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Stiftung für die Rechte Zukünftiger Generationen (Hrsg.): Wahlrecht ohne Altersgrenze?

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 15.06.2009

Cover  Stiftung für die Rechte Zukünftiger Generationen (Hrsg.): Wahlrecht ohne Altersgrenze? ISBN 978-3-86581-098-4

Stiftung für die Rechte Zukünftiger Generationen (Hrsg.): Wahlrecht ohne Altersgrenze? Verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und entwicklungspsychologische Aspekte. oekom Verlag (München) 2008. 397 Seiten. ISBN 978-3-86581-098-4. 39,90 EUR.

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Thema

Heute gehört es zum guten politischen Ton, Kinder als Bürgerinnen und Bürger zu titulieren. Sie sollen von Erwachsenen als Partner ernst genommen werden, ihre Stimme soll Beachtung finden und sie sollen an allen Entscheidungen, die sie betreffen, mitwirken können. Im „Nationalen Aktionsplan“ der Bundesregierung Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010 wird dies z.B. so ausgedrückt: „Gesellschaft und Politik müssen miteinander umdenken: Erforderlich ist eine offenere Grundhaltung gegenüber Kindern und Jugendlichen. Wir müssen ihre Beteiligungsrechte als selbstverständlichen Bestandteil der demokratischen Kultur unserer Gesellschaft akzeptieren, und das muss in der Praxis kon­kret sicht­­­bar werden: mit entsprechenden Strukturen und mit einer neuen Austarierung von Machtverhältnissen zwischen den Generationen.“

Zu den grundlegenden Beteiligungsrechten einer Demokratie gehört das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Solange es Kindern vorenthalten wird, lässt sich schwer vorstellen, wie die Machtverhältnisse zwischen den Generationen austariert werden sollen. Es lässt sich kaum eine von Parlamenten und Regierungen zu treffende Entscheidung denken, die Kinder nicht betrifft. Denn das Interesse der Kinder bezieht sich nicht nur auf ihr gegenwärtiges, sondern auch auf ihr künftiges Leben. Um Kinder geht es nicht nur in der Kinder-, Familien- oder Bildungspolitik, sondern in allen Politikbereichen, die die Rahmen- und Existenzbedingungen menschlichen Lebens festlegen. Wie lässt sich rechtfertigen, dass Kinder daran nicht mitwirken dürfen?

Seit mehreren Jahren wird jedenfalls von Kinderrechtsgruppen, Jugendverbänden und Kinder- und Jugendhilfeorganisationen, von Wissenschaftler/innen und manchen Politiker/innen gefordert, das allgemeine Wahlrecht nicht länger auf Erwachsene zu begrenzen. Manche schlagen vor, das Wahlalter um einige Jahre zu senken, andere wollen Eltern für ihre Kinder zusätzliche Stimmen geben, und wiederum andere wollen die Kinder selbst entscheiden lassen, ab welchem Alter sie sich an Wahlen beteiligen wollen. Als erstes EU-Land hat Österreich 2007 das Wahlalter immerhin auf 16 Jahre gesenkt. Auch in einigen deutschen Bundesländern dürfen inzwischen bereits 16-Jährige wählen, allerdings nur bei Kommunalwahlen. Ein weitergehendes Wahlrecht von Kindern konnte bisher nicht durchgesetzt werden.

Inhalt

Die Autorinnen und Autoren des hier zu besprechenden Sammelbandes eint die Überzeugung, dass der Ausschluss von Kindern und Jugendlichen von der Wahl eine ausreichende Berücksichtigung ihrer Interessen und Ideen in der Politik verhindert. Sie machen eine Fülle von Vorschlägen, wie dies zu ändern sei. Manche davon werden seit Jahren diskutiert, andere sind neu. Der Band, der aus einem Preisausschreiben und einer Tagung der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen hervorgegangen ist, bietet aber nicht nur ein Panorama verschiedener Ideen und Vorschläge, sondern beleuchtet diese auch aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven und macht sie damit besser verständlich und ggf. kritisierbar. Verfassungsrechtliche Argumente finden sich ebenso wie entwicklungspsychologische sowie sozial-, politik- und erziehungswissenschaftliche, die teilweise auf empirischen Untersuchungen über das Politikverständnis und Engagement von Kindern und Jugendlichen basieren.

