Sandra Landhäußer: Communityorientierung in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Anita Glatt, 15.10.2009

Sandra Landhäußer: Communityorientierung in der Sozialen Arbeit. Die Aktivierung von sozialem Kapital.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
264 Seiten.
ISBN 978-3-531-16138-9.
29,90 EUR.
Reihe: Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit - Band 2.
Autorin
Dr. Sandra Landhäußer, geboren 1976 in Karlsruhe, hat zwischen 1997 und 2003 ein Magisterstudium in Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie an der Universität Heidelberg absolviert und arbeitete anschliessend 3 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Räumlichkeit und soziales Kapital in der Sozialen Arbeit. Zur Governance des sozialen Raums“ der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld. Sie promovierte 2007 an der Fakultät für Pädagogik der Universtität Bielefeld zum Dr. phil. Seit 2008 ist sie Research Associate am Bielefeld Center for Education und Capability Research an der Universität Bielefeld und wissenschaftliche Angestellte am Institut für Erziehungswissenschaft (IfE), Abteilung Sozialpädagogik (Lehrstuhl Treptow) der Universität Tübingen.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Arbeit wurde im Rahmen einer Dissertation unter dem Titel „Nachbarschaft, Gemeinwesen, Sozialraum – Communityorientierung in der Sozialen Arbeit“ an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld vorgelegt und erscheint als erste Monographie zur Sozialraumforschung in der neuen Reihe „Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit“ des Verlags für Sozialwissenschaften (VS), welche von Fabian Kessl (Essen) und Christian Reutlinger (Rohrschach) herausgegeben wird.
Aufbau und Inhalte
Ausgehend von der Feststellung, dass Soziale Arbeit im Zuge der aktuellen Neugestaltung des Sozialstaates und des politischen Interesses am aktivierenden Paradigma immer mehr als wichtige Akteurin auftritt, hat die Studie zum Ziel, zunächst die Entstehung von „Communityorientierung“ in der Sozialen Arbeit auf der Basis historischer Beispiele nachzuzeichnen und sodann deren „Plausibilität“ auf der Grundlage empirischer Daten zu prüfen, um für mögliche „Widersprüchlichkeiten und Fallstricke“ (S.17) in Strategien der Aktivierung sozialen Kapitals zu sensibilisieren. Die kritische Reflexion und empirische Begründung ihrer (aktivierenden) Interventionen soll Sozialer Arbeit dazu verhelfen, sich wissensgestützt zu positionieren und bei der Gestaltung sozialer Gerechtigkeit gestaltend einzubringen.
Auf der Grundlage einer kurzen Darstellung zentraler sozialer Entwicklungen im 19. Jahrhundert, Erkenntnissen früher sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und der Entstehung Sozialer Arbeit spürt die Arbeit zunächst den historischen Entwicklungslinien von „Communityorientierung“ in der Sozialen Arbeit von der „prä-wohlfahrtstaatlichen Idee“ (Settlementarbeit) über die „(anti)wohlfahrtstaatliche“ (Gemeinwesenarbeit) zur „(post)wohlfahrtstaatlichen Idee“ (sozialraumorientierte Soziale Arbeit) nach. In der Analyse von Strategien Sozialer Arbeit, die sich auf Bewohnerschaften von Stadtteilen bzw. den sozialen Zusammenhang richten, verwendet Landhäußer den über verschiedene Ansätze übergreifenden engl. Begriff der „Communityorientierung“. Anhand eines heuristischen Modells von Marilyn Taylor (2003) werden die wesentlichen communityorientierten Politiken entlang Defiziten in der Community und Störungen auf Ebene von System, Strukturen und Regierung vergleichend betrachtet und die Ansätze hinsichtlich ihrer Perspektiven auf die Community diskutiert, um die zentralen Elemente von Communityorientierung in der Sozialen Arbeit zu bestimmen; nämlich soziale und sozialräumliche Segregation als Begründung für Intervention und Aktivierung sozialen Kapitals als Strategie. Aus diesem Befund und der Feststellung, dass die Avancierung von Exklusion als zentralem gesellschaftlichen Problem keineswegs mit einer eindeutigen empirischen Datenlage einhergeht, leitet Landhäußer die Frage ab, inwiefern es sich bei sozialer und sozialräumlicher Segregation um ein Problem handelt, was die verschiedenen sozialraumorientierten Strategien (lokale Solidarisierung, Informalisierung, Individualisierung) bewirken bzw. welchen Nutzen sie bringen und welche Schlussfolgerungen sich daraus ableiten lassen.
