Dagmar Orthmann Bless, Roland Steinbrucker (Hrsg.): Frühe Hilfen bei Behinderungen und Benachteiligungen
Rezensiert von Prof. i.R. Manfred Baberg, 18.06.2009

Dagmar Orthmann Bless, Roland Steinbrucker (Hrsg.): Frühe Hilfen bei Behinderungen und Benachteiligungen.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2009.
196 Seiten.
ISBN 978-3-8340-0520-5.
18,00 EUR.
CH: 31,60 sFr.
Reihe: Basiswissen Sonderpädagogik - Band 1.
Reihe „Basiswissen Sonderpädagogik“ und Ziel des 1. Bandes
Allgemeine Informationen zur Reihe finden sich unter Reihe: Basiswissen Sonderpädagogik.
Ziel dieses Bandes ist die Erörterung einer aktuell sehr dynamischen Entwicklung im Bereich von Frühförderung, familiären Hilfen und Kindertageseinrichtungen.
Aufbau und Inhalt
In ihrem einführenden Beitrag „Frühe Hilfen bei Behinderungen und Benachteiligungen" stellt Dagmar Orthmann Bless zunächst die noch recht junge Geschichte früher Hilfen im heutigen Sinne dar. Die Anfänge in den sechziger Jahren waren durch eine medizinisch-naturwissenschaftliche Sichtweise geprägt. Behindernde Funktionseinschränkungen des „bedürftigen Kindes" sollten therapiert werden. Auf der Basis des vom Deutschen Bildungsgrat 1974 erstellten Gutachtens bildeten sich in der Folgezeit zwei Institutionen heraus, die bis heute für die Frühförderung bestimmend sind:
- Sozialpädiatrische Zentren unter medizinischer Leitung, aber mit interdisziplinär zusammengesetzten Teams und
- Frühförderstellen mit dem Ziel, dezentral und ambulant Hilfe zu leisten.
Die
Kritik an der medizinisch orientierten „Übungsbehandlung"
hat zu einem Paradigmenwechsel geführt: das Kind wird nun als
„Akteur seiner Entwicklung" gesehen, seine
Selbstgestaltungskräfte werden in den Mittelpunkt gestellt.
Aktuelle
Herausforderungen bestehen unter anderem in der Diskussion über
Lösungsmöglichkeiten bei einer „gefährdeten"
Kindheit, die in letzter Zeit auch die Medien sehr beschäftigt
hat.
Sabine
Stengel-Rutkowski lädt in ihrem Beitrag „Vorgeburtliche
Beratung und Unterstützung" zu einem gesellschaftlichen
Diskurs über eine Veränderung der Erwartungshaltung
gegenüber Kindern mit genetischen Syndromen ein. Während
die traditionelle medizinische Sichtweise auf Defekte gerichtet war,
betrachtet sie heute Genveränderungen nicht mehr als
Krankheiten, sondern als seltene Programme innerhalb der genetischen
Vielfalt, die veränderte Umweltreaktionen erfordern.
Während
die frühere Sichtweise mit der Diagnose „Down-Syndrom"
fast automatisch „geistigen Behinderung" assoziierte, weiß
man heute, dass zwar der körperliche Phänotyp durch dieses
Syndrom bestimmt wird, die psychomentalen Fähigkeiten, das
Verhalten und die Persönlichkeit sich aber davon unabhängig
erst nach der Geburt durch Impulse aus der Umwelt entwickeln. Wichtig
sind in diesem Zusammenhang Erziehungsfaktoren: geteilte
Erziehungseinflüsse im Rahmen einer inklusiven Erziehung machen
Kinder ähnlich, nicht geteilte machen sie unähnlich.
Die
Verallgemeinerung dieses Wissens kann dazu beitragen, dass werdende
Eltern in der Konfliktsituation: Abtreibung oder Austragen des Kindes
mit genetischen Syndromen? sich positiv für eine Fortführung
der Schwangerschaft entscheiden. Voraussetzungen sind eine stärkere
Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber Minderheiten und eine
veränderte Pädagogik - in diesem Beitrag an der
Montessori-Pädagogik exemplifiziert - die durch hohe Erwartungen
an die Kinder deren Entwicklungspotenziale angemessen fördert.
