Rainer A. Roth: Als Solidaritätsstifter unentbehrlich
Rezensiert von Prof. Dr. Karl-Heinz Boeßenecker, 01.04.2003

Rainer A. Roth: Als Solidaritätsstifter unentbehrlich. Beitrag der Wohlfahrtsverbände zur Förderung von Bürgerengagement und Aufbau der Zivilgesellschaft. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2002. 316 Seiten. ISBN 978-3-7841-1437-8. 22,00 EUR. CH: 38,10 sFr.
Das Thema
Innerhalb der ordnungspolitischen Debatte in der Bundesrepublik Deutschland befassen sich verschiedene Konzepte seit nunmehr über 20 Jahren mit diversen Umbauperspektiven des Sozialstaates, die hierbei vor allem auf eine Wiederbelebung und Aktivierung des freiwilligen, bürgerschaftlichen Engagements setzen. Angesichts der prekären öffentlichen Haushaltslage geht es hierbei nicht nur um eine bürgernahe Ausgestaltung der von öffentlichen und freigemeinnützigen Trägern angebotenen Dienstleistungen. Ebenso liegt die strategische Option zugrunde, Dienstleistungen in einer neu auszugestaltenden Mixtur von Hauptamtlichkeit und Freiwilligenarbeit zu erbringen. Die Debatte ist geprägt von sehr differenten Politik- und Verbandsinteressen und die unterschiedlichsten Begriffe und Überschriften werden hierbei benutzt. Konzeptionell und programmatisch findet sie ihren Ausdruck in kaum noch zu übersehenden Veröffentlichungen, Symposien und Fachveranstaltungen. Handlungspraktisch und organisationsbezogen zeigen sich ebenfalls mannigfaltige Aktionen und Gründungsaktivitäten, mit denen unter anderem der Aufbau von Freiwilligenzentralen und ähnlichen Einrichtungen betrieben wird. Das Ziel, freiwilliges Engagement zu fördern, gehört inzwischen zum festen Bestandteil der Tagesordnungen von staatlichen und wohlfahrtsverbandlichen Organisationen, selbst innerhalb wirtschaftlicher Unternehmen findet das Thema zunehmend Beachtung. Insbesondere die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege haben das Thema Ehrenamt im Rahmen ihrer strategischen Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen erneut aufgegriffen und zum Teil ihrer organisatorischen Binnenmodernisierung erklärt. Sie gründeten Arbeitskreise und Initiativen und belegen durch verbändespezifische Daten die diesbezügliche Relevanz ihres Beitrags zur Bürgergesellschaft. All diese Aktivitäten realisieren sich im Kontext einer öffentlichen Debatte, die vor allem durch die Politik flächendeckend inszeniert wurde. Modellprogramme wurden initiiert, Untersuchungen und wissenschaftliche Begleitprogramme in Auftrag gegeben und im Dezember 1999 beschlossen die Mitglieder des Deutschen Bundestages fraktionsübergreifend die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Problematik der "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements". Die damit verbundenen Debatten sowie die zahlreichen Aktivitäten eines sich schillernd darstellenden Maßnahmebündels unterschiedlichster Organisationen und Verbände kumulierten 2001 im "Internationalen Jahr der Freiwilligen" und prägten zeitweise die öffentliche Diskussion. Mittels einer von der Bundesregierung groß angelegten Werbestrategie (www.freiwillig.de) konnte man zeitweise den Eindruck gewinnen, Deutschland transformiere sich zu einer neuen Bürgergesellschaft. Das Internationale Jahr der Freiwilligen ist vorbei, die Enquete-Kommission hat ihre Arbeit getan und einen fulminanten Bericht vorgelegt; alle relevanten Lobbyisten, verbandlichen und politischen Akteure haben zum Thema gesagt, was zu sagen war. Inzwischen geht es dem Thema "Bürgerengagement" nicht besser und nicht schlechter als anderen tagespolitischen Konjunkturen ausgesetzten headlines. Der Zenit der öffentlichen Wahrnehmung und Sensibilisierung ist überschritten, zurückgekehrt ist der Alltag und es stellen sich Aufgaben der Nacharbeit und Konsolidierung begonnener Aktivitäten. Das hier vorzustellende Buch reiht sich in diese jüngste Phase ein.
