Agnes Trattner: Piercing, Tattoo und Schönheitsoperationen
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 23.05.2009
Agnes Trattner: Piercing, Tattoo und Schönheitsoperationen. Jugendliche Protesthaltung oder psychopathologische Auffälligkeit?
Peter Lang Verlag
(Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2008.
156 Seiten.
ISBN 978-3-631-57666-3.
34,00 EUR.
Reihe: Erziehung in Wissenschaft und Praxis - Band 3.
Thema
Es geht der Autorin darum, „das Erleben von Körperlichkeit adoleszenter Mädchen wissenschaftlich zu reflektieren sowie Datenmaterial zur spezifischen Form der Körperthematisierung Piercing zu liefern“ (S. 96).
Autorin
Trattner hat ein Pädagogikstudium (mit den Schwerpunkten Erwachsenenbildung und Sozialpädagogik) an der Universität Graz mit dem Titel Mag. phil. abgeschlossen.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch ist aus Trattners Examensarbeit hervorgegangen, für die sie im Jahr 2007 einen Innovationspreis in ihrem Bundesland (Steiermark) erhielt: für eine herausragende gesellschaftspolitische Arbeit.
Aufbau
Der Text gliedert sich in fünf theoretische Kapitel (S. 13–95), auf die als sechstes Kapitel die Darstellung und Auswertung der empirischen Erhebung folgt, die knapp halb so umfangreich ausfällt (S. 96–132). Ein zweiseitiges Fazit schließt an, bevor – nach Literatur- und Abbildungsverzeichnis – in einem Anhang (S. 143–156) statistische Auswertungen und der Fragebogen abgedruckt sind.
Inhalte
Trattner beginnt mit einem Problemaufriss, in dessen Anschluss sie die Adoleszenz im Hinblick auf das Körpererleben in ihrer Ambivalenz darstellt: als Krise und als Chance. Einen Schwerpunkt legt Trattner dabei auf die weibliche Identitätsbildung. Der folgende theoretische Aspekt gilt der Selbstinszenierung, deren genereller Bedeutung in der Adoleszenz und dem Körper als Medium. Sodann nimmt Trattner unter dem Körperbezug das soziale Umfeld in den Blick: die Relevanz von Familie, Gleichaltrigen, Schule, von gesellschaftlichen und kulturellen Mustern. Das letzte theoretische Kapitel gilt dem Piercing – und es zeigt sich spätestens hier, dass die Titelstichwörter Tattoo und Schönheitsoperationen im Buch nur am Rande vorkommen.
Das Thema Piercing stellt Trattner in der Vielheit möglicher Motive dar: als Bedürfnis nach Verschönerung, als Modetrend, als Ausdruck von Widerstand oder als Verletzung. Über allem steht die Frage, ob Piercing als ein Ausdruck des Selbst gelten kann. Trattner referiert hierzu vorliegende Erkenntnisse und fasst statistische Ergebnisse anderer Untersuchungen zusammen, was die Verbreitung von Piercings betrifft.
In der eigenen Befragung geht es nicht nur um das Piercing an sich, sondern auch um Einstellungen der Mädchen und jungen Frauen zu ihrem Körper, zum eigenen Erscheinungsbild, zum Frauenbild, das durch Medien vermittelt wird. Und weitere Fragen zielen auf einschlägige Bezüge aus Familie, Freundeskreis und Schule. Die Daten hat Trattner mittels einer standardisierten schriftlichen Befragung erhoben. Es haben sich 42 Mädchen und junge Frauen im Alter von 13 bis 21 Jahren daran beteiligt, die mindestens ein Piercing tragen. Nach einem Schneeballverfahren wurde der Großteil der Stichprobe gebildet – dabei waren Trattners „Studienkolleginnen, Bekannte, Freundinnen und Verwandte behilflich“ (S. 98).
Die Ergebnisse werden zunächst durch deskriptive Statistiken dargestellt, dann durch die Prüfung von Hypothesen, die aus den theoretischen Kapiteln abgeleitet sind. Diese Hypothesen beziehen sich auf mögliche Zusammenhänge, und zwar der Bewertung des eigenen Körpererlebens sowie der Motive für Piercing mit den anderen Themenkreisen des Fragebogens. Insgesamt kann Trattner die Ergebnisse anderer Untersuchungen bestätigen. Danach lassen sich die meisten Mädchen aus ästhetischen Gründen piercen und wollen auch nicht durch gezielte Auffälligkeit provozieren oder Konflikte austragen. Psychopathologische Hintergründe stellen einen Grenzfall dar. Piercings aus ästhetischen Gründen könnten dennoch das Selbstbild heben.
Diskussion
Der Titel des Buches lässt ein dreigeteiltes thematisches Gleichgewicht erwarten (Piercing, Tattoo, Schönheitsoperationen), das der Text nicht einlöst. Auch der ein wenig reißerisch anmutende Untertitel führt etwas in die Irre, weil die empirische Antwort heißt: Keines von beiden – weder Protesthaltung noch Psychopathologie, sondern ästhetische Motive herrschen vor. (Der ursprüngliche Titel der Arbeit war: „Der Körper als Medium der Selbstinszenierung – Pädagogisch relevante Einflüsse auf das Erleben von Körperlichkeit in der Adoleszenz“, S. 148.)
Die theoretischen Kapitel behandeln Körperlichkeit unter Berücksichtigung eines breiten Spektrums an Bedingungen. Dadurch wirken sie der Gefahr entgegen, Körpermodifikationen nur als Erscheinungsbilder, die als Phänomene für sich stehen, zu betrachten. Die Autorin referiert solide und gut verständlich einschlägige Literatur und macht ein theoretisches Beziehungsnetz deutlich.
Ein Handicap ist, dass die Stichprobe der Untersuchung willkürlich entstand – sie stammt im Endeffekt überwiegend aus dem erweiterten sozialen Umfeld der Autorin. Deshalb lassen sich die beschreibenden Ergebnisse nicht verallgemeinern, und auch das Testen von Hypothesen ist nur bedingt sinnvoll. Eine Schwäche des Fragebogens ist, dass er bei der scheinbar am häufigsten gepiercten Stelle, dem Ohr, nicht zwischen Piercing und dem herkömmlichen Stechen von Ohrringen unterscheidet.
Fazit
Wer mit dem Thema Körperlichkeit und Körpermodifikationen in der weiblichen Adoleszenz bereits vertraut ist, wird im vorliegenden Band viel Bekanntes wiedererkennen. Dagegen findet, wer sich in das Thema einlesen will, hier eine gut geschriebene, der Komplexität des Themas angemessene Zusammenschau. Die Resultate von Trattners empirischer Studie bieten keine Überraschungen und wirken daher eher veranschaulichend. Wer die Ergebnisse der empirischen Hypothesenprüfung nachvollziehen will, braucht Grundkenntnisse in Statistik.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website
Es gibt 53 Rezensionen von Christian Beck.
Zitiervorschlag
Christian Beck. Rezension vom 23.05.2009 zu:
Agnes Trattner: Piercing, Tattoo und Schönheitsoperationen. Jugendliche Protesthaltung oder psychopathologische Auffälligkeit? Peter Lang Verlag
(Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2008.
ISBN 978-3-631-57666-3.
Reihe: Erziehung in Wissenschaft und Praxis - Band 3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7665.php, Datum des Zugriffs 28.09.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.