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Frank Lasogga, Eva Münker-Kramer: Psychosoziale Notfallhilfe

Rezensiert von Dipl.-Theol., Dipl.-Soz.Arb. Kai Herberhold, 05.12.2009

Cover Frank Lasogga, Eva Münker-Kramer: Psychosoziale Notfallhilfe ISBN 978-3-938179-58-1

Frank Lasogga, Eva Münker-Kramer: Psychosoziale Notfallhilfe. Stumpf + Kossendey Verlagsgesellschaft (Edewecht) 2009. 258 Seiten. ISBN 978-3-938179-58-1. 16,90 EUR.
Reihe: Praxiswissen.

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Thema und Entstehungshintergrund

Die beiden Autoren des Buches – Frank Lasogga und Eva Münker-Kramer – sind seit vielen Jahren sowohl in der Forschung wie auch in der Praxis der Psychosozialen Notfallversorgung in Deutschland und Österreich tätig. Es liegt ihnen daran, in diesem Buch Gemeinsamkeiten von Notfallseelsorge und Kriseninterventionsteams aufzuzeigen. Die Autoren bemängeln (m. A. zu Recht), dass „bisher sowohl ein Gesamtkonzept der psychosoziale Notfall Hilfe als auch eine einerseits pragmatische und andererseits wissenschaftlich fundierte Beschreibung“ (1) der Tätigkeit(en) fehle – hier wollen die Autoren „Lücken schließen“ (1).

Aufbau …

Das Inhaltsverzeichnis bietet insgesamt 12 Kapitel: Nach einer Einführung (Kapitel 1; 8f.) werden im zweiten Kapitel „Begriffe“ und Situationen (10-19) definiert und es wird auf „Betroffene Personengruppen“ (17-19) eingegangen. Das Kapitel 3 nimmt allgemein die „Psychische Situation von Notfallopfern“ (20-59) in den Blick. Diese wird im Kapitel 4 („Das Versorgungsdreieck“, 60-80) durch Erläuterungen zu Indikationen und Stufen der Psychosozialen Notfallversorgung spezifiziert. Der konkrete Umgang mit Notfallopfern wird in Kapitel 5 (81-135) dargelegt. Im Kapitel 6 (136-178) widmen sich die Autoren „Speziellen Gruppen und Situationen“ einer Psychosozialen Notfallhilfe. In Kapitel 7 (179-225) geht es um „Die Helfer“ und deren Ausbildung. Das Kapitel 8 (226-235) bietet „Diskussion und Ausblick“ zu wichtigen offenen Fragen im Feld. Kapitel 9, der Anhang (236-240), bietet neben Distanzierungs- und Entspannungstechniken auch ein „Beispiel für einen Einsatzbericht“. Eine Literaturliste (Kapitel 10, 241-249), ein ausführliches Register (Kapitel 11, 250-257) sowie Angaben zu den Autoren (Kapitel 12, 258) sind angefügt.

… und Inhalt

Der schmale Band bietet sozusagen die Fortsetzung des Bandes, der die „Psychische Erste Hilfe bei Unfällen“ (Lasogga, Frank, Gasch, Bernd (2002) Psychische Erste Hilfe bei Unfällen, 3. überarb. u. erw. Aufl. Edewecht: Stumpf & Kossendey) zum Thema hatte, welche sich inzwischen im deutschsprachigen Raum durchgesetzt hat. Die bereits damals dargestellten methodischen Grundlagen, Regeln und Hinweise werden für diejenigen Betroffenen, die eine „’Psychische Zweite Hilfe’ durch Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams“ (Untertitel) benötigen, weitergehend erläutert. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der praxisbezogene Leitfaden, dem immer wieder eigene Beispiele sowie hilfreiche Abbildungen zur Veranschaulichung beigefügt werden, so etwas wie eine knappe Zusammenschau des Themas Psychosoziale Notfallhilfe bietet.

Die kritischen Definitionen von „Psychosoziale Notfallhelfer“ (10ff.), „Notfall“ (12f.), „Trauma“ (13-16) und „Krise“ (16f.) sind hilfreich, um die Begrifflichkeiten im Kontext der psychosoziale Notfall Hilfe abzugrenzen und eindeutig zu verwenden. Unterschiedliche Erfordernisse und Vorgehensweisen in Einzelnotfällen und demgegenüber in Großschadenslagen aufgrund unterschiedlicher Situationen werden hier nur angesprochen (17) und ausführlicher in Kapitel 6 behandelt. Auch auf „Betroffene Personengruppen“ (17-19) wird an dieser Stelle nur ganz knapp eingegangen, eine ausführliche Darstellung erfolgt ebenfalls in Kapitel 6.