Der Herausgeber / der Hintergrund
Rainer A. Roth ist Professor an der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Sein Lehrstuhl befasst sich mit der Didaktik der Sozialkunde, wobei in jüngster Zeit ebenso Fragen nach der Bedeutung des freiwilligen Engagements im Forschungsinteresse stehen. Ob dieser Hintergrund ihn aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes für die Aufgabe prädestinierte, die durch die Bundestags-Enquete-Kommission in Auftrag gegebenen Gutachten unter dem Blickwinkel der Rolle der Wohlfahrtsverbände auszuwerten und einzuschätzen, bleibt in der vorliegenden Veröffentlichung ungenannt. Jedenfalls ging Roth mit einem kleinen Team von Mitarbeiterinnen dieser Aufgabe nach. Das Ergebnis dieser Textzusammenfassung und Auswertung ist beeindruckend und verdient Beachtung.
Der Inhalt
Das Buch befasst sich mit dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements", der im Juni 2002 als BT-Drucksache 14/8900 dem Parlament vorgelegt wurde und seitdem öffentlich zugänglich ist. Von der Enquete-Kommission wurden insgesamt 53 Gutachten und Expertisen in Auftrag gegeben. Die überwiegende Mehrzahl dieser Gutachten sind in der hier vorgestellten Publikation unter der Problemstellung "Beiträge der Wohlfahrtsorganisationen zur Förderung von Bürgerengagement und zum Aufbau der Zivilgesellschaft" studiert und ausgewertet. Für die Analyse und Interpretation wurden nach einer genaueren Sichtung letztlich 38 Expertisen herangezogen.
Das Buch besteht aus einem einführenden und kommentierenden Textteil sowie einem ausführlichen Materialanhang. Dieser materialreiche Anhang enthält eine Liste der Gutachten sowie jeweilige Zusammenfassungen der bearbeiteten Expertisen mit zusätzlich angefügten einschlägigen Textauszügen. Zum Anhang gehört ebenfalls der Originaltext der Stellungnahme des Caritasverbandes zur Zukunft bürgerschaftlichen Engagements, der für die Verbände-Anhörung der Enquete-Kommission im November 2000 erstellt wurde.
Gegliedert ist der einführende und kommentierende Textteil in drei Hauptabschnitte.
1. Zur Ausgangssituation
2. Beiträge der Wohlfahrtsverbände zur Förderung von Bürgerengagement und zum Aufbau der Zivilgesellschaft aus der Sicht von Gutachten, die für die Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" erstellt wurden
3. Konsequenzen für die Wohlfahrtsverbände
Im ersten Teil wird zunächst die allgemeine Debatte, werden Auftrag und Anliegen der Enquete-Kommission zusammenfassend referiert und hieran anschließend das Selbstverständnis der Wohlfahrtsverbände, insbesondere des Caritasverbandes präsentiert. Der zweite Textteil stellt den eigentlichen Kern des Buches dar. Unter differenzierten Gesichtspunkten werden aus den Gutachten die aus jeweiliger Sicht eingeschätzten Beiträge der Wohlfahrtsverbände zur Förderung von Bürgerengagement herausgefiltert und kommentiert. Die Hauptüberschriften heißen:
- Kritische Sichtweise der historischen Entwicklung
- Globale Tendenzen
- Deutsche Besonderheiten
- Probleme des sozialen Wandels
- Veränderte Jugendzeit
- "Zwei politische Kulturen" in Deutschland?
- Die Entzauberung der Wohlfahrtsorganisationen
- Anregendes und Weiterführendes zu Bürgerengagement, Mediatisierungsleistungen durch Wohlfahrtsverbände und aktive Bürgergesellschaft
- Wohlfahrtsverbände als Solidaritätsstifter - am Ende ein Aufbruch?!
- Konsequenzen für die Wohlfahrtsverbände
Die hierzu von Roth und Mitarbeiterinnen vorgenommenen Kommentierungen lassen eine solidarisch-modernistische Haltung gegenüber der Rolle der Wohlfahrtsverbände erkennen, die sich argumentativ vor allem auf die im Deutschen Caritasverband stattfindenden Modernisierungsprozesse stützt.