Der
Beitrag ist sehr gut geeignet, die in der Vergangenheit durch
biologistische Verkürzungen gekennzeichnete Debatte um
Schwangerschaftsberatung bei genetischen Veränderungen auf eine
neue Basis zu stellen.
Hans
G. Schack zeichnet in seinem Beitrag „Konzepte und
Strukturen früher Hilfen im ärztlichen und
medizinisch-therapeutischen Bereich" nach einer
begrifflichen Klärung den Wandel medizinisch-therapeutischer
Interventionen im Lichte veränderter entwicklungspsychologischer
Vorstellungen nach und geht abschließend auf Fragen der
Institutionalisierung früher Hilfen und deren Veränderung
ein.
„Therapie"
ist für den Verfasser dadurch gekennzeichnet, dass eine
Intervention mit einem konkreten, definierten Ziel durchgeführt
wird. Bei Behinderungen ist dies jedoch nur begrenzt sinnvoll (zum
Beispiel bei Operationen), in der Mehrzahl der Fälle ist das
Ziel heute nicht mehr eine vollständige Heilung, sondern die
Unterstützung des in seiner Entwicklung eingeschränkten
Kindes bei der bestmöglichen Entfaltung seiner verbliebenen
Fähigkeiten.
Der
Wandel von der traditionellen Übungsbehandlung zu einer Stärkung
eigenmotivierter Aktivität des Kindes wurde unterstützt
durch ein Entwicklungsverständnis, dass an die Stelle eines
invarianten und hierarchischen Aufbaus von Stufen ein hohes Maß
an Variabilität und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten
setzt.
Wohlbefinden
ist die Voraussetzung für eine optimale Entwicklung des Kindes.
In Einrichtungen wie sozialpädiatrischen Zentren hat deswegen
der Anteil psychotherapeutischer Arbeit in den letzten Jahren
erheblich zugenommen.
Um
weitere Qualitätsverbesserungen zu erzielen, ist auch eine
Reform der 1971 eingeführten Kinder-Früherkennungsuntersuchungen
erforderlich, die in ihrer jetzigen Form Verhaltensauffälligkeiten
und Verzögerungen der Sprachentwicklung nicht ausreichend
berücksichtigen.
Der
Beitrag gibt einen knappen und präzisen Überblick über
wichtige Veränderungen in diesem Bereich.
Armin Sohns befasst sich in seinem Beitrag „Pädagogische Konzepte in Kindertagesstätten" mit einem Bereich, der in diesem Band den größten Abstand von medizinisch beeinflussten Vorstellungen hat. Er zeichnet zunächst die historische Entwicklung nach, die trotz konzeptioneller Vielfalt in den letzten 100 Jahren durch eine klare Trennung von Kindergärten für 3-bis 6-jährige mit bestimmten Anforderungen an Sauberkeit sowie Stand der kognitiven Entwicklung und Sondereinrichtungen für Kinder, die diese Voraussetzungen nicht erfüllten, gekennzeichnet war. Ein gravierender Wandel hat sich erst in den letzten 30 Jahren durch zwei „Störfaktoren“ vollzogen:
- die Emanzipation von Menschen mit Behinderungen und
- die Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten.
Insbesondere
die Artikulation von Eltern und Fachleuten gegen die Separation von
Kindern mit Behinderungen - unterstützt durch internationale
Entwicklungen - hat eine grundlegende Änderung hervorgerufen.
Nach dem Zahlenspiegel des deutschen Jugendinstituts sind heute zirka
80 Prozent dieser Kinder in Regelgruppen integriert. Nicht erfasst
sind in dieser Zahl jedoch diejenigen, die Vorklassen von
Sondereinrichtungen besuchen.
