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Benjamin Jörissen, Winfried Marotzki: Medienbildung - Eine Einführung

Rezensiert von Sarah Wüst, 03.11.2009

Cover Benjamin Jörissen, Winfried Marotzki: Medienbildung - Eine Einführung ISBN 978-3-8252-3189-7

Benjamin Jörissen, Winfried Marotzki: Medienbildung - Eine Einführung. Theorie - Methoden - Analysen. UTB (Stuttgart) 2009. 260 Seiten. ISBN 978-3-8252-3189-7. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 34,00 sFr.
Reihe: UTB M (Medium-Format.

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Thema

Der Begriff der Medienbildung ist vergleichsweise neu; Definition und Theoriebildung stehen noch am Anfang. So wird Medienbildung einerseits mit der Vermittlung einer reflektierten Medienkompetenz gleichgesetzt, während der Gegenstand andernorts als Teil der Persönlichkeits- und Allgemeinbildung konzeptualisiert wird. In letztgenannte Richtung weist auch das bildungstheoretisch fundierte Konzept der „Strukturalen Medienbildung“ von Benjamin Jörissen und Winfried Marotzki, das beansprucht, die orientierenden Potenziale von Medien für Bildungsprozesse freizulegen.

Aufbau

Die Einführung in die „Strukturale Medienbildung“ verbindet modernitäts- und bildungstheoretische Ansätze (Kapitel 2) mit exemplarischen Analysen in den Feldern Film (Kapitel 3), Fotografie (Kapitel 4) und Internet (Kapitel 5).

Strukturale Bildungstheorie

Jörissen/Marotzki entwickeln ihren erziehungswissenschaftlichen Bildungsbegriff in Abgrenzung zu einer kanonorientierten Sichtweise und favorisieren eine formale Bildungstheorie im Humboldtschen Sinne, die Bildung als Wandel der Selbst- und Weltreferenz von Individuen begreift. Bildung lasse sich somit nicht auf Faktenwissen reduzieren; für die lebensweltliche Orientierung würden eine reflexive Haltung, ein flexibler Umgang mit Wissensbeständen, tentative Erfahrungsstrukturen und die Einsicht in Grenzen zunehmend wichtiger.

Strukturale Medienbildung

Die Autoren betrachten Medien nicht primär in ihrer Vermittlerrolle, sondern in ihrer Konstitutionsleistung für Wahrnehmung und Weltaneignung sowie als Interaktions- und Kulturraum an sich. Sie gehen davon aus, dass Sozialisation und Bildungsprozesse zunehmend und unhintergehbar medial erfolgen. Ihr Modell der „Strukturalen Medienbildung“ operationalisieren sie über vier Bildungsdimensionen: Die Reflexion, wie verschiedene Wissensbestände medial arrangiert sind (1), die Reflexion von Handlungsoptionen, die sich in konkreten sozialen Kontexten ergeben (2), die Reflexion von Grenzen – etwa zwischen Rationalität und Irrationalität, Eigenem und Anderen – (3) sowie die Reflexion von Biografisierungsprozessen, von subjektiven Relevanzen und Werten (4).

Die Reflexionsprozesse werden anhand exemplarischer Analysen in den Feldern Film, Fotografie, Internet dargestellt. Die Kapitel beginnen jeweils mit einer Erläuterung der Struktureigenschaften des Mediums und behandeln sodann die vier Bildungsdimensionen Wissensbezug, Handlungsbezug, Grenzbezug und Biografiebezug.

Film

Unter „Audiovisuellen Artikulationsformen“ stellen Jörissen/Marotzki die neoformalistische Filmanalyse vor, bevor sie den formal experimentellen Film „Ararat“ (2002) auf seine Reflexionsoptionen hin untersuchen. Die vier Bildungsdimensionen werden sodann schlaglichtartig anhand historischer und aktueller Filmbeispiele diskutiert, wobei sich die Autoren jedoch lediglich „auf die Ebene der Narration beschränken; die formalen visuellen Aspekte der Filme sind dabei implizit in der Rekonstruktion der Narrationsstruktur und der Symbolgehalte berücksichtigt“ (S.60). In einer Vertiefung wird gezeigt, wie Filme Erinnerung thematisieren und inszenieren.

Fotografie

Für die bildungstheoretische Perspektive auf „Visuelle Artikulationsformen“ rekurrieren Jörissen/Marotzki auf den „Visual Culture“-Diskurs. Inspiriert durch die neoformalistische Filmanalyse entwickeln sie das Bildinterpretationsmodell von Erwin Panofsky weiter: Nachdem die Objekte beschrieben und einer reflexiven Kontrolle der kulturellen Bedeutungsgehalte unterworfen wurden, werden Bedeutungshypothesen aufgestellt, die über eine Formanalyse ausgearbeitet werden; dem schließt sich eine Analyse der Selbst- und Weltreferenzen aus bildungstheoretischer Perspektive an. Die Autoren diskutieren verschiedene fotografische Arbeiten, wobei sie auf der Grundlage ihres Modells eine Fotografie je Orientierungsdimension ausführlich interpretieren.