Der psychischen Situation von Notfallopfern ist das Kapitel 3 gewidmet. Hier geht es um „Psychologische Belastungen“ (20-23), die in einem Notfall auftreten können. Es werden biologische, soziografische und psychologische „Moderatorvariablen“ (23-32) beschrieben sowie unmittelbare „Reaktionen“ (32-44) und kurz -, mittel - und langfristige „Folgen“ (45-59) unterschieden. Denn „einige dieser Belastungen stellen in Kombination mit anderen Variablen eine Indikation für Psychosoziale Notfallhilfe und gegebenenfalls sogar für eine weitere Betreuung dar“ (20).

„Das Versorgungsdreieck“ (Kapitel 4, 60-80) psychosozialer Notfallhilfe bietet gestufte und an Indikationen orientierte Versorgungsmöglichkeiten. Angefangen bei „Psychischer Erster Hilfe (Stufe 1)“ für alle Betroffenen, über „Psychosoziale Notfallhilfe (Stufe 2)“ bis hin zur „Nachsorge und Akutintervention durch Fachkräfte (Stufe 3)“ aus unterschiedlichen Berufsgruppen und „traumazentrierter Psychotherapie (Stufe 4)“ für „nur sehr wenige Notfallopfer“ (71). Gut gelungen ist die „Tabellarische Darstellung der Stufen“ (Unterkapitel 4.5, 4-80) mit Erläuterungen zu Haltungen, Zielen und Interventionen.

„Der Umgang mit Notfallopfern“ steht im Kapitel 5 im Focus. Neben grundsätzlichen Fragestellungen (z.B. Ressourcenorientierung/Salutogenese, Psychoedukation 81-87) werden konkrete Anweisungen zum Verhalten an Schadensstellen, zum Verlauf einer Betreuungssituation (94-135, inklusive Informationsblatt für Betroffene) sowie „Spezielle Probleme beim Umgang mit Notfallopfern“ (136-178) beschrieben. Je ein Unterkapitel ist Angehörigen (136-139) und Verursachern (140f.), dem Umgang mit vermissten Personen (141-143) oder Ausländern (143-145) gewidmet. Eher themenorientiert sind die Unterkapitel 6.5 „Schuldgefühle“ (145-150), 6.6 „Das Überbringen einer Todesnachricht" (150-163, inklusive einer einfühlsamen Beschreibung einer Verabschiedung von Toten (158-160)) sowie 6.7 „Gruppen“ (163-168, hier wird die Wichtigkeit von Ritualen betont) und 6.8 „Großschadensfall“(168-178). Insbesondere überzeugen die Ausführungen zur „Haltung“, der Trennung der Dienste und der „Klarheit der Funktion“ (83-87) der helfenden Personen.

„Psychosozialen Notfallhelfer müssen nach einer relativ kurzen Ausbildung in Situationen arbeiten, die große soziale Kompetenz erfordern“(179), daher werden im Kapitel 7 ausführlich die Auswahl, ein mögliches (wenn auch knappes) Aus- und Fortbildungsprogramm thematisiert. Da die Helfenden im Einsatz mit Belastungen (191-209) konfrontiert werden, werden anschließend an deren Beschreibung Möglichkeiten der Prävention, Intervention und Nachsorge (209-225) für diesen Personenkreis beschrieben. Erneut fällt auf, welch wichtigen Platz die Autoren dem Thema „Rituale“ (216 f.) beimessen.

Ein Buch zum Themenbereich psychosoziale Notfallversorgung kommt derzeit nicht ohne einen Beitrag zu strukturierten psychologischen Nachbesprechungen (220-224) und der „Effektivität von Psychologischen Debriefings“ (224 f.) aus. Lasogga und Münker-Kramer formulieren vorsichtig: „Vermutlich wirkt das psychologische Debriefing bei verschiedenen Gruppen unterschiedlich. Bei einigen hilft es, bei anderen bewirkt es nichts, bei anderen schadet es. Über die Indikation kann bei dem derzeitigen Forschungsstand noch keine Aussage gemacht werden [. Auf] jeden Fall sollten Debriefings bzw. Nachgespräche nur fakultativ angeboten werden. Die Wirksamkeit einer einzelnen Interventionsmaßnahme sollte auch nicht überschätzt werden.“ (225)

Für die wissenschaftliche Forschung im Bereich der psychosozialen Notfallversorgung ist das Kapitel 8 (226-235) „Diskussion und Ausblick“ besonders interessant. Wichtige offene und zum Teil kontrovers diskutierte Fragen wie zum Beispiel zur „Heterogenität der Gruppen“, zu denen „Ausbildung“ und „Vernetzung“ zählen oder zur „Forschungslage“ und Qualitätssicherung werden in wenigen Sätzen angerissen. Gerade hier offenbart sich die Uneinheitlichkeit der Systeme, auch die Unterschiede zwischen Notfallseelsorge und Kriseninterventionsteams werden deutlich.

