Vicki Täubig: Totale Institution Asyl
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 10.10.2009

Vicki Täubig: Totale Institution Asyl. Empirische Befunde zu alltäglichen Lebensführungen in der organisierten Desintegration.
Juventa Verlag
(Weinheim ) 2009.
320 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1793-9.
24,00 EUR.
CH: 46,50 sFr.
Reihe: Juventa Materialien.
Thema
Während die Lebenswelt anderer Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit mittlerweile in stärkerem Umfang empirisch ausgeleuchtet wurde, gibt es zur Lebenslage und Alltagsbewältigung von Flüchtlingen in Deutschland vergleichsweise nur wenige Studien. Diese konzentrieren sich zumeist auf die prekäre ausländerrechtliche Situation oder die biografischen Auswirkungen traumatischer Fluchterfahrungen. Die jetzt vorgelegte Studie von schließt diese Lücke teilweise und lenkt zugleich den Blick auf die problematischen Aspekte der Unterbringung und Reglementierung durch die deutschen Behörden.
Zielsetzung
Der Zugang der Autorin zu ihrem Gegenstand ist so einfach wie einleuchtend. Sie verortet die Lebenssituation „Asyl“ in einem Dreieck zwischen prekärer Rechtslage (ungewisser Aufenthaltsstatus, Arbeitsverbot, Residenzpflicht), totaler Institution (kasernierte Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften) und Migrationserfahrung. In den ersten drei Abschnitten ihres Buches entwickelt die Autorin präzise die diesen Eckpunkten hinterlegten theoretischen Zugänge. Detailliert gibt sie einen Überblick über die relevanten rechtlichen Regelungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts und skizziert knapp statistische Daten zur Gruppe der von diesen Regelungen Betroffenen.
Mit Rückgriff auf klassische und neuere Migrationstheorien beschreibt sie sodann die Phasen der Migration und ihre biografische Bedeutung. Dabei weist sie besonders auf den Umstand hin, dass bei einer Zurückweisung durch die Aufnahmegesellschaft MigrantInnen in einer „interkulturellen Zwischenwelt“ verbleiben. „Diese Position zwischen zwei Gesellschaften birgt ein (doppeltes) „anomisches Potential“ in sich, weil der Kontakt bzw. die Zugehörigkeit zu beiden Gesellschaften uneindeutig ist.“ (40)
Für die Beschreibung des Lebens in Flüchtlingsunterkünften und Asylbewerberheimen schließlich zieht die Autorin Erving Goffmans Konzept der „Totalen Institution“ heran, die umfassend das Leben ihrer Insassen reglementiert und bis ins Detail kontrolliert.
In der Zusammenschau dieser drei Perspektiven identifiziert die Autorin die Lebenssituation von AslybewerberInnen in Deutschland als Zustand der „organisierten Desintegration“. „Im Begriff organisierte Desintegration werden also Asylrecht, Migrationstheorien und das Konzept totale Institution zusammengeführt. Organisierte Desintegration steht für das asyl- und aufenthaltsrechtliche Strukturgeflecht, das für Asylbewerber und „Geduldete“ als Angehörige einer bürokratischen Kategorie hergestellt wird. In diesem Strukturgeflecht ist Desintegration angelegt und es lässt sich in spezifischen Momenten mit dem Konzept der totalen Institution fassen.“ (58)
Mit dieser Beschreibung der strukturellen Alltagsbedingungen von AsylbewerberInnen und Flüchtlingen ist die Grundlage für die eigentliche Fragestellung der Autorin gelegt. Mit Antony Giddens geht die Autorin davon aus, dass Strukturen zwar Optionen schaffen oder begrenzen, gleichwohl das Handeln der Akteure nicht vollständig determinieren. „Strukturen müssen…im Handeln verwirklicht werden, strukturieren aber auch das Handeln“. (Löv, zit S. 67)
Theoretische Konzepte und praktisches Vorgehen
Hiervon ausgehend stellt sich die Frage, wie sich die beschriebenen Strukturen der organisierten Desintegration im Alltagsleben der Betroffenen abbilden und in ihrem Alltagshandeln bearbeitet, modifiziert oder überformt werden. Das sozialwissenschaftliche Konzept der „Alltäglichen Lebensführung“ (Kudera/Voß) ist besonderer Weise geeignet zu erfassen, was Menschen in dieser Lebenssituation tagaus, tagein tun und wie sie es tun. Das Konzept geht – sehr vereinfacht gesagt – davon aus, dass dieses Alltagshandeln mit den Kategorien Zeit, Raum und Beziehung hinreichen beschrieben werden kann.
