Derrick Jensen: Das Öko-Manifest
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 20.10.2009
Derrick Jensen: Das Öko-Manifest. Wie nur 50 Menschen das System zu Fall bringen und unsere Welt retten können.
Pendo Verlag
(München) 2008.
512 Seiten.
ISBN 978-3-86612-215-4.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 43,90 sFr.
Aus d. Amerikan. v. Thomas Pfeiffer u. Marion Schweizer.
Vorbemerkung
Die vorliegende Rezension ist identisch mit der Rezension des Buches von Derick Jensen Endgame. Beide Bände sind eher willkürlich als aus inhaltlichen Gründen in zwei verschiedene Titel geteilt - im englischsprachigen Original ist das auch deutlicher zu erkennen (s.u.). Da bei socialnet Sammelrezensionen aus technischen und konzeptionellen Gründen nicht möglich sind, erscheinen also zu beiden Bänden identische Rezensionstexte.
Thema
Die Welt gerät aus den Fugen. Die Spezies Homo sapiens macht sich blindwütig aus Kapital- und Machtinteressen die Welt untertan. Verwüstungen des Landes, Verschmutzungen des Trinkwassers, der Meere und der Luft, das Artensterben bei Pflanzen und Tieren, all das geschieht tagtäglich in allen Regionen der Welt. Und nicht erst seit 100 oder 200 Jahren, denn bereits in der Antike wurde Raubbau an der Umwelt betrieben, wie der fast vollständig entwaldete Mittelmeerraum belegt. Nur bei gegenwärtig 6 Milliarden Menschen nimmt diese Umweltzerstörung exponentiell zu. Der ungebremste CO²-Zuwachs und die Klimaerwärmung sind Indikatoren für die Krise des globalen Ökosystems. All das ist bereits Allgemeinwissen seit Jahrzehnten, doch gravierende Änderungsprozesse im gesamtgesellschaftlichen Umfang haben die Sphäre bloßer Empfehlungen und Planspiele von Experten nicht überschreiten können. Legion sind mittlerweile die Publikationen, die diese Missstände beschreiben, analysieren und interpretieren. Legion sind mittlerweile auch die Veröffentlichungen, die Modelle und Strategien zur Lösung oder Milderung dieses globalen Wahnsinns enthalten. Die folgenden beiden Bände ( im englischsprachigen Original: „Endgame. Volume I. The Problem of Civilisation“ und „Endgame. Volume II. Resistance”) lassen sich in diese Kategorien von Schriften einordnen.
Autor
Derrick Jensen wird als ein Aktivist, Farmer, Bienenzüchter, Lehrer und Philosoph vorgestellt, der einen Abschluss in kreativen Schreiben und Physik hat und u. a. an der Eastern Washington University unterrichtet. Derrick Jensen hat bereits mehrere Bücher zu diesem Themenbereich Umwelt und Umweltzerstörung in den USA veröffentlicht. Er lebt in Nordkalifornien.
Aufbau und Inhalt
Die beiden Bücher sind jeweils in 32 bzw. 33 Kapitel untergliedert, deren Inhalte jedoch nicht stringent aufeinander aufbauen. Es sind eher Variationen zu verschiedenen Themen der Umweltproblematik. Faktendarstellung reiht sich an Analyse, Interpretation an Aufruf, Biografisches an Vision etc. Und ständig, fast schon gebetsmühlenartig wird der Appell wiederholt, doch endlich die Staudämme zu sprengen, damit die Lachse wieder zu ihren Laichplätzen gelangen können. Und die Masten für den Mobilfunk gilt es zu fällen, die für den Tod von Millionen Zugvögeln in jedem Jahr verantwortlich gemacht werden. Und im Anschluss dieser Aufforderungen verweist er, sich ständig wiederholend, dass er selbst hierzu zu feige sei. Er hätte Angst vor dem Gefängnis und würde sich daher lieber auf das Schreiben über diese Missstände beschränken wollen.
Unter anderem werden folgende Themen und Fragestellungen auf den insgesamt ungefähr 1000 Seiten Text bearbeitet:
- Das nahende Ende der Ölförderung (Hubbert-Kurve) und deren Folgen für die Wirtschaft und Gesellschaft.
- Umweltkatastrophen wie die „toten Zonen“ im Golf von Mexiko oder in der Ostsee. Hierbei handelt es sich um Meeresgebiete, die aufgrund von Sauerstoffmangel keinerlei pflanzliches und tierisches Leben mehr enthalten.
- Die drohende Gefahr durch das gegenwärtig noch im Erdreich (Tundra u. a.) gefrorene und gebundene Treibhausgas Methan für das Leben auf Erde, denn bereits zweimal führten massive Methanaustritte aufgrund der Erderwärmung fast zum Aussterben jedweden irdischen Lebens (vor ca. 251 und 51 Millionen Jahren).
- Die immensen Ausgaben für Zigaretten, Alkohol, Betäubungsmittel und Militärausgaben weltweit als Symptome für die Unerträglichkeit des psychosozialen Daseins in der Zivilisation der Gegenwart.
- Die Entfremdung von der natürlichen Umwelt (Wälder, Flüsse, Berge u. a.) bei zivilisierten Menschen: sie können sich u. a. nicht mehr an Naturphänomenen wie die Morgendämmerung, Abendsonne und den Frühling erfreuen.
