Jeanette Böhme (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs
Rezensiert von Dr. Remi Stork, 10.12.2009

Jeanette Böhme (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 350 Seiten. ISBN 978-3-531-16117-4. 34,90 EUR.
Thema
Obwohl pädagogisches Handeln immer in Räumen stattfindet und in der Praxis mitunter sogar vom Raum als dem „Dritten Erzieher“ gesprochen wird, ist die Bedeutung des Raumes im theoretischen Diskurs der Erziehungswissenschaften noch nicht besonders intensiv diskutiert worden. Angesichts der Vielfalt neuer raumsoziologischer Arbeiten und der Veränderungen schulischer Räume durch den Ausbau von Ganztagsschulen, Vernetzungen von Schulen in kommunalen Bildungslandschaften und nicht zuletzt der Zunahme der Bedeutung virtueller Räume hat die Herausgeberin ein breites Spektrum von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern versammelt, um den schulischen Bildungsraum neu zu „vermessen“.
Ziel
Das Anliegen des Buches ist eine Zwischenbilanz des Forschungs- und Theoriestandes zum Thema Schul- und Bildungsraum. Damit soll eine stark marginalisierte erziehungswissenschaftliche Forschungsperspektive aufgegriffen und gestärkt werden.
Herausgeberin
Dr. Jeanette Böhme ist Professorin am Fachbereich Bildungswissenschaft, Lehrstuhl für Schulpädagogik, der Universität Duisburg-Essen.
Aufbau und Inhalt
In ihrer ausführlichen Einführung über den Spatial Turn in der Schul- und Bildungsforschung stellt Jeanette Böhme einen ersten Problemaufriss an den Anfang des Buches. Sie begründet, warum das Thema Raum wieder eine wichtigere Rolle im erziehungswissenschaftlichen Diskurs erhalten sollte und welche Entwicklungen das moderne raumsoziologische Verständnis (insbesondere ein relationaler Raumbegriff) kennzeichnen. Sie verdeutlicht zudem, warum auch die Praxis gut daran täte, sich intensiver um architektonische und Raumgestaltungsfragen zu kümmern, die besonders auch die Aneignungsperspektive der Schülerinnen und Schüler zu untersuchen hätten.
Im zweiten Kapitel wird die Leitthese
des Buches von der Territorialisierungskrise des schulischen
Bildungsraums mit Bezug auf globalisierte Bildungsansprüche
(Jürgen Oelkers), die zunehmende Bedeutung informellen
Lernens (Bernd Overwien) und den medienkulturellen Wandel
(Sandra Aßmann / Bardo Herzig) diskutiert. So macht
Jürgen Oelkers deutlich, dass Bildung im Zeitalter der
Globalisierung eigentlich ein ganz anderes Raumprogramm – aber
auch ganz andere Curricula! – erfordere, als es Schulen derzeit
bieten könnten. Dies zeige sich vor allem im
Fremdsprachenunterricht, der eigentlich ein längeres Eintauchen
in die fremde Sprache, z.B. als Praktikum im anderen Land erfordere,
als das Sitzen im heimatlichen Klassenzimmer.
Im letzten Beitrag
dieses Kapitels setzt sich Daniela Ahrens aus theoretischer
Perspektive mit dem Begriff der institutionellen Entgrenzung
auseinander.
Im dritten Kapitel werden diverse
schulkonzeptionelle Beiträge versammelt. Michael
Göhlich gibt einen historischen Überblick über den
Zusammenhang von Schulräumen und Schulentwicklung seit dem
Mittelalter. Dabei ist die neue Bedeutung des Raumes in der
Reformpädagogik als Heim für die Schulgemeinde besonders
interessant. Die Frage, wie die neuen reformpädagogischen
Arbeitsformen (z.B. Gruppenarbeit und Selbstlernen) räumlich
unterstützt werden können, beschäftigt
Schularchitekten bis heute.
In den weiteren Beiträgen wird der
Frage nachgegangen, inwiefern es sich bei dem Konzept der
Ganztagsschule (Sabine Reh / Fritz-Ulrich Kolbe) in dem Reden
über Bildungslandschaften (Christian Reutlinger) oder in
den Praktiken des Homeschooling (Thomas Spiegler) um
Entgrenzungsphänomene des schulischen Raumes handelt.
