Michael Schacht: Das Ziel ist im Weg (Psychodrama)
Rezensiert von Susanne Gotzen, 26.01.2010

Michael Schacht: Das Ziel ist im Weg. Störungsverständnis und Therapieprozess im Psychodrama. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 385 Seiten. ISBN 978-3-531-16540-0. 34,90 EUR.
Autor
Dr. Michael Schacht ist psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Seit seiner Ausbildung bei Zerka Moreno arbeitet er als Psychodrama-Therapeut (DFP) und Weiterbildungsleiter an verschiedenen Psychodrama-Instituten.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist eine Weiterentwicklung der bisherigen Veröffentlichungen des Autors zum psychodramatischen Störungsverständnis sowie zum Modell der Spontanität-Kreativität – Spontaneität und Begegnung - Zur Persönlichkeitsentwicklung aus der Sicht des Psychodramas. Anlass dafür waren Seminare, die der Autor im Rahmen von Lehrgängen zur Psychotherapie im Fachspezifikum Psychodrama an der Donau-Universität Krems durchführte.
Thema
Psychodrama ist ein Verfahren der Psychotherapie und des sozialen Lernens, das von Jakob Levy Moreno (1890-1974) begründet wurde. In diesem Buch entwickelt der Autor eine explizit psychodramatische Therapietheorie, die – so seine These – bislang fehlt. Er verbindet die Kernkonzepte des Psychodramas mit aktuellen psychotherapeutischen Ansätzen und entwickelt so eine zeitgemäße psychodramatische Störungslehre und ein Modell therapeutischer Prozesse, aus dem er spezifische Therapiestrategien ableitet. Dieses Modell soll aber auch über die Grenzen des Psychodramas hinaus ermöglichen, andere therapeutische Verfahren in ein schlüssiges Gesamtkonzept zu integrieren.
Das Psychodrama hat sich seit J.L. Moreno, dem Gründer des Verfahrens, stetig weiterentwickelt – doch es fehlt eine aktuellen wissenschaftlichen Ansprüchen angemessene genuin psychodramatische Therapietheorie, so der Autor. Eine solche wird hier entwickelt – d.h. es wird ein zeitgemäßes Störungsverständnis erarbeitet sowie ein Modell therapeutischer Prozesse auf dessen Grundlage spezifische Therapiestrategien abgeleitet werden können. Der Autor orientiert sich dabei an den Kernkonzepten des Psychodramas - im Mittelpunkt stehen die für das Psychodrama zentralen Begriffe der Begegnung, des (Rollen)Handelns und der Spontanität-Kreativität -, und stellt darüber hinaus auch Querverbindungen zu aktuellen psychotherapeutischen Ansätzen her.
Das hier dargestellte Störungsverständnis geht von der Annahme des Psychodrama-Gründers Moreno aus, dass der Mensch die Aufgabe hat, sich dem stetigen Wandel des Lebens zu stellen. Diese Aufgabe ist durch spontanes und kreatives Handeln zu bewältigen. Eine Störung entsteht dann, wenn sich die verfügbare Spontanität und der notwendige Wandel im Ungleichgewicht befinden. Was das genau bedeutet, ist bei Moreno jedoch nicht genauer erläutert. Daran anknüpfend, wird hier ein genauer definiertes Störungsverständnis entwickelt. Die Grundannahme dabei ist, dass jedes Handeln zielgerichtet ist. Schon Säuglinge entwickeln Ziele, um ihre Bedürfnisse so weit wie möglich zu befriedigen und Schmerzen zu verhindern und benötigen dafür bereits die Fähigkeit zum spontanen und kreativen Handeln. Solche ontogenetisch früh entwickelte Ziele werden als bedeutend für die Entwicklung von psychischen Störungen markiert. Wenn diese unverändert bestehen bleiben, werden sie zu unflexiblen Zielen, hier als perfekte Ziele bezeichnet. Die perfekten Ziele bestimmen das Handeln auch dann noch, wenn sie zu leidvollen Erfahrungen führen und schränken dann die Fähigkeit zum spontanen und kreativen Handeln ein. Perfekte Ziele stehen dem notwendigen Wandel im Weg. Demgemäß ist auch der Titel des Buches „Das Ziel ist im Weg“ eine Art Zusammenfassung des hier dargestellte Störungsverständnis: perfekte Ziele stehen (dem Menschen in seinem Wandel) im Weg.
