begegnungen mit leitenden Angestellten führender amerikanischer Unternehmen. Im Zentrum dieser unkonventionellen Gespräche, meist auf Inlandsflügen, stand die Frage, welche Kompetenz in der Arbeitswelt am wichtigsten sei. Die Antworten in dieser ‚informellen Studie‘ überraschen: Es sind nicht die schulischen Kompetenzen, gemessen an Abschlussnoten. Vielmehr heißt es auf Seiten der Gesprächspartner: „First and foremost, I look for someone who asks good questions“ (Seite 2). Aufgrund zahlreicher ähnlicher Gespräche und vieler Unterrichtshospitationen leitet der Autor sieben grundlegende Kompetenzen, so genannte "survival skills", ab:
- Kritisches Denken und Problemlösen
- zusammenarbeiten in Netzwerken und führen durch Einflussnahme
- Flexibilität und Anpassungsfähigkeit
- Initiative und Unternehmertum
- effektive mündliche und schriftliche Kommunikation
- Informationen beschaffen und auswerten
- Neugierde und Vorstellungskraft
Diese Kompetenzen können dazu beitragen, die "achievement gap" zu vermindern. Genau genommen spricht Wagner von zwei "Klüften": einer nationalen, zwischen der Mittel-/Oberschicht und den sozial benachteiligten Gruppen, und einer internationalen, wenn es um Wettbewerbsfähigkeit und Anschlussfähigkeit der amerikanischen Industrie an die globalisierten Märkte geht.
2. „The Old World of School“
Kapitel zwei bietet zu den innovativen „survival skills“ ein Kontrastprogramm: Wagner illustriert anhand von Unterrichtsbeobachtungen, die er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeiten gewinnen konnte, dass selbst die amerikanischen Vorzeigeschulen („high performing schools“) nicht in der Lage sind, diese Schlüsselkompetenzen in Ansätzen zu vermitteln. Vielmehr gelte es, Wissen zu memorieren - zu einem einzigen Zweck: „Increasingly, there is only one curriculum in American public schools today: test-prep“ (Seite 71). Die starke Ausrichtung des Schulsystems auf Tests ist in Wagners Augen ein sehr ernstzunehmendes Problem und Paradoxon zugleich: Wurden Tests eigentlich als Evaluationsinstrumente entwickelt, führen sie als heimliches Curriculum nun dazu, dass amerikanische Schüler unangemessen auf das Leben und die Arbeitswelt vorbereitet werden.
3. „Testing, 1 2 3“
Wie solche Tests aussehen, die für die Bildungskarrieren von jungen Amerikaner/innen und deren übergeordnetes Bildungssystem so bedeutsam sind, illustriert Wagner im dritten Kapitel: Zunächst werden hier reichlich Beispielaufgaben zum Ausprobieren gegeben. Der Autor stellt die Eignung memorierend-rekapitulierender Test infrage, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Vielmehr müsse akademisches Wissen dazu beitragen, Kompetenzen zu entwickeln und dürfe nicht zum Selbstzweck werden. Im Umkehrschluss sage das Testergebnis kaum etwas darüber aus, ob Schulabgänger/innen angemessen auf die Zeit nach der Schule vorbereitet sind und werde mit versteckten Kosten: mangelnder Motivation für das Lernen, erkauft. Ehrlicherweise nennt Wagner aber auch die Ausnahmen, wo Schulbehörden vom gängigen Muster abweichen und intelligente Wege der Leistungsmessung erproben.
4. „Reinventing the Education Profession“
Der Ausweg aus der geschilderten Misere des amerikanischen Bildungswesens liegt für den Autor in der Reform der Lehrerausbildung: „Reinventing the Education Profession“ bedeutet für Wagner: Schulleitung und Lehrkräfte verbessern gemeinsam die schulische Qualität durch effektive Unterrichtsevaluation, durch Netzwerkarbeit („communities of practice“, Seite 160). Anstelle blind auf Hochschulabschlüsse zu vertrauen, müsse es in der Lehrerausbildung darum gehen, die geeigneten Personen auszuwählen und sie mit den Kompetenzen auszustatten, die für die professionelle Kooperation und die Vermittlung von „survival skills“ effektiv sind.
5. „Motivating Today‘s Students – and Tomorrow‘s Workers“
Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Lernverhalten der so genannten „Net-Generation“, die stark durch die modernen Medien und das Internet geprägt ist. Wagner identifiziert eine „continuous partial attention“, beständiges Multitasking, multimedial vermitteltes Lernen, soziale Interaktion, entdeckendes Lernen und „Learning by creating“ als wesentliche Charakteristika für das Lernen im 21. Jahrhundert. Darüber hinaus stellt der Autor anhand zweier Fallbeispiele dar, dass die nationale „achievement gap“ sich auch an konkreten Lernbiografien festmachen lässt, und zwar solchen, die aufgrund ihrer Herkunft als „overmanaged for success“ gelten und anderen, die eigentlich wenig Hoffnung auf sozialen Aufstieg durch Schulbildung haben.