Die Kategorie Zeit ermöglicht es, die zeitliche Struktur des Alltags (Tagesablauf, Rituale und wiederkehrende Tätigkeiten und Handlungen usw.) zu erfassen („das Leben in seiner ganzen Breite“). Sie verweist zugleich darauf, dass „Zeit“ auch immer eine biografische Seite hat und insofern die Deutung in Hinblick auf Lebensphasen, biografische Ereignisse usw. ermöglicht („das Leben in seiner ganzen Länge“). Die Gestaltung dieser beiden Dimensionen durch die Akteure in ihrem Alltagshandeln bezeichnet die Autorin als „Zeitmachen“, also als einen aktiven Gestaltungsprozess.
Ähnlich verhält es sich mit der Kategorie Raum. Menschen finden sowohl einen bereits vorstrukturierten Raum vor und stellen andererseits durch Anordnung Raum her. „Der Raum ist eine relationale (An-)Ordnung, weil erst durch die Herstellung einer Beziehung zwischen den angeordneten Elementen Raum entsteht.“ (69) Dieses Handeln bezeichnet die Autorin als „Raummachen“.
Die Kategorie Beziehung schließlich trägt der Tatsache Rechnung, dass (Alltags-) Handeln immer in sozialen Bezügen stattfindet, die Akteure mithin in und mit ihrem Handeln in Beziehungen zu anderen Menschen treten und diese Beziehungen implizit oder explizit gestalten („Beziehungmachen“).
Dies vorausgeschickt formuliert die Autorin ihre Forschungsfrage: „Wie führen Asylbewerber und „Geduldete“ ihr Leben? Welches Raummachen, welches Zeitmachen und welches Beziehungmachen ist ihrem Handeln immanent?“ (75)
Deutlich stellt sie dabei ihren Fokus heraus: „Der subjektorientierten Forschungsperspektive entsprechend geht es um Strukturen nur insoweit sie Handeln erklären. Im Vordergrund stehen die Alltäglichen Lebensführungen … als individuelle Leistungen und nicht die organisierte Desintegration.“ (ebd.) Für die Bearbeitung ihrer Fragestellung wählt die Autorin einen Methodenmix rekonstruktiver Verfahren aus themenzentrierten narrativen Interviews und narrativen Landkarten und Kalendern ergänzt durch einen problemzentrierten Kurzfragebogen am Ende der Interviews. Mit diesem Instrumentarium befragt wurden sechs männliche Aslybewerber mit unterschiedlicher Aufenthaltsdauer, unterschiedlichem Rechtsstatus und unterschiedlicher ethnischer Herkunft.
Ergebnisse
Die empirischen Ergebnisse dieser qualitativ-rekonstruktiven Erhebung dokumentiert die Autorin ausführlich entlang der oben beschriebenen drei Kategorien. Diese Schilderungen sind sehr anschaulich und authentisch, weil es der Autorin in hervorragender Weise gelingt, den O-Ton aus den Interviews mit ihren eigenen zusammenfassenden Bemerkungen zu verknüpfen. Jede Fallmonographie schließt mit einer fallbezogenen Zusammenfassung ab.