Internet

Unter dem Titel „Neue Artikulations- und Partizipationsräume des Internet“ zeichnet das Kapitel zunächst die Entwicklung des Mediums nach und hebt dessen weitreichend gesellschaftliche Bedeutung als globalen transkulturellen Raum hervor. Die Autoren stellen beispielsweise unter der Bildungsdimension Wissensbezug Wikipedia als Beispiel für kollaborative Wissensprojekte heraus und führen etwa unter Handlungsbezug soziale Netzwerke als neue Vergemeinschaftungsformen an.

Diskussion

Der Band von Jörissen/Marotzki bietet eine interessante, wenngleich konzeptionell nicht immer konsequente Einführung in die „Strukturale Medienbildung“. Überzeugend sind die grundlegenden Prämissen des Konzepts: das Verständnis von einer unhintergehbar medialen Sozialisation, der von jeglichem Medienpessimismus freie Blick, die Forcierung eines formalen Bildungskonzepts. So verständlich die Autoren ihr vierdimensionales Modell herleiten und so anschaulich sie es im bildungstheoretischen Kontext verorten, so schmerzhaft vermisst man indes eine Situierung in der aktuellen Theoriediskussion um Medienbildung, Medienpädagogik, Medienkompetenz etc.

Die Proklamierung einer strikt strukturalen Methode können die Kapitel zu den medialen Artikulationsformen nur bedingt einlösen, erschließen sie doch die Bildungspotenziale von Medien gerade nicht losgelöst vom Inhalt. Von diesem Widerspruch zeugt insbesondere das Filmkapitel, in dem die Diskussion der vier Bildungsdimensionen auf die narrative Ebene beschränkt bleibt. Zwar erweist sich die vorangestellte Formanalyse als aufschlussreich, doch sie büßt ihre Exemplarität und Relevanz durch den überaus experimentellen Charakter des untersuchten Films ein und kann die konzeptionelle Inkonsequenz nicht kompensieren.

Eine Stärke des Bandes liegt in der Darlegung theoretischer Grundlagen zu Film und Fotografie. Sehr schlüssig ist die Methode, die Jörissen/Marotzki entwickeln und anwenden, um die orientierenden Potenziale von Fotografien für Bildungsprozesse zu diskutieren. Gleichwohl legt sich ein gewisser, dem formalen Bildungskonzept widersprechender normativer Schleier über dieses Kapitel, suggeriert die Rekonstruktion des sozialen bzw. personalen Entstehungskontexts der Fotografien doch stets, dass es die eine Wahrheit aufzuspüren gilt.

Es liegt in der Natur des Mediums, dass sich das Internet für eine Analyse struktureller Prägung besonders eignet. Dessen Bildungspotenzial hätte indes beim Wissens- und Handlungsbezug stärker herausgearbeitet werden können: Man vermisst prägnante Schlussfolgerungen in diesen Unterkapiteln, die über eine deskriptive Bestandsaufnahme nicht hinausgehen. In den Ausführungen zum „Leben in der Virtualitätslagerung“ und zur „Strukturalen Avatar-Ethnografie“ hingegen argumentieren die Autoren pointiert und schlüssig. Überhaupt gewinnt die Einführung immer dort an Prägnanz und bietet Lesevergnügen und Erkenntnisgewinn, wo sie exemplarisch in die Tiefe geht, wie auch die „Audiovisuellen Erinnerungsbilder“ zeigen.

Auffallend ist die stilistische Diskrepanz des Bandes: Während in Kapitel 2 zuweilen Paraphrasierungen das Lektürevergnügen trüben – auch der Einführungscharakter kann Redundanzen in diesem Umfang nur bedingt entschuldigen – sind die Ausführungen etwa in Kapitel 4 vergleichsweise komplex und voraussetzungsreich.

Fazit

Der Band führt in das Konzept der „Strukturalen Medienbildung“ ein, das über vier Bildungsdimensionen bzw. Reflexionsfelder operationalisiert wird. Überzeugend ist die bildungstheoretische Verortung, eine Situierung in der aktuellen Theoriediskussion um Medienbildung und Medienpädagogik fehlt hingegen gänzlich. Wenngleich das Gesamtkonzept nicht vollends überzeugen kann, liefert die Einführung anhand der drei medialen Artikulationsformen Film, Fotografie und Internet dennoch einen guten Überblick über Orientierungsleistungen und Bildungswert von Medien, die längst selbst zum Kultur- und Lebensraum geworden sind.

Rezension von
Sarah Wüst
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Es gibt 1 Rezension von Sarah Wüst.

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Zitiervorschlag
Sarah Wüst. Rezension vom 03.11.2009 zu: Benjamin Jörissen, Winfried Marotzki: Medienbildung - Eine Einführung. Theorie - Methoden - Analysen. UTB (Stuttgart) 2009. ISBN 978-3-8252-3189-7. Reihe: UTB M (Medium-Format. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7800.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.


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