Im vierten Kapitel sind verschiedene
Aufsätze versammelt, die sich mit der Frage der Wirkmächtigkeit
von Schulbauten auseinandersetzen. Christian Rittelmeyer
versucht eine semiotische Analyse von Schulbauten und setzt sich
dabei mit der ästhetischen Ausdruckskraft von Schulen
auseinander.
Ingrid Kellermann und Christoph Wulf untersuchen
rituelle Raumpraktiken in Schulen, wie z.B. Pausen, Feiern und
Gesprächskreise aus ethnographischer Perspektive, um
herauszufinden, wie Räume die Interaktionen beeinflussen.
Markus
Rieger-Ladich und Norbert Ricken legen eine programmatische
Skizze zur Erforschung von Schularchitekturen auf der Basis der
Arbeiten von Bourdieu und Foucault vor. Sie verdeutlichen, dass nicht
nur das alte „Frontalklassenzimmer“ einer durchgängigen
Machtlogik und -ökonomie folgt, „sondern auch das
reformpädagogisch konzipierte, dezentral organisierte und sozial
geöffnete Klassenzimmer disziplinierende Effekte hat, indem es
die Sichtbarmachung des Einzelnen intensiviert, die Verinnerlichung
der Anforderungen befördert und damit die Regulation als
Selbstregulation etabliert“. Die Macht- und Habitusanalysen von
Bildungsräumen auf der Basis der Lektüre von Foucault und
Bourdieu ermöglichen den Autoren, weiterführende Fragen zu
stellen. Diese betreffen nicht nur Fragen von Repression und Verbot
sondern auch Fragen von Aneignung und Ermöglichung von Bildung,
die durch Schularchitektur unterstützt oder eben verhindert
werden.
Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine Forschungsskizze
von Jeanette Böhme und Ina Herrmann anhand eines
laufenden Projektes zur Schulkulturforschung.
Im fünften Kapitel werden konkrete
pädagogische Ansätze vorgestellt, die der Architektur
eine besondere Bedeutung zusprechen. Nach einem einführenden
Text von Johannes Bilstein stellen Gerd E. und Lena Schäfer
die Bedeutung des Raumes in der norditalienischen Reggiopädagogik
vor. Auch wenn sie sich in ihren Ausführungen nicht auf die
Schule sondern den Kindergarten beziehen, wird hier die
konzeptionelle Bedeutung des Raumes „als dritter Erzieher“
doch besonders anschaulich.
In einem weiteren Aufsatz stellt Torsten
Blume die pädagogischen Gebäude des Bauhaus und ihre
Ziele der Gestaltung von Lebensvorgängen vor.
Im letzten Artikel
dieses Kapitels erläutert Karl-Dieter Bodack das Prinzip
des organischen Gestaltens und der Metamorphose am Beispiel der
Waldorfschulen.
Im letzten Kapitel des Buches werden
einzelne architektonische Gestaltungsparameter vorgestellt und
diskutiert. Ebenso, wie im fünften Kapitel, werden die Texte
durch geeignete Fotos illustriert. Einführend fasst Christian
Kühn die Schulbaudiskurse der 1960er und 70er Jahre
zusammen, in denen ein neuer Schulbau (große Schulzentren auf
der „grünen Wiese“) vor allem in Gesamtschulen
versucht wurde, der aus heutiger Perspektive als gescheitert gilt.
Er schildert aber auch die
erfolgreichen Bemühungen der amerikanischen Großraumschulen
aus dieser Zeit, die das Konzept des „Open Classroom“
entwickelten.
Laura Kajetzke und Markus Schroer stellen
das Konzept der schulischen Mobitektur vor, bei dem die Architektur
dem räumlichen Aneignungs- und Syntheseverhalten der
Schülerinnen und Schüler folgen soll. Die Architektur soll
demzufolge Mobilität ermöglichen und unterstützen. Das
alte immobile Klassenzimmer soll durch offene Lernlandschaften
ersetzt werden.