In ihren beiden abschließenden Kapiteln fasst die Autorin fallübergreifende Befunde zusammen. In ihrer Auswertung wird „mit Fokus auf das Tun (wird) ausgehend von den Räumen und Beziehungen der Interviewpartner ein Tätigkeitsrepertoire des Lebens in seiner ganzen Breite herausgearbeitet. Diesem Tätigkeitsrepertoire stehen Aussagen der Interviewpartner, den ganzen Tag nichts zu tun, entgegen. Die Wertung des eigenen Tuns als Nichts ist aus dem Leben in seiner ganzen Breite nur begrenzt erklärbar. Es gilt, anhand der Verschränkung mit dem Leben in seiner ganzen Länge (…), das die Interviewpartner ja auch thematisieren biografische Bezüge herzustellen.“ (205)
So beschreiben Asylbewerber vordergründig ihr Alltagshandeln als „Nicht-Aktivität“ : Nichtstun, nichts zu tun haben, schlafen, sich langweilen usw. Indes entwickeln sie aber vielfältige (notwendige) Aktivitäten, etwa um sich mit den vorgegebenen zeitlichen und räumlichen Strukturen der Einrichtung zu arrangieren, alltägliche Notwendigkeiten (z.B. Sauberkeit) immer wieder neu auszuhandeln, Freundschaften zu schließen und Netzwerke zu knüpfen (Beziehungmachen) oder Rückzugsorte zu organisieren und zu verteidigen (Raummachen). Neben diesen Aktivitäten, die ihren Ort vorwiegend im Aslybewerberheim selbst haben, stellen sich die Außenkontakte individuell zwar sehr unterschiedlich aber ingesamt vielfältiger dar. Diese gestalten sich einerseits als regelmäßige wiederkehrende Strukturierung der Zeit oder als individuell und situativ, weil „…die Bandbreite der aufgesuchten Orte und die sich daraus ableitenden zeitlichen Anordnungen auf individuell verschiedene Bedürfnisse und dem Kennen von Menschen zurückgeht.“ (215)
Dennoch zieht die Autorin in dieser Hinsicht eine negative Bilanz. “Das Asylbewerberheim als spezialisierter Raum bewirkt eine Segregation zwischen Asylbewerbern und der deutschen Bevölkerung am Heimstandort. Die Leute dort sind unfreundlich und ausländerfeindlich. Räume werden als für Ausländer werden als für Ausländer verboten definiert…(Das) bedeutet eben, keine deutschen Freunde am Heimstandort zu haben, bei Begegnungen auf der Straße auf den Boden zu blicken und damit die Leute nicht anzuschauen, nicht viel nach draußen zu gehen, als identifizierbarer Ausländer Leute aus Schüchternheit nicht anzusprechen und nicht in die Disco, die Kneipe oder das Cafe´ zu gehen.“ (216)
Die Segregation wird verstärkt durch negative Erfahrungen mit Behörden, Diskriminierung und Ausschluss von Freizeit-(Orten). Gewissermaßen als „Gegengewicht“ spielen Beziehungsräume außerhalb Deutschlands und im Herkunftsland (Verwandtschaft, Familie) eine ausgleichende Rolle, zu denen die Befragten Kontakt halten und ihre Beziehungen pflegen. Asylbewerber entwickeln also durchaus eine Vielfalt von Aktivitäten zu Alltagsbewältigung.