Auch wenn die Textüberschriften suggerieren, die vorgenommene Analyse der Expertisen befasse sich mit den Wohlfahrtsverbänden insgesamt, so macht die Kommentierung deutlich, dass es dem Autorenteam im engeren Sinne um den Deutschen Caritasverband geht. Die aus vielen gutachterlichen Stellungnahmen zum Ausdruck kommende kritische Bewertung der Wohlfahrtsverbände wird hierbei mit Verweis auf verbandspolitisch vorgenommene neue Akzentuierungen und Beschlusslagen zum Thema "Ehrenamt" sowie durch die Praxis der Caritas-Freiwilligenzentralen relativiert und wenn überhaupt, so als nur teilweise zutreffend charakterisiert. Schluss und Ausblick fallen deshalb nicht von ungefähr optimistisch aus und bestätigen die eingeschlagene Entwicklung des Verbandes. Argumentiert wird, dass der Caritasverband sich in der vorgenommenen Rollenerweiterung als Dienstleister und Anwalt zu Recht als Solidaritätstifter sieht, der aktiv zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft beiträgt.
Zielgruppen
Ganz sicher dürfte das Buch eine argumentative Unterstützung für all jene sein, die sich im organisatorischen Kontext der Wohlfahrtsverbände ehrenamtlich engagieren. Allerdings wird diese Gruppe von Leser/innen wohl kaum die Zeit und Muse finden, sich mit den detailreichen Facetten der vorgenommenen Analyse intensiver zu befassen und sich deshalb eher auf den zusammenfassenden Überblick für "eilige Leser" begrenzen. Wohl eher ist der Text für mit dem Thema "Bürgerengagement" befasste Profis und wissenschaftlich Interessierte interessant und insbesondere für diesen Personenkreis zu empfehlen.
Fazit
Mit der Veröffentlichung liegt ein interessanter und aufschlussreicher Text vor, der den vorliegenden Gesamtbericht der Enquete-Kommission sinnvoll ergänzt. Durch die vorgenommene Fokussierung auf die "Rolle der Wohlfahrtsverbände bei der Ausgestaltung von Bürgerengagement" und die damit unmittelbar verbundenen Aspekte werden nicht nur sehr unterschiedliche normative Orientierungen innerhalb der ausgewerteten Expertisen deutlich, sondern ebenfalls auch die neu vorgenommene strategische Option des Deutschen Caritasverbandes in dieser Frage. Schade ist es, dass dieser Auswertungsaspekt ausschließlich auf die Rolle des DCV begrenzt bleibt und die Beiträge der übrigen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege unberücksichtigt lässt. Die diesbezügliche Rolle der Wohlfahrtsverbände bleibt auch mit diesem Buch weiterhin Spekulationen und normativen Programmaussagen ausgesetzt, so dass eine notwendige komparative Analyse damit weiterhin aussteht.
Rezension von
Prof. Dr. Karl-Heinz Boeßenecker
bis 2009 Leiter des FSP Wohlfahrtsverbände / Sozialwirtschaft der Hochschule Düsseldorf; Prof. am Zentrum für Planung und Organisation sozialer Dienster, Universität Siegen; Prof. für Sozialmanagement an der Hochschule des DRK Göttingen (nicht mehr bestehend!); hauptamtlicher Dekan a.D./Vizepräsident und Professor für Verwaltungs- und Organisationswissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Fakultät Wirtschaft und Soziales, seit 2011 im Ruhestand. Lehrbeauftragter an der Leuphana Universität Lüneburg. Nebenberuflicher Direktor am Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft – IZGS - der Evangelischen Hochschule Darmstadt, www.izgs.de. Inhaber und Leiter des Instituts für sozialwissenschaftliche Politik- und Organisationsberatung – ISP – Köln
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Es gibt 13 Rezensionen von Karl-Heinz Boeßenecker.
Zitiervorschlag
Karl-Heinz Boeßenecker. Rezension vom 01.04.2003 zu:
Rainer A. Roth: Als Solidaritätsstifter unentbehrlich. Beitrag der Wohlfahrtsverbände zur Förderung von Bürgerengagement und Aufbau der Zivilgesellschaft. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2002.
ISBN 978-3-7841-1437-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/780.php, Datum des Zugriffs 26.09.2023.
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