Darüber hinaus komme es zu psychischen Störungen, wenn Menschen die Fähigkeit zum spontanen und kreativen Handeln generell nicht ausreichend entwickeln konnten und daher auf Grund ihrer Persönlichkeitsstruktur generell zu perfekten Zielen neigen. An dieser Annahme anknüpfend berücksichtigt die hier dargestellte Theorie psychischer Störungen strukturelle Gesichtspunkte. Der Autor greift vor dem Hintergrund eigener entwicklungspsychologischer Konzepte psychoanalytische Erkenntnisse der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik zur Persönlichkeitsstruktur auf, um ein psychodramatisches Verständnis von Störung und psychischer Struktur zu entwickeln. Diese Konzeption fokussiert die Fähigkeit zum Perspektivwechsel bzw. zur – koordination mit anderen Menschen – psychodramatisch ausgedrückt: die Fähigkeit zu Rollenwechsel und Rollentausch.
Die darauf bezogene Therapiekonzeption stellt den Therapieprozess im Mittelpunkt. Denn eng verknüpft mit dem Modell der Spontanität-Kreativität wird die Psychodramatherapie in erster Linie als prozessorientiert gekennzeichnet. Im Prozess des therapeutischen Vorgehens soll der Weg zum Ziel werden.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in drei Teile gegliedert.
Der erste Teil befasst sich mit den
theoretischen Grundlagen, auf denen das Störungsverständnis
und letztlich der Therapieprozess aufbaut. Es geht um den „spontanen
und kreativen Menschen im Wandel“. Zuerst werden
entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus psychodramatischer
Perspektive dargestellt. Im Verlauf von Kindheit und Jugend
entwickelt der Mensch verschiedene Handlungskompetenzen, die hier
analog zu klassischen psychodramatischen Konzepten in mehrere Ebenen
unterschieden werden: die psychosomatische, die psychodramatische und
die soziodramatische Rollenebene. Diese Ebenen, die bestimmten
Entwicklungsniveaus entsprechen, zeichnen sich jeweils durch
charakteristische strukturelle Eigenschaften, insbesondere die
Fähigkeit der Perspektivübernahme aus. Diese Rollenebenen,
bzw. Niveaus sind für die hier vorliegende strukturorientierte
Perspektive auf Störungen und die dazugehörige
Therapiestrategien grundlegend. Zentral ist hier die Betrachtung der
Entwicklung der Fähigkeit zum spontanen und kreativen Handeln,
das aus psychodramatischer Sicht der Schlüssel zur Problemlösung
ist. Diese Entwicklung der Fähigkeiten zum spontanen und
kreativem Handeln gelingt dann, wenn ontogenetisch früh
erworbene Kompetenzen mit solchen späterer Phasen harmonisch
integriert zusammenwirken. (Kap. 1)
Die Theorie zum
kreativen und spontanen Handeln wird in Kap 2 ausgeführt. Hier
wird das Modell der Spontanität-Kreativität zunächst
allgemein als systemischer Prozess der Selbstorganisation vorgestellt
und erst danach auf den Prozess des Problemlösens bezogen. Das
psychodramatische Ideal spontanen und kreativen Handelns wird hier
als die Verfolgung imperfekter Ziele beschrieben, d.h. dieses
Handeln ist zwar zielgerichtet, aber zugleich auch offen für die
jeweiligen situativen Gegebenheiten und damit flexibel.
Der zweite Teil des Buches befasst sich
mit Störungsmodellen – als Grundlage von Störungen
wird perfekten Zielen eine besondere Rolle zugeschrieben (s.o.). Sie
verhindern eine angemessene (kreative und komplexe) Problemlösung.
Das tun sie umso mehr, je mehr sie zugleich zu einer (unbewussten)
Absage an echte Begegnung – und damit zu einer Reduktion der
Wahrnehmung des anderen - führen. (Kap.3).