Wilfried Buddensiek berichtet von einem
konkreten neuen Schulbauprojekt, bei dem die Idee der „Fraktalen
Schularchitektur“ umgesetzt wurde. Im Kern des Schulneubaus
stehen die Gruppenarbeitstische, die von einem ebenfalls hexagonalen
Klassenraum umgeben sind.
Das Prinzip der Leichtigkeit und der
Flexibilität im Schulbau inspiriert auch Bernd Baier, der
verdeutlicht, wie die moderne Schularchitektur von der neuen
Wissenschaft der Bionik lernen kann.
Im letzten Aufsatz beschäftigt
sich Patrick Jakob mit der Frage, wie Schulen im Zeitalter der
Informationsgesellschaft virtuelle Architekturen ausprägen
können bzw. sollen.
Diskussion
Die deutsche Schule ist offensichtlich zu lange Zeit von den Prinzipien des Protestantismus (durchgängiges Arbeiten) des Militarismus (Nachbau von Kasernen zur Disziplinierung der Schüler) und der Optimierung von Hygieneanforderungen geprägt gewesen. Besonders seit dem Zeitalter der Reformpädagogik gab es immer wieder Ausbruchsversuche aus diesen prägenden und bestimmenden Kategorien. Allerdings sind viele moderne Versuche mit neuartiger Schularchitektur auch nicht von besonderem Erfolg bestimmt gewesen, wie z.B. die Architektur der Gesamtschulen und Schulzentren der 1960er / 70er Jahre im Nachhinein verdeutlicht. Die Beiträge des Sammelbandes von Jeanette Böhme machen deutlich, wie vielfältig Reformversuche und Alternativen sind, die von der Waldorfpädagogik bis zum Bauhaus reichen. Aus theoretischer Perspektive mangelten die meisten Architekturstile im Schulbau daran, dass sie die Schülerinnen und Schüler und ihre Bedürfnisse nicht angemessen in den Blick nahmen. Zahlreiche Aufsätze dieses Buches machen deutlich, wie notwendig es ist, durch eine ethnographische Beobachtung des Schulalltags Ideen zu einer flexibleren Bauweise von Schulen zu entwickeln. Dass architektonische Fragen immens mit pädagogischen Vorstellungen von Schule korrespondieren, kann nicht überraschen. Dass aber die Architektur und die Erziehungswissenschaft sich aus dem Denken und Reden über die Schulraumgestaltung über Jahrzehnte zurückgezogen haben und das Geschäft den Bauingenieuren als den eigentlichen Machern überlassen haben, wird beim Lesen des Sammelbandes mehr als deutlich.
Fazit
Die neuen Herausforderungen von Schule, die als Ganztagsschule neue Leitorientierungen (individuelle Förderung, Abbau von Bildungsungerechtigkeit …) im kommunalen Bildungsnetzwerk umsetzen soll, machen die Diskussion von raum-zeitlichen Kontexten und auch von praktischen Fragen der Schularchitektur dringend erforderlich. Insofern kommt der Sammelband von Jeanette Böhme zur rechten Zeit und wird sicherlich die theoretischen Diskurse anregen und begleiten können. Die thematische Breite des Bandes ist erstaunlich und überzeugend. Viele Beiträge werden trotz der vorgegebenen Orientierung an Theorie auch recht praktisch und zeigen konkrete gestalterische Perspektiven auf. Dabei sind vor allem die zahlreichen Fotos hilfreich und erhellend.
Dass der Band für Praktikerinnen und Praktiker nur begrenzt hilfreich ist, da Hinweise auf konkrete Praxisbeispiele meist nicht weitergehend verfolgt werden, darf man dem Buch nicht vorwerfen, da es vornehmlich für den theoretischen Diskurs gedacht ist.
Rezension von
Dr. Remi Stork
Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt „Hilfen zur Erziehung“ an der FH Münster.
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Zitiervorschlag
Remi Stork. Rezension vom 10.12.2009 zu:
Jeanette Böhme (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-16117-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7791.php, Datum des Zugriffs 31.01.2023.
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