Unter Beizug ausgewählter Daten aus dem Bielefelder Forschungsprojekt „Räumlichkeit und soziales Kapital in der Sozialen Arbeit. Zur Governance des sozialen Raums“, nämlich vorwiegend aus dem Sozialkapitalsurvey, wird im Forschungsteil der Studie eine empirische Basis zur Beantwortung der ersten beiden Fragen gelegt. Die beigezogenen Daten stammen aus einer mittelgrossen, westdeutschen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Zunächst werden potenzielle (negative) Auswirkungen von Segregation auf den Ebenen materielle Lebensbedingungen im Quartier, politische Repräsentanz eines Quartiers und Symbolik eines Quartiers analysiert und mit den Befunden aus der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur verglichen. Um die These von (durch Segregation verursachten) benachteiligenden Effekten durch das soziale Milieu in speziellen Quartieren zu prüfen, wird der Aufbau und Einfluss von Netzwerken mittels einer Clusteranalyse untersucht und danach gefragt, inwiefern das Wohngebiet Einfluss auf die Netzwerkbildung seiner Bewohnerschaft hat. Hier zeigen die Ergebnisse, dass es kein einheitliches Quartiersmilieu gibt; vielmehr gibt es einen „scheinbare[n] Gebietseffekt“ (S. 189), der mit den sozialstrukturellen Merkmalen und Ressourcen der Bewohnerschaft zusammenhängt. Auf dieser Basis wird festgehalten, dass die Problematisierung eines spezifischen Gebietsmilieus „zweifelhaft“ (S. 191) ist und damit zu hinterfragen ist, ob „Gebiete“ Referenzpunkt für sozialarbeiterische Interventionen sein können. Landhäußer zeigt auf, dass Quartierseffekte von sozialen Lageeffekten überlagert sind, was auch bedeutet, dass die Lebensbedingungen im Quartier für die einen benachteiligend und für die anderen unterstützend wirken können. Auch die Problematisierung der Koppelung von niedriger sozialer Lage mit dem Leben in „benachteiligten“ Wohnquartieren (vgl. Unterclass-Debatte) wird damit kritisiert. Es wird darauf hingewiesen, dass sich die Befunde der Studie mit anderen empirischen Ergebnissen (vgl. Martin Kronauer und Berthold Vogel, 2004; Martin Kronauer, 2005) decken.
In einem weiteren Schritt werden die drei Strategien zur Aktivierung von sozialem Kapital in der Sozialen Arbeit (Solidarisierung, Informalisierung, Individualisierung) beschrieben, mit den erarbeiteten empirischen Erkenntnissen verglichen sowie nach ihrer „Plausibilität“ befragt. Landhäußer legt anhand empirischer Daten dar, dass die in der „dominanten Ausrichtung von Communityorientierung“ (sozialraumorientierte Arbeit) angewandte Strategie der lokalen Solidarisierung (Stärkung der Solidarität im Stadtteil), die sich auf die Vernetzung von voneinander segregierten Bewohnern/innen ausrichtet, keine zusätzlichen Ressourcen auf der individuellen Ebene zu eröffnen vermag. Bezüglich der Strategie der Informalisierung (Stärkung informeller Netzwerke zwecks Aktivierung von Selbsthilfepotentialen im sozialen Nahraum) wird mit eigenen sowie Befunden der Bürgergesellschafts- und Selbsthilfeforschung aufgezeigt, dass individuelle Vernetzungen (z.B. Mitgliedschaften in Assoziationen) stratifiziert und Ressourcen in informellen Netzwerken sozial ungleich verteilt sind. Da sich eher Menschen mit guter Ausstattung an individuellem Soziakapital in Assoziationen zusammentun, benachteilige dieser Ansatz ressourcenschwächere Menschen in doppeltem Maße (S.212f.) und befördere die Strategie der Informalisierung die soziale Ungleichheit (S.211). Hinsichtlich der Strategie der Individualisierung (professionelle Ausrichtung an individuellen Bedürfnissen der Adressatenschaft) wird mit Befunden aus der Lebensqualitätsforschung dargelegt, dass subjektive Lebensqualität von adaptiven Präferenzen abhängt und der Schluss gezogen, dass abnehmende soziale und sozialräumliche Segregation nicht unbedingt zu einer höheren Einschätzung der subjektiven Lebensqualität führen muss. Es wird ausserdem aufgezeigt, dass ein klarer empirischer Zusammenhang zwischen kollektivem Sozialkapital und subjektiver Lebenszufriedenheit vorliegt, und daraus abgeleitet, dass die Strategie der Individualisierung für Soziale Arbeit „recht attraktiv“ scheine, weil sie insbesondere weiche Faktoren im Zusammenleben beeinflussen kann.