Reformpädagogische
Ansätze wie die Freinet-Pädagogik, die Waldorf-Pädagogik
oder die Montessori-Pädagogik haben schon immer gute
Ansatzpunkte für die Integration geboten. Dies gilt auch für
neuere Konzepte wie den Situationsansatz und die Reggio-Pädagogik.
Künftige
Entwicklungen werden vom veränderten Stellenwert der
Kindertagesstätten geprägt sein: während traditionell
am Vorrang der Familie festgehalten und der familienergänzende
Charakter der Tagesstätten hervorgehoben wurde, hat sich durch
die PISA-Studien eine stärkere Gewichtung des Bildungsgedankens
durchgesetzt, der sich vor allem in den neuen Bildungscurricula der
Länder manifestiert. Die dort betonte „kulturelle
Vielfalt" gibt auch der Integration von Kindern mit
Behinderungen zusätzlichen Raum, weil kein einheitliches Bild
vom Kinde mehr angestrebt wird.
Für
die weitere Entwicklung betont der Verfasser die Notwendigkeit,
Beratung, Familienhilfe und Pädagogik stärker zu verzahnen,
um gefährdeten Kindern „Hilfe aus einer Hand" geben
zu können. Wichtig ist auch eine verbesserte Ausbildung des
Fachpersonals, um auch Kinder mit geringen Artikulationsmöglichkeiten
angemessen fördern zu können.
Der
Beitrag gibt einen guten Überblick über historische und
aktuelle Entwicklungen, die in ihrer Abhängigkeit von
gesellschaftlichen Tendenzen dargestellt werden.
Der
Beitrag von Romain Lanners „Häusliche
Frühförderung für Kinder im Vorschulalter"
fokussiert explizit die Frühförderung i.e.S., die in
anderen Beiträgen dieses Bandes ebenfalls thematisiert wird.
Auch die häusliche Frühförderung, deren Anfänge
vor knapp 40 Jahren lagen, hat im Verlaufe ihrer Geschichte einen
Wandlungsprozess durchlaufen: während die erste Generation der
Angebote sich sehr stark am Kind orientiert hat, verlagerte die
zweite Generation den Schwerpunkt auf die Familie als System.
Zielgruppen
der Frühförderung sind Kinder mit Behinderungen, Kinder mit
medizinischen Risiken (Frühgeburten, chronische Krankheiten) und
Kinder, deren Entwicklung wegen eines ungünstigen
erzieherischen, sozialen und kulturellen Umfeldes gefährdet ist.
Frühförderung kann als ambulante Frühförderung zu
Hause, als ambulante/stationäre Frühförderung
(Frühförderstelle, Krippe, etc.) oder als Kombination
beider Formen durchgeführt werden.
Mit der
Wende von der ersten zur zweiten Generation der Frühförderangebote
ist die Förderung der Eltern-Kind-Interaktion in den Mittelpunkt
gerückt. Vor allem jüngere Kinder mit Behinderungen sind in
ihren interaktiven Kompetenzen oft eingeschränkt. Bezugspersonen
reagieren hierauf häufig überstimulierend, stimulationsarm
oder inadäquat. Hier setzt die Förderung der Interaktion
mit Hilfe unterschiedlicher Programme an, die kurz vorgestellt
werden. Besonders nützlich für den Leser ist die Angabe von
Internetquellen für eine vertiefte Beschäftigung mit diesen
Ansätzen.
Perspektiven
für die Weiterentwicklung werden in einer Intensivierung von
Forschung und Evaluation, einer verstärkten Einbeziehung von
Vätern und einer Verbesserung der Ausbildung gesehen.
Auch in
dem Beitrag von Barbara Jeltsch-Schudel „Zusammenarbeit
mit Eltern" ist die Kind-Eltern-Interaktion ein zentraler
Gegenstand. Nach einer Auswertung der Familienberichte in den drei
deutschsprachigen Ländern, die eine besondere Gefährdung
von Familien in prekären Lagen (allein erziehende Mütter,
Migrationshintergrund) feststellen, wendet sich die Verfasserin
anhand von zwei Beispielen (Kind mit Down-Syndrom und Kind mit einer
Wahrnehmungsstörung) unterschiedlichen Verarbeitungs- und
Reaktionsformen der Eltern zu.