Der Band wird mit dem preisgekrönten Text eines Jurastudenten eröffnet („Wer wählt, der zählt“), in dem die Festlegung eines Mindestwahlalters als Verletzung der Menschenwürde bewertet und bisher vorliegende Modelle für die direkte oder indirekte Wahlbeteiligung von Kindern kritisch gewürdigt werden. Es folgt ein konkretes Gedankenexperiment, wie die beharrlichen Widerstände gegen ein Wahlrecht der Kinder ohne Altersbegrenzung überwunden werden könnten. In einem anschließenden historischen Abriss der „Demokratisierung des Wahlrechts“ in Deutschland wird erkennbar, wie weitgehend die Regelungen des Wahlrechts und somit auch die Berechtigung von Kindern offen für politische Gestaltung sind. Es folgen Untersuchungsberichte über das „politische Interesse“ und die politischen Orientierungen junger Menschen verschiedenen Alters. Zwei entwicklungspsychologisch orientierte Beiträge befassen sich mit den wachsenden Kompetenzen zur politischen Partizipation und der Ausprägung des Wahlwillens. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wird in drei weiteren Beiträgen die Zulässigkeit eines elterlichen Stellvertreterwahlrechts geprüft und befürwortet. In einem anderen Beitrag wird als Alternative zum Wahlrecht von Kindern eine Änderung der Verfassung vorgeschlagen, die verhindern soll, dass politische Entscheidungen zu Lasten künftiger Generationen getroffen werden. Zwei pädagogisch konzipierte Beiträge betonen die Notwendigkeit, das Kinderwahlrecht durch eine partnerschaftliche Kommunikation in der Familie zu ergänzen, und zeigen, wie das Wahlrecht der Kinder selbst zum „intergenerativen“ Dialog beitragen könnte.

Der Band wird abgeschlossen mit einem Plädoyer der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen für ein persönlich ausgeübtes Kinderwahlrecht. Es sieht vor, dass Kinder das ihnen persönlich zustehende Grundrecht ab einem von ihnen selbst zu bestimmenden Zeitpunkt selbst in Anspruch nehmen können. Vor dem 16. Lebensjahr soll dies für jede anstehende Wahl auf Antrag geschehen, ab dem 16. Lebensjahr automatisch.

Diskussion

Der Sammelband hat einen weitgesteckten Anspruch. Es will nicht nur informieren und zum Nachdenken anregen, sondern auch eine „Initialzündung“ für gesellschaftspolitische Prozesse sein. Es soll gleichermaßen dazu beitragen, die Demokratie weiterzuentwickeln, Kindern und Jugendlichen mehr politisches Gewicht zu verschaffen und damit möglicherweise auch mehr Generationengerechtigkeit zu erreichen.

Dabei stellt sich die Frage, was von wissenschaftlichen Argumentationen zu erwarten ist und welches Gewicht sie in der politischen Auseinandersetzung erlangen können. Sie sind gewiss hilfreich, um den lange praktizierten Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen (z.B. früher der Besitzlosen oder der Frauen und nun auch der Kinder) zu delegitimieren, aber mit ihnen kann nicht „bewiesen“ oder gar „entschieden“ werden, ab welchem Alter Kinder wählen können oder ob sie von ihren Eltern zu vertreten sind. Wenn das Wahlrecht als ein Grundrecht verstanden wird, helfen noch so differenzierte entwicklungspsychologische Studien über die verschiedenen Dimensionen und Grade der Kompetenz von Kindern nicht weiter. Ebenso wenig wie Studien, die das geringe und sogar geringer werdende Interesse von jungen Menschen an der „etablierten“ Politik belegen, ein Argument sein können, um Kindern das Wahlrecht vorzuenthalten, greift es zu kurz, das Wahlrecht von Kindern damit zu begründen, dass damit das politische Interesse von Kindern gesteigert werden kann. Und um ein Wahlrecht von Kindern letztlich durchzusetzen, bedarf es einer breiteren generationsübergreifenden politischen Bewegung, in der Kinder und Jugendliche selbst die treibenden Kräfte sind.

Welche Variante des Kinderwahlrechts auch immer bevorzugt wird, Wahlen ergeben nur so viel Sinn, wie sie tatsächlich Einfluss auf die Gestaltung des Gemeinwesens mit sich bringen. Sie müssen einhergehen mit anderen Partizipationsformen, die es den Menschen gestatten, sich gegen Machtmissbrauch zu wehren und für eine in ihrem Sinne gerechtere Gesellschaft einzutreten. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Wahlrecht von Kindern auch ein Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft sein.

Fazit

Ein sehr informatives Buch, das bekannt macht mit verschiedenen möglichen Argumenten gegen den Ausschluss von Kindern vom Wahlrecht, den Blick schärft für die Vor- und Nachteile verschiedener Alternativen und am Ende Position bezieht für ein Wahlrecht ohne Altersgrenze in den Händen der Kinder.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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ISSN 2190-9245