- Den historischen Sachverhalt, dass viele der frühen Siedler in Nordamerika sich den Indianerstämmen anschlossen, da deren Gemeinschaftsleben mehr soziale Eingebundenheit, gegenseitige Achtsamkeit und Lebenszufriedenheit ausstrahlte.
- Eingehende Kritik der Zivilisationsreligionen Christentum und Buddhismus als psychosoziale und versteckte Mechanismen der Versklavung und Unterdrückung der Individuen im Kontext der gesellschaftlichen Zwangsverhältnisse.
- Desavouierung des Pazifismus als eine implizite Selbstdomestizierung auf der Grundlage der Zivilisationsreligionen.
- Ablehnung der legalen Umweltproteste wie Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Boykotte etc. als wirkungslose Bemühungen („symbolische Akte“), die letztlich ausschließlich nur der Beruhigung des eigenen Gewissens dienen.
- Kritische Auseinandersetzung mit dem sozialen Konstrukt Hoffnung, dass nach Jensen nur aktiven Handeln und Kämpfen verhindert und nur zur Tatenlosigkeit und Passivität führe.
- Gedankenspiele, dass es nur das Wirken von ca. 50 Sabotagespezialisten bedarf, um die gesamte Infrastruktur (Benzin, Öl, Internet, Verkehr u. a.) der USA merklich für mehrere Tage zum Zusammenbruch zu bringen. Für ein monatelanges Lahmlegen des Stromnetzes bedarf es nach Jensen nur der Bemühungen von 12 Hackern. Der Autor verspricht sich von solchen massiven Störmaßnahmen einen deutlichen Vertrauensschwund in der Bevölkerung gegenüber dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, der zu einem Zusammenbruch dieser Wirtschaftsordnung führe könne.
Diskussion
Ein verwirrendes, zugleich recht ungewohntes und auch noch sehr umfangreiches Werk liegt hier vor. Der Autor lässt den Leser teilhaben an seinem Leben, er gibt recht Persönliches preis. So erfährt man u. a., dass Jensen an Morbus Krohn leidet und seine sehbehinderte Mutter nur unzureichend unterstützt. Darüber hinaus versteht es Jensen vorzüglich, mitreißend Begeisterung beim Lesen zu wecken. Ein revolutionärer Impuls, ein Aufrütteln zum Handeln jenseits bloßen Reflektierens durchzieht den Text. Das sind die positiven Seiten, die die Lektüre lohnen. Doch die Arbeit zeigt leider auch gravierende Schwachstellen, die einer Darstellung bedürfen
- Jensen nimmt eine in der Kulturgeschichte alt bekannte Trennung der Menschheit in Naturvölker und Kulturvölker oder Formen der Zivilisation mit der Einschätzung vor, dass jedwede Zivilisation von der Antike bis hin zum Spätkapitalismus auf Ausbeutung der Natur und zugleich auch Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung beruht. Naturvölker hingegen leben im Einklang mit ihrer natürlichen Umwelt, kennen keine Gewaltexzesse wie Kriege, Unterwerfung und Versklavung. Es gelte nun vordringlich angesichts der täglichen Zerstörung der Umwelt, möglichst zu vorzivilisatorischen Lebensformen zurückzufinden. Dies ist simple Schwarzweißmalerei, hier fehlt ethnologisches und anthropologisches Wissen über die Inhärenz kollektiver Gewalt im menschlichen Dasein. Der „edle Wilde“ oder modern „Winnetou“ als menschliche Verkörperung eines tugendhaften Lebens ist bloße Fiktion und Eskapismus zugleich. Zivilisation und damit auch kollektives Zerstören von Mensch und Umwelt ist der Gattung Homo sapiens genauso innewohnend wie der Spinne die Fähigkeit, komplexe und filigrane Netze zu spinnen. Die bloße Schwärmerei vom einfachen und überschaubaren Leben in autarken Gemeinschaften ist nichts weiter als hilflose Realitätsflucht und Tagträumerei, doch kein Programm zur Rettung der Welt.
- Genauso weltfremd wie seine Vorstellungen vom menschlichen Dasein sind seine Lösungskonzepte zur Überwindung der kapitalistischen Zerstörungskultur. 50 militärisch ausgebildete Terror- und Sabotageexperten und eine Handvoll Hacker sollen es packen, dieses System ins Wanken zu bringen. Chaos soll also durch Chaos zerstört werden, das erinnert an Blanquismus des 19. Jahrhunderts. Und hier widerspricht sich Jensen, schreibt er doch im ersten Band, dass die heutigen Lohnsklaven noch nicht reif für den Aufstand wären. Denn sie wissen einfach noch nicht, dass sie bloße Sklaven eines unpersönlichen und allumfassenden Produktionsprozesses sind (Seite 525). Es fehle einfach noch das „revolutionäre Bewusstsein“.
Fazit
Es liegt hier inhaltlich und auch formell eine simple Suada vor, die weder auf Wissen noch Erfahrung beruht. Für ein Manifest zur Rettung der Welt ist das einfach zu wenig. Hier fehlt es an Vernunft, Weitblick und auch Augenmaß. Mit bloßem Appell und utopistischen Ideologien werden weder die Menschen noch die Lachse zu retten sein.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 20.10.2009 zu:
Derrick Jensen: Das Öko-Manifest. Wie nur 50 Menschen das System zu Fall bringen und unsere Welt retten können. Pendo Verlag
(München) 2008.
ISBN 978-3-86612-215-4.
Aus d. Amerikan. v. Thomas Pfeiffer u. Marion Schweizer.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7816.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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