6. „Closing the Gap: Schools that work“
Und es gibt sie doch: Im sechsten Kapitel gewährt Wagner Einblick in die Arbeit von drei außergewöhnlichen Schulen: Schulen, die mit intelligenten, alternativen Methoden und wenig Testfokussierung dem Wagnerschen Ideal der sieben „survival skills“ recht nahe kommen. Der Autor stellt diese Bildungseinrichtungen im Querschnitt dar und lässt Schüler, Lehrkräfte und Schulleitungen zu Wort kommen.
7. „Conclusion. A Few Answers – and More Questions“
Im letzten Kapitel fasst Wagner noch einmal die neuen Herausforderungen zusammen, die sich für Schule angesichts einer globalisierten Wissensgesellschaft und Ökonomie stellen und hebt die Punkte heraus, die für erfolgreiche Schulen wichtig erscheinen: Kompetenzorientierung, Schülermotivation, Verantwortung und Qualitätsmaßstäbe für schulische Arbeit. Abschließend geht der Autor auf Fragen zu seinen Thesen ein und entwirft eine Vision von Schule in der Zukunft.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich in erster Linie an Personen, die an der aktuellen Entwicklung des amerikanischen Bildungswesens interessiert sind. Aber auch auf deutsche Verhältnisse dürfte das Buch eine interessante Perspektive werfen, sodass es durchaus auch hierzulande für Mitglieder der Bildungsadministration, Erziehungswissenschaftler/innen, Lehrkräfte und weitläufiger Interessierte zu empfehlen ist.
Diskussion
Angesichts der Tatsache, dass es beim Thema des Buches um nichts Geringeres als die nationale Bildungspolitik geht, lässt einen die Lektüre trotz inspirierender Impulse zunächst etwas ratlos zurück. Zu groß scheinen die Fülle an Details und die Aufgabe, um hier als einzelne/r Wirkung entfalten zu können.
Doch geht es Wagner zunächst darum, hinzuschauen, die richtigen Fragen zu stellen und Überkommenes zu überdenken. Es gelingt dem Autor dabei, die Problemstellungen immer wieder anhand von Fallbeispielen deutlich werden zu lassen, die Wagner aus seiner langjährigen Berufserfahrung schöpft.
Was die Kompetenzorientierung anbetrifft, die das Buch für mich auch als Nicht-Amerikaner sehr interessant macht, so ist diese im Zuge des PISA-Schocks auch hierzulande kein Novum mehr. Und vieles, was Wagner über „schools that work“ schreibt, dürfte deutschen Lehrkräften bekannt vorkommen: Entweder, weil sie es selbst in ihrer Arbeit täglich erleben (methodische Vielfalt, Schülerorientierung, entdeckendes Lernen usw.) oder es aus der aktuellen Bildungsdiskussion kennen.
Allerdings lässt sich der ökonomische Hintergrund der Wagnerschen Kompetenzmodells nicht verleugnen. Schließlich geht es bei der "global achievement gap" um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt. Zweitens fragt der Autor ja nur Vertreter/innen der amerikanischen Wirtschaft nach ihren Ansichten über Kompetenzen. So wenig Bildung als wirtschaftlich relevanter Standortfaktor zu missachten ist, so wenig genügt es – zumindest aus Sicht der Pädagogik im "Alten Europa" – diese auf wirtschaftlich kapitalisierbare Effekte hin auszurichten. Ein derartiger Ansatz mag die deutsche Tradition mit ihrem doppelbödigen Bildungsbegriff ganz besonders herausfordern. Wie steht es im Buch etwa um die Kompetenz, Werte und Sinnrichtungen für das eigene Leben zu reflektieren? Diese exemplarische Frage mag andeuten, dass sieben Kompetenzen trotz einer griffigen Systematik nur eine erste Diskussionsgrundlage, eher im Sinne von weiter auszuformulierenden "Meta-Kompetenzen", sein können.
Aufschlussreich bleibt für mich in jedem Fall, welch paradoxe Wirkungen Tests auf das Bildungswesen haben können: Als Evaluationsinstrument schulischer Qualität konzipiert, werden sie zum eigentlichen Bildungsziel, wie Wagner skizziert. Nun möchte ich keineswegs unterstellen, dass mannigfache Vergleichsarbeiten, PISA-Tests und Zentralabitur auch in Deutschland zu einem „teaching to the test“-Effekt führen werden. Paradoxe Effekte sollten beim Einsatz zentraler Leistungsmessungen und Evaluationsinstrumente jedoch stets im Auge behalten werden. Dies lässt sich aus Wagners Buch lernen.
Fazit
Mit seinem Buch über die sieben "survival skills" hat Tony Wagner ein anschauliches Panorama der test-orientierten amerikanischen Schullandschaft und Bildungspolitik gezeichnet. Es ist zugleich die engagierte Bildungskonzeption für das 21. Jahrhundert, wo schulische Kompetenzorientierung die Teilhabe an der globalisierten Gesellschaft und die Wettbewerbsfähigkeit sichern hilft.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 25.06.2009 zu:
Tony Wagner: The Global Achievement Gap. Why Even Our Best Schools Dont Teach the New Survival Skills Our Children Need - and What We Can Do About it. Basic Books Perseus Running Press
(London, EC4Y 0HP, UK) 2008.
ISBN 978-0-465-00229-0.
Preis: 26.95 Dollar (Listenpreis)
Preis: 15.99 Pound (Listenpreis) .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7661.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.
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