All diese Aktivitäten haben aber aus ihrer Sicht keinerlei Bezug zu ihrem „Leben in seiner ganzen Länge“, haben in biografischer Perspektive keine Bedeutung für sie und haben auch nichts mit ihren Lebensentwürfen zu tun. So erscheint ihnen das, was sie tun, als vergeudete (Lebens-)Zeit. “Die Interviewpartner führen zwischen zweieinhalb und acht Jahren tagein, tagaus dieses Leben, in dem sie ihr biografisches Programm nur begrenzt umsetzen können.“ (234)
Mit Blick auf vorliegende Migrationstheorien und die biografische Dimension Alltäglicher Lebensführung kommt die Autorin zu einem überraschenden Ergebnis. „Die klassischen Migrationstheorien beschreiben die Emigration als einschneidendes Ereignis: Die Migranten verlieren ihre soziale Gruppe, verlassen ihre Sprachgemeinschaft, geben ihre sozialen Rollen und allgemeingültige Sinnzusammenhänge der Herkunftsgesellschaft auf. Diese „Entwurzelung“ bedeutet für die in diesen Modellen unmittelbar auf die Emigration folgende Phase der Immigration soziale Desintegration, Verhaltensunsicherheit und Entfremdung.“ (225)
Die Befunde der vorliegenden Studie weisen indes in eine andere Richtung: „Die Interviewpartner sehen ihre Emigration als biografischen Bruch und ihre Gegenwart als biografische Ausnahmesituation. In dieser Gegenwart werden bereits in der Vergangenheit im Herkunftsland gültige Arrangements wirksam und bestimmen die Zukunftskonstitution. Die Alltäglichen Lebensführungen der Interviewpartner entsprechen hier nicht der Immigrationsphase der klassischen Migrationstheorien. Es zeigt sich vielmehr, dass der Neubeginn im Aufnahmekontext mit Hilfe der Sinnbezüge des Herkunftskontextes gelingt… Aus dem Herkunftsland „mitgebrachte“ Arrangements sind also die Alltäglichen Lebensführungen. Das, was in der Vergangenheit im Herkunftsland „Leben“ bedeutete bzw. für die Biografie vorgesehen war, bleibt in der Gegenwart und über sie hinaus gültig. Damit behält das „Denken-wie-üblich“ des Herkunftskontextes seine Wirksamkeiten.“ (228 f)
Fazit
Mit der vorliegenden Studie und der authentischen Dokumentation ihrer Ergebnisse ermöglicht die Autorin einen tiefen und differenzierten Einblick in die alltägliche Lebensführung von AsylbewerberInnen und „Geduldeten“. Entlang der Kategorien Raum, Zeit und Beziehung gelingt es der Autorin, diese Ergebnisse plausibel zu deuten und (auch) fallübergreifend zu interpretieren. Damit erhält der Gegenstandsbereich „Asyl“ mit seinen vielfältigen Konsequenzen für die Betroffenen eine qualitative Dimension und gewinnt (hoffentlich) größere Bedeutung in der wissenschaftlichen Diskussion und Forschung.
Zugleich hat die Autorin mit der Skizzierung des Konzeptes „Alltäglicher Lebensführungen“ und dessen Nutzung für eine qualitativ-rekonstruktive Studie wichtige Anregungen für die methodische Weiterentwicklung lebensweltorientierter alltagsbezogener Forschung gegeben. Der von ihr gewählte und konkretisierte Ansatz ist hervorragend geeignet, die Erforschung der Lebenswelten von AdressatInnen Sozialer Arbeit zu qualifizieren. Die vorliegende Studie ist aus diesem Grunde für Forschende und Praktiker in der Sozialen Arbeit gleichermaßen wertvoll. Durch ihre klare Struktur und verständliche Sprache ist sie anregend und gut lesbar und eignet sich deshalb auch für Studierende und Berufanfänger.
Zum Abschluss zwei kritische Anmerkungen: Der – vermutlich von Verlag gewählte Titel „Totale Institution Asyl“ – ist ohne den Untertitel irreführend, weil es gerade nicht vorrangig um die strukturellen Bedingungen des Alltags von Asylbewerbern geht. Zweitens: Die Autorin hätte etwas mutiger und enthusiastischer in ihrem abschließenden Fazit Konsequenzen und Perspektiven aufzeigen können: Perspektiven für die Forschung ebenso wie für sozialarbeiterisches und sozialpolitisches Handeln. Da müssen (und sollten) Leserinnen und Leser sich jetzt halt selbst Gedanken machen.
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 10.10.2009 zu:
Vicki Täubig: Totale Institution Asyl. Empirische Befunde zu alltäglichen Lebensführungen in der organisierten Desintegration. Juventa Verlag
(Weinheim ) 2009.
ISBN 978-3-7799-1793-9.
Reihe: Juventa Materialien.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7732.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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