Im letzten Teil werden die mit „Communityorientierung“ in der Sozialen Arbeit anvisierten gesellschaftlichen Probleme und Problemlösungen mit Rekurs auf aktuelle (soziologische) Diskurse über „Underclass“, Desintegration, fehlende soziale Kohäsion und soziale Gerechtigkeit verortet und Schlussfolgerungen für Ansätze der Sozialen Arbeit zur Überwindung der ungewünschten sozialen und sozialräumlichen Segregation und der damit einhergehenden Ungleichheit gezogen. Landhäußer plädiert abschliessend dafür, dass sich Soziale Arbeit als professionelle Dienstleistung an einer sozialisations-, milieu- und klassentheoretischen Perspektive orientiert und durch die „individuelle Erweiterung von Handlungsbefähigungen einen Beitrag zu den sozialen Bedingungen von Demokratie“ (S. 231) leistet.
Diskussion
Mit der vorgelegten Systematisierung der unter „Communityorientierung“ zusammengefassten Ansätze mit Orientierung am Sozialen, von der Settlementbewegung über die (frühe) Gemeinwesenarbeit bis zur heutigen sozialraumorientierten Sozialen Arbeit, legt Landhäußer die Basis für eine dringend notwendige empirische Überprüfung der Plausibilität aktueller Strategien zur Aktivierung sozialen Kapitals. Sie zeigt empirisch auf, dass die Wirkungen der unterschiedlichen Strategien nicht unbedingt mit den Zielen Sozialer Arbeit korrespondieren, sondern möglicherweise soziale Ungleichheit noch akzentuieren. Soziale Arbeit als Profession bezieht sich heute in ihrer Praxis teilweise noch immer stark auf tradiertes Berufswissen, wird jedoch immer stärker damit konfrontiert werden, auch die theoretischen Diskurse und empirischen Befunde der relevanten sozialwissenschaftlichen Disziplinen vermehrt für die eigene Handlungsplanung mitberücksichtigen zu müssen. In diesem Sinne sind auch die empirischen Resultate von Landhäußer äusserst wichtig zur Einschätzung der Wirkung und in diesem Sinne zur kritischen Hinterfragung sozialraumorientierter Massnahmen in der Sozialen Arbeit.
Durch die Verortung der mit „Communityorientierung“ anvisierten Problemlösungen in aktuellen theoretischen Diskursen gelingt es Landhäußer überzeugend aufzuzeigen, dass die zunehmende Problematisierung sozialer und sozialräumlicher Segregation die Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit als gesellschaftlichem Problem und damit auch das Ziel sozialer Gerechtigkeit verdrängt. Der aktuelle Sozialraumdiskurs bezieht sich nach Landhäußer auf die Diagnose der „Spaltung“ und schwindender sozialer Kohäsion sowie auf die „Underclass-Debatte“ in dessen Zuge, kollektive Normen und Werte sowie Devianz und Moral in den Mittelpunkt rücken, welche mit spezifischen sog. benachteiligten Gebieten gleichgesetzt werden. Damit einher gehen auch Gefahren, welche Prozesse der Stigmatisierung von Stadtteilen und damit von Spaltungen auch auf symbolischer Ebene vorantreiben. Und auf Interventionsebene entsteht die Vorstellung, soziale Probleme im Stadtteil selber lösen zu können und soziale Kohäsion durch die (einseitige) Förderung von Homogenität zu erreichen. Landhäußer erkennt in der Zusammenfassung der dominanten Ausprägung von Communityorientierung das Ziel der Herstellung sozialer Kohäsion und stellt dieses unter der gerechtigkeitstheoretischen Perspektive Sozialer Arbeit zu Recht in Frage. Soziale Arbeit hat die gleichberechtigte Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder am gesellschaftlichen Leben zum Ziel und kann sich darum nicht unhinterfragt an der aktuell dominanten Ausprägung von Communityorientierung ausrichten.
Fazit
Soziale Arbeit muss ihre Strategien und Interventionen im Rahmen sozialraumorientierter Sozialer Arbeit auf der Basis ihrer berufsethischen Positionen und Ziele sowie mithilfe der Kenntnis der aktuellsten empirischen Befunde laufend kritisch reflektieren. Damit entgeht sie der Gefahr, ungewollt durch die jeweils prägende Ausrichtung von Communityorientierung vereinnahmt zu werden. Möglicherweise tut Soziale Arbeit gut daran, sich einmal mehr auf ihre Wurzeln, z.B. Jane Adams‘ Settlementbewegung, rückzubesinnen. Die Studie von Landhäußer gibt Sozialer Arbeit sowohl für ihre Identitätsfindung als auch für ihre Positionierung in der aktuellen Debatte um Sozialraumorientierung unverzichtbare Anstöße.
Rezension von
Anita Glatt
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Zitiervorschlag
Anita Glatt. Rezension vom 15.10.2009 zu:
Sandra Landhäußer: Communityorientierung in der Sozialen Arbeit. Die Aktivierung von sozialem Kapital. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-16138-9.
Reihe: Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit - Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7701.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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