Udo Baer, Waltraut Barnowski-Geiser: Jetzt reden wir! (Kinder mit ADHS)
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Gerspach, 25.06.2009

Udo Baer, Waltraut Barnowski-Geiser: Jetzt reden wir! Diagnose AD(H)S und was die Kinder wirklich fühlen. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2009. 166 Seiten. ISBN 978-3-407-85881-8. D: 12,95 EUR, A: 13,30 EUR, CH: 25,40 sFr.
Thema
Ausgehend von der Debatte um den Begriff der Aufmerksamkeits-Defizit-und-Hyperaktivitäts-Störung AD(H)S werden aus Sicht der Kreativen Leibtherapie Sequenzen aus der psychotherapeutischen Arbeit mit betroffenen Kindern beschrieben und kommentiert. Im Vordergrund stehen die Aussagen der Kinder über sich selbst und ihre Lebenssituation, die fachlichen Anmerkungen und Interpretationen treten dahinter zurück. Ziel des Buches ist es, das Leid dieser Kinder konkret sichtbar und fühlbar zu machen. Dies erscheint den Autor/innen nur möglich, wenn deren Innenwelten die gebührende Beachtung geschenkt und der Bewältigung der jeweiligen Problemlagen genügend kreativer Raum gegeben wird.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert.
- Zunächst werden die Gründe benannt, warum dieses Buch geschrieben wurde. Überraschung und Zorn stehen ganz oben. Überraschung über die Klugheit und die Lebendigkeit der Kinder und Zorn über die bequeme Diagnose als auch die eigene Hilflosigkeit. Besonders die oft vorschnelle Etikettierung AD(H)S verstellt den Blick auf die wahren Probleme eines Kindes. Weder wird damit sein Erleben und sein inneres Leiden berücksichtigt, noch können die konstruktiven Momente erfasst werden, die ein Kind mit seiner Störung wählt, um sich selbst behelfen zu können.
- Der zweite Teil dokumentiert sehr anschaulich ein Jahr mit Ole. Er enthält die detaillierte Darstellung eines einjährigen Therapiekontaktes mit einem elfjährigen Jungen und seiner durchaus schwierigen Situation zu Hause und in der Schule. Hier wird sehr anschaulich verdeutlicht, wie der Weggang der eigenen Mutter, der nicht thematisiert werden darf, das Somatisieren des Vaters, aber auch die Gewalterfahrung mit beiden Eltern eine große Einsamkeit hinterlassen haben, die das Kind in bestimmten angstauslösenden Situationen immer wieder zum Anecken verführen, ohne dass dies – besonders von den Lehrer/innen – verstanden würde. Erst in den Therapiesitzungen, und unter Einbeziehung vor allem musikalischer Ausdruckangebote, werden neue emotionale Erfahrungen möglich, die dem Kind ein bis dahin unrealistisch erscheinendes inneres Wachsen an seinen Konflikten gestatten.
- Das dritte und vierte Kapitel enthalten Familienszenen und Geschichten aus dem Innern. Immer wieder wird die Einsamkeit der Kinder deutlich, oftmals kaschiert durch ein geradezu süchtigmachendes Spielen am Computer. Gleichzeitig erscheinen die Eltern in ihren Erziehungsbemühungen aus vielerlei Motiven heraus überfordert. Sei es, weil die Mutter mit ihrem Sohn ‚verklebt‘ ist, weil der Vater unreif wirkt, oder weil die Eltern massive Konflikte austragen, für die sich das Kind schuldig fühlt. Die Kinder verlieren quasi ihr Gedächtnis und verschanzen sich hinter einem Nebel aus Diffusität. Oder sie machen sich stark und unberührbar.
- Im fünften Kapitel erzählen erwachsene Betroffene im Rückblick über ihre lange Geschichte als „ADS/ADHS-Kinder“. Auch hier werden mikrotraumatische Erfahrungen sichtbar, die sich dann in einer metaphorischen Symptomatik von Unruhe Bahn brechen. Der Mordversuch des großen Bruders und die Unfähigkeit der Eltern, den Säugling davor zu schützen, ganz gleich, wie real es zuging, überforderte und nicht hinschauende Mütter, unerreichbare Väter, die Flucht in eine Gegenwelt aus Angst vor den sich heftig streitenden Eltern – immer sind es die doch so bekannten Verkettungen, aus denen (Hyper-)Aktivität und der Verdrängungsmechanismus der Unaufmerksamkeit als Lösungsversuche auf Seiten der Kinder resultieren.
- Am Ende folgt ein Abschnitt zu Fragen und Antworten rund um ‚ADS / ADHS‘. Hier werden die gängigen Problemstellungen referiert und kommentiert, wobei leider ein genaueres Eingehen auf die kritischen Anmerkungen innerhalb der Fachdebatte unterbleibt.
Diskussion
Das vorliegende Buch präsentiert sehr viel kasuistisches Material und offenbart überaus eingängig die inneren Schwierigkeiten betroffener Kinder, mit den ihnen anhaftenden Konflikten in Elternhaus und Schule symptomfrei umzugehen. Spiegelbildlich werden auch die Schwierigkeiten auf der Seite der Psychotherapeut/innen sichtbar, in die sie in der Gegenübertragung hineingeraten. Erfreulich ist die freundliche Haltung der Autor/innen, mit der sie sich auch schwierigen Kindern (und Eltern wie Lehrer/innen) zu nähern wissen. Es geht ihnen nicht um eine Entsorgung dieser Symptome, sondern um ein Verstehen, aus dem dann eine andere Problembewältigung erwachsen kann. Es wäre durchaus hilfreich gewesen, ein wenig mehr theoretisches und therapeutisches Hintergrundwissen vorzustellen, um diese Art des Arbeitens noch genauer erfahren zu können. Und am Ende entkommt der Text nicht der Gefahr, doch wieder zum Ratgeber mutieren zu wollen. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Auffassungen zu AD(H)S hätte da womöglich weiter getragen.
Fazit
Das Buch bringt uns wahrlich anrührende Geschichten von AD(H)S-Kindern nahe und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Entmythologisierung des Begriffs. Es zeigt auf, dass gerade die Lehrer/innen in der Institution Schule große Probleme haben, ausagierenden Kindern mit Feinfühligkeit und Verstehen zu begegnen. Es zeigt aber auch auf, wie eine Kooperation von Schule und geeigneten Hilfen zu einer Veränderung und Stabilisierung bereits aufgegebener Kinder führen kann. Die sehr detaillierten Schilderungen lassen mit Recht eine medikamentöse Behandlung als nachgeordnet erscheinen. Das macht Mut.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Gerspach
lehrte bis 2014 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Schwerpunkte: Behinderten- und Heilpädagogik, Psychoanalytische Pädagogik sowie die Arbeit mit so genannten verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Seit 2015 lehrt er als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt.
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