Harald Künemund, Marc Szydlik (Hrsg.): Generationen. Multidisziplinäre Perspektiven
Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Evers, 13.01.2010
Harald Künemund, Marc Szydlik (Hrsg.): Generationen. Multidisziplinäre Perspektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 252 Seiten. ISBN 978-3-531-15413-8. 24,90 EUR. CH: 43,70 sFr.
Thema
Das Ziel des Bandes ist gleichermaßen einsichtig wie die Textsammlung verdienstvoll ist. Es geht darum einen Einblick in das Generationenthema zu gewinnen, indem die Vielfalt disziplinärer Zugriffe auf ein und dasselbe Phänomen fruchtbar gemacht wird. Vertreterinnen und Vertreter von Ägyptologie, Biowissenschaft, Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft, Psychologie, Publizistik, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft wurden gebeten, gleichermaßen die Erträge zur Generationenforschung aus ihrer fachlichen Sicht vorzustellen wie ihre persönliche Perspektive darzulegen. Ein bunter Strauß entsteht.
Den Schlüssel zum Band, der Beiträge eines Symposiums vereinigt, das Martin Kohli aus Anlaß seines 65. Geburtstags gewidmet war, bietet dabei der Geehrte selbst: „Entgegen einer einst verbreiteten Selbst- und Fremdbeschreibung ist die Soziologie nicht für alles zuständig. Sie ist auch nicht der transdisziplinäre Schlüssel zu allen human- oder auch nur sozialwissenschaftlichen Problemfeldern. Sie teilt, wie dieser Band zeigt, das Generationenthema mit einer ganzen Reihe an deren Disziplinen. Aber gerade bei diesem Thema sind einige der grundlegenden Konzepte und Theorien in der Tat im Rahmen der Soziologie ausgearbeitet worden, und dieser Ursprung ist heute auch noch spürbar.“ (229)
Es ist diese zurückgenommene Soziologie, die mit gleich zwei Beiträgen die multidisziplinären Hinsichten rahmt. Obgleich die elf weiteren Beiträge aus den genannten Fachdisziplinen auf diese Rahmung nur bedingt Bezug nehmen, erhalten sie doch durch ihre soziologische Rahmung eine verbindende Perspektive.
Inhalt
Von den Herausgebern, dem Gerontologen Harald Künemund und dem Soziologen Marc Szydlik, werden die disziplinären Beiträge vier Abschnitten zugewiesen:
- Generationen-Geschichte,
- Generationen-Gesellschaften,
- Generationen-Geschichten und
- Generationen-Gerechtigkeit.
Maßgebender als dieser Ordnungsversuch ist aber der Beitrag „Generationen aus der Sicht der Soziologie“, mit dem die Herausgeber den Band einleiten. Referiert wird nicht, in welchen Teilgebieten der Soziologie der Generationenbegriff Bedeutung gewinnt. Vielmehr prägen die Herausgeber - beispielsweise mit der Unterscheidung zwischen einem familialen und einem gesellschaftlichen Generationenbegriff - notwendige Differenzierungen ein. Konsequent führen die Abschnitte zum familialen Generationenzusammenhalt und deren wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen (Generationenverträge) auf das Schlüsselthema Generation und Ungleichheit, zu dem Szydlik bereits einen Sammelband vorgelegt hat (2004).
Während sich Szydlik und Künemund in ihrer Bestandsaufnahme auf Beschreibungen beschränken, fordert Martin Kohli einen integrierenden Bezugsrahmen und bestimmt Generation im Feld sozialer Reproduktion und sozialen Wandels durch das Aufgabenpaar Stabilität und Erneuerung. „Auf beiden Ebenen [sc. im Bezug auf Gesellschaft wie im Bezug auf Familie] ist das Generationenkonzept den Schlüssel zur Analyse der Bewegung durch die Zeit … Generationen (sind) eine Grundeinheit sowohl von sozialer Reproduktion wie von sozialem Wandel – also von Stabilität und Erneuerung (oder Umsturz).“ (230) Diese Wendung wird von ihm in Auseinandersetzung mit den Beiträgen des gesamten Bandes durchgeführt und auf die Soziale Ungleichheit als dem „Brot-und-Butter-Thema der Soziologie“ (233) bezogen. Dabei geht es ihm darum, die Generationsungleichheit nicht als Alternative zu bisherigen Ungleichheitskonzepten wie Klassen- bzw. Schichtmodellen zu bestimmen. Vielmehr seien die Wechselbeziehungen bzw. Interaktionen zwischen den Konzepten fruchtbar zu