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Michael Kasperowitsch: Nachkriegsleben

Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. Alfons Limbrunner, 11.09.2009

Cover Michael Kasperowitsch: Nachkriegsleben ISBN 978-3-938400-46-3

Michael Kasperowitsch: Nachkriegsleben. Literarische Reportagen aus dem westlichen Balkan. fibre Verlag (Osnabrück) 2009. 157 Seiten. ISBN 978-3-938400-46-3. 16,80 EUR.

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Thema, Autor, Entstehungshintergrund

Jahrzehnte, bis zu Titos Tod und nur wenige Jahre danach, hatten die Menschen in den sechs Teilrepubliken des früheren Jugoslawien unter der starken Führung des Marschalls in der weißen Uniform fast mustergültig zusammengelebt. Was danach passierte, ist jüngste Geschichte, verwoben mit verhängnisvollen Kriegen, brutalen Terroraktionen von Freischärlern, Geheimpolizisten und Milizen gegen die Bevölkerung. Menschen wurden aus ganzen Landstrichen mit unvorstellbarer Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit vertrieben und zwangsweise umgesiedelt. Zum Teil konnten sie später wieder in ihre früheren Dörfer zurückkehren. Michael Kasperowitsch, Redakteur bei den Nürnberger Nachrichten, hat sich über die Jahreswende 2006/07 ein halbes Jahr Auszeit genommen, um in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien und dem Kosovo zu recherchieren. Um zu sehen, zu hören und zu spüren, welche Spuren die Flammenherde, die äußere Gewalt, der todbringende Terror der bewaffneten Gewalttäter hinterlassen haben.

Orte, Menschen, Schicksale

Vorgefunden hat er ein mit stillem Hass und verborgenen Vorbehalten vermintes Gelände. In sechs Reportagen berichtet Kasperowitsch aus Mitrovica und Zvornik, aus Knin, dem einstigen Serben-Zentrum in Kroatien, aus Mostar, der immer noch zwischen katholischen Kroaten und muslimischen Bosniern strikt geteilten Stadt und vom serbischen Kloster Dečani im Kosovo. Gemeinsam ist diesen Orten und den Menschen, denen der Journalist eine Stimme verleiht, eine Sicht der Dinge, die überlagert ist von Aussichtslosigkeit, Nicht-wahrhaben-wollen, Verdrehungen und Lügen.

Da ist die Geschichte des jungen Miloš und seinem Onkel Mića.

Sie leben in Mitrovica, jener Stadt im nördlichen Kosovo, in der Albaner und Serben getrennt durch den Fluss Ibar, in mehr oder weniger unterschwellig explosivem Zustand leben. Der Junge stammt aus Osojane, einer kleinen serbischen Enklave rund 50 Kilometer südlich und lebt während der Schulzeit beim Onkel im heute fast rein serbischen Norden der Stadt. Dem teilnehmenden Beobachter gelingt eine Milieustudie, wie sie beispielhafter nicht sein könnte. Die Stadt, das Viertel, das Haus in seiner unmittelbaren Umgebung, die Wohnung des Onkels, das Zimmer Miloš, verbinden sich mit deren Gefühlen, Gedanken und Ansichten in einer Mischung aus Resignation, Ärger und Hass. Die Verbitterung des Jungen, die er vermutlich mit dem Großteil der Serben weltweit teilt: „Kosovo ist die Seele Serbiens…“ Deutlich wird zudem, wie verfahren und unlösbar die Situation in der geteilten Stadt ist. Jeder Versuch, das unlösbare Knäuel aus Vertreibung, Vorwürfen, Anklagen und Ansprüchen zu entwirren, birgt die Gefahr erneuter gewalttätiger Unruhen. Wer an einem Ende des Faden zöge, bekäme am anderen eine Gegenkraft zu spüren, der Wirkung niemand vorausberechnen kann.

Die 65-jährige Muslima Refka hat die Gräuel der Vertreibung in Zvornik, Republika Srpska, überlebt. An die fünfzigtausend Moslems haben die Serben aus der Stadt gejagt, von denen ein Teil wieder in ihre von Gewalt gezeichnete Region zurücktröpfelt. Refka ist eine von ihnen. Zehn Jahre verbrachte sie als Flüchtling in Österreich. Jetzt lebt sie wieder in der Aussichtslosigkeit ihrer Heimatstadt, in einem Viertel, deren Behausungen aus altem Gemäuer, neuen, schmalen und unverputzten Gebäuden und wucherndem Gestrüpp besteht. Geredet wird über die Ereignisse des Krieges auf den Straßen von Zvornik heute allerdings nicht mehr. Refka hält das auch für das Beste. Dieses selbst verordnete Schweigen hat sich bei den Älteren im Laufe der Jahre Schicht um Schicht wie ein wohltuender Verband notdürftig über die verwundete Stadt gelegt. Er verdeckt die längst nicht verheilten Verletzungen auch vor den eigenen Blicken. Es muss sich niemand genau ansehen, wie es um das dahinsiechende Zusammenleben bestellt ist und warum. Die Salbe des Verdrängens bietet Schutz und verhindert seit Jahren ein erneutes Aufbrechen der Wunden. Serben und Muslime gehen sich, wenn möglich, aus dem Weg. Und mit ihnen die Imame und Priester, die die Mehrheit, die serbische Orthodoxie, vertreten. Sprach- und Hilflosigkeit, deren Maskierung manchmal schwer zu ertragen ist. Dafür werden im bosnischen Kirchenkampf, sagt Refka „… auf Teufel komm raus, Gotteshäuser gebaut.“

Fazit: Warum es sich lohnt, dieses Buch zu lesen

Die Geschichte der Kriegshandlung zwischen den Jahren 1990 und 2000 mit ihren politischen Machtkämpfen und dem vielfachen Versagen der internationalen Gemeinschaft, ist von Experten gut ausgeleuchtet und dokumentiert. Auf dem Balkan gärt es weiterhin. Auch, weil die EU ihre Versprechen für Annäherung und Beitritt nicht hält. Wurde nicht allen Balkanländern vor sechs Jahren in Thessaloniki eine Beitrittsperspektive angeboten? Das Versprechen hatte in Südosteuropa durchaus positive Auswirkungen. Aber weil nichts passiert, mehren sich in einigen Ländern wiederum die schrillen Töne. Das, was auf der makrosozialen, der nationalen und internationalen Ebene geschieht bzw. nicht geschieht, steht in einem innigen Zusammenhang mit den mikrosozialen Verhältnissen. Das ist das weite Feld, wie heute die Menschen, einstige erbitterte Gegner und Angehörige der Opfer, ihren Alltag gestalten und sich als Nachbarn begegnen. Genau hier setzen die sechs Reportagen an. Durch sie erfahren wir hautnah über die Menschen und ihre Schicksale. Politische Stagnation, verbunden mit dem Desinteresse, wie es diesen Menschen ergeht, könnte die Lage auf der balkanischen Großbaustelle wieder einmal außer Kontrolle geraten lassen.

Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. Alfons Limbrunner
lehrte Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und ist als Autor, Coach und Supervisor (DGSv) tätig.

Es gibt 6 Rezensionen von Alfons Limbrunner.

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ISSN 2190-9245