Im
Folgenden werden Störungen nach strukturellen Kategorien, die in
Anlehnung zu den im ersten Kapitel skizzierten Entwicklungsniveaus
gebildet sind, unterschieden. Sie entsprechen aber nicht den dort
genannten Ebenen, da gestörtes Erleben und Handeln mit anderen
Konzepten erfasst werden soll als die „normalen“ Stufen
kindlicher Entwicklung. Strukturelle Störungen werden hier als
Übergänge zwischen den Rollenebenen begriffen – die
nächsthöhere Ebene und die damit zusammenhängenden
Handlungskompetenzen sind dann (noch) nicht erreicht. In den
folgenden Kapiteln werden anhand von drei Störungen exemplarisch
die Charakteristika von unterschiedlichen strukturellen
Störungsniveaus erarbeitet. Die
Borderline-Persönlichkeitsstörung (Kap. 4) wird als
Beispiel für Störungen mit ausgeprägter struktureller
Beeinträchtigung aufgeführt. Die Selbstregulation dieser
Menschen findet meist auf Störungsniveau 0-1 statt. Im Kapitel
über Depressionen (Kap. 5) werden sowohl Depressionen erörtert,
bei denen strukturelle Gesichtspunkte von untergeordneter Bedeutung
sind als auch solche, bei denen mäßig ausgeprägte
strukturelle Probleme eine Rolle spielen. Hier geht es um Menschen,
deren Handlungsregulation auf Niveau 1-2, bzw. 2-3 stattfindet. Das
Kapitel zur Angststörung (Kap. 6) beschränkt sich auf
Menschen mit gut integrierter Struktur. Das letzte Kapitel im zweiten
Teil (Kap.7) stellt die Niveaus vergleichend gegenüber und gibt
eine tabellarische Übersicht zur Strukturdiagnose aus
psychodramatischer Sicht an die Hand.
Im dritten Teil des Buches steht der Therapieprozess im Mittelpunkt. Das „Veränderungsmodell der Spontanität-Kreativität“ (Kap. 8) bildet dafür die Grundlage. Klienten und Klientinnen durchleben im Verlauf der Therapie eine Reihe typischer Phasen. Für jede dieser Phasen wird dargestellt, mit welchen psychodramatischen Interventionen der Veränderungsprozess möglichst angemessen begleitet und befördert werden kann. In Kap 9-11 werden die spezifischen Interventionsstrategien für die vorher dargestellten Störungen vorgestellt. Die Interventionen richten sich nach dem Niveau der Störung. Das heißt bei der Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung (Kap. 9) stehen Strategien für Klienten und Klientinnen im Vordergrund, die ihr Erleben und Handeln auf Niveau 0-1 regulieren. Die zur Therapie der Depressionen (Kap. 10) vorgestellten Interventionen sind vor allem für Klienten und Klientinnen ausgewählt, die ihr Erleben auf Niveau 1-2 regulieren, aber auch für solche, die gut strukturiert sind. Bei der Therapie der Angst (Kap. 11) werden Strategien im Umgang mit gut strukturierten Menschen dargestellt. Im letzten Kapitel (Kap. 12) werden abschließend die für die einzelnen Strukturniveaus erarbeiteten Therapiestrategien zueinander in Beziehung gesetzt.
Fazit
Wer mit psychodramatischen Verfahren arbeitet oder arbeiten möchte, findet hier ein sehr wertvolles Instrument, seine Arbeit zu strukturieren und theoretisch zu fundieren. Das Buch ist eine konsequente Weiterentwicklung und Anwendung der Konzeption, die der Autor 2003 vorgestellt hat.
Der hier dargestellte Ansatz ist komplex und keine leichte Kost – doch zieht der Autor stets Beispiele heran, um die Theorie zu beleuchten, so dass das Modell verständlich wird. Das Buch eignet sich nicht als Methodensammlung, in der man sich nach Bedarf für die therapeutische Arbeit bedient, sondern gibt ein durchdachtes Instrumentarium mitsamt der dazugehörigen Theorie an die Hand. Darüber hinaus stellt der Autor das Psychodrama einmal mehr in Verbindung mit aktuellen psychotherapeutischen Ansätzen.
Rezension von
Susanne Gotzen
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Kompetenzteam Hochschuldidaktik TH Köln, systemische Beraterin
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