Das Buch endet mit einem Anhang (236-257), in dem sich eine Auswahl an Distanzierungs- und Entspannungsmethoden für alle betroffenen Gruppen ebenso findet wie ein möglicher Einsatzbericht, ein gut nutzbares Literaturverzeichnis und ein ebensolches Register.

Diskussion

Das Buch profitiert eindeutig davon, dass die beiden Autoren in dem bearbeiteten Feld sowohl als forschende Wissenschaftler wie auch in der praktischen Umsetzung der Ergebnisse (Aus- und Fortbildung) tätig sind. Die verarbeiteten Erkenntnisse und Erfahrungen sowie die damit verbundenen Kompetenzen machen es sehr lesenswert. Gerade durch die präzisen, oft (sehr) knapp gehaltenen Erläuterungen - die dadurch nichts an Relevanz einbüßen - wird das Buch gut lesbar gehalten. An einigen Stellen hätte ich mir jedoch weitere Literaturhinweise für das eigene Studium gewünscht.

Interessant ist der Versuch, einerseits eine binationale Perspektive (Deutschland und Österreich) einzunehmen und andererseits die beiden derzeit wichtigsten Gruppen in der Psychosozialen Notfallversorgung - Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams - in diesen Ländern in den Blick zu nehmen. Dass Kriseninterventionsteams und Notfallseelsorger sehr ähnliche Arbeit leisten und je eigene Schwerpunkte setzen, ist eine Binsenweisheit und zugleich eine wichtige Bemerkung und im Sinne der Betroffenen begrüßenswert (8). Dennoch wäre eine knappe Darstellung der unterschiedlichen Arbeitsweisen hilfreich gewesen.

Wissenschaftlich redlich ist die Definition und Abgrenzung wichtiger Begriffe und die stringente Beachtung dieser selbstgesetzten Linien (10ff.).

Für einen Theologen und Notfallseelsorger besonders interessant sind die Ausführungen zu Schuldgefühlen (Unterkapitel 6.5, 145-150) sowie die immer wieder aufscheinende Dimensionen in der Rituale, die für die (auch kollektive) Bearbeitung der Folgen eines Notfalls wichtig sind.

Nicht zufrieden stellen kann einen Theologen der durchgehend verwendete Terminus „Opfer“. Der Begriff ist theologisch zu aufgeladen, um ihn in der Psychosozialen Notfallversorgung verwenden zu können. Er ist auch im Sinne einer interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen, gerade der Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams, nicht unbedingt notwendig. Es scheint mir daher besser, den Begriff „Betroffene“ zu verwenden. Unter diesem Begriff lassen sich „Spezielle Gruppen und Situationen“ (vgl. Kapitel 6) genauso fassen wie unter dem Begriff der „Opfer“. Darüber hinaus impliziert der Begriff „Opfer“ viel zu sehr eine passive Haltung der so Benannten. Gerade diese soll ja vermieden bzw. überwunden werden. Gut gefällt mir das ausführliche Literaturverzeichnis, dass ein eigenes Weiterarbeiten ermöglicht sowie das gut zusammengestellte Register, welches das Buch auch zu einem Nachschlagewerk macht.

Zielgruppen

Als Zielgruppen werden neben Notfallseelsorgern und Kriseninterventionsteams ausdrücklich auch „Konsumenten“ (9) sowie „Mitarbeiter der beteiligten Organisationen, die diese Bereiche näher kennen lernen oder sich weiterbilden möchten“ (Buchrücken), benannt.

Das Buch kann sowohl als Handbuch für psychosoziale Notfallhelfer wie auch als Nachschlagewerk dienen. Dies macht es zudem interessant für Entscheidungsträger der beteiligten Organisationen. Für wissenschaftlich Forschende scheint es weniger geeignet, da sich lediglich in Kapitel 8 „Diskussion und Ausblick“ einige Anregungen für diese Arbeit finden, wenn auch (oder vielleicht gerade weil) die Autoren ausgewiesene Experten auf diesem Gebiet sind.

Fazit

Das Buch ist insgesamt sehr lesenswert und hilfreich für Mitarbeitende wie Entscheidungsträger in Notfallseelsorge- oder Kriseninterventionssystemen. Es zeigt viele Gemeinsamkeiten der beiden Systeme auf, aber auch die Unterschiede werden exemplarisch aufgezeigt. Die Lektüre des Buches eignet sich an einigen Stellen sicher auch für Betroffene, gerade auch um Informationen über Abläufe in bzw. nach einem Notfall zu erhalten. Die gute Strukturierung innerhalb des Buches ermöglicht eine gute Handhabung.

Rezension von
Dipl.-Theol., Dipl.-Soz.Arb. Kai Herberhold
Pädagogischer Leiter Bildungshaus Mariengrund
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Es gibt 6 Rezensionen von Kai Herberhold.

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ISSN 2190-9245