Die
Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachpersonen im Kontext früher
Hilfen kann nur dann erfolgreich verlaufen, wenn sich die beteiligten
Personen auf der Basis prinzipieller Gleichwertigkeit ihre
unterschiedlichen Voraussetzungen und Erwartungen vergegenwärtigen.
Für
ein positives Ergebnis ist nicht die Hilfsbedürftigkeit einer
Seite, sondern die Aktivierung der Kompetenzen und Ressourcen aller
Beteiligten notwendig. Hierzu zählen vor allem Offenheit für
unterschiedliche mögliche Entwicklungen und Reflexion eigener
und fremder Maßstäbe.
Der
Beitrag von Christine Köckeritz „Soziale Hilfen
für Familien" beginnt
mit einer Analyse familiärer Notlagen. Notlagen der Eltern wie
strukturelle Benachteiligung von Alleinerziehenden und
Langzeitarbeitslosen können in Kombination mit inadäquaten
Bewältigungsstrategien zu psychischen Erkrankungen und
Drogenkonsum führen. Diese Probleme schränken die
Erziehungsfähigkeit der Eltern ein, wodurch Notlagen von Kindern
wie Vernachlässigung oder körperliche und psychische
Misshandlung verursacht werden.
Hilfeleistungen
müssen die Erziehungsfähigkeit der Eltern (z. B. durch
Trainings), ihre Lebenssituation (Wohnsituation, Schulden) und ihre
psychische Situation (durch Suchttherapie, Psychotherapie)
verbessern. Entsprechend vielfältig sind die Angebote der
Jugendhilfe, die im SGB VIII geregelt sind: Hilfen zur Erziehung wie
Erziehungsberatung, Familienhilfe oder Vollzeitpflege und
Kindertagesbetreuung,
die sowohl Entlastung der Eltern als auch Förderung der Kinder
bedeutet.
Schwachpunkte
des Angebotes sind u. a.
- zu starke Fixierung der Hilfen auf den Erhalt der Familie, wodurch zwar eine notdürftige Stabilisierung erreicht werden kann, diese jedoch zu Lasten der Kinder geht, deren Entwicklung durch defizitäre Lebensbedingungen beeinträchtigt wird sowie
- institutionelle Zersplitterung und mangelnde Koordination der Angebote.
Neben
einem früheren Eingreifen der Rechtsprechung zu Gunsten des
Kindeswohls fordert die Autorin deswegen eine stärkere
Koordinierung der Hilfsangebote durch die Jugendämter und einen
Ausbau der Kindertagesstätten für Kinder im Alter unter
drei Jahren.
Der
Beitrag besticht vor allem durch die Analyse von Schwachstellen des
Hilfesystems und Vorschlägen zu ihrer Beseitigung.
Fazit
Der Band wird seiner Zielsetzung gerecht, die dynamische Entwicklung früher Hilfen in den letzten 40 Jahren darzustellen. Konkrete Vorschläge zur Verbesserung der institutionellen Angebote und der fachlichen Arbeit sollten möglichst rasch umgesetzt werden. Da die Frühförderung nicht mehr - wie in der Anfangsphase - die Einzelförderung des Kindes in den Mittelpunkt stellt, sondern sich stärker an der Familie orientiert, gibt es einige Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen, die zu Wiederholungen führen. Dies gilt auch für die Darstellung der Hilfen für Familien in Band 3 dieser Reihe.
Rezension von
Prof. i.R. Manfred Baberg
Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Arbeitsgebiete u.a. Behindertenarbeit und Integrationspädagogik in den Studiengängen Soziale Arbeit/Sozialpädagogik und Integrative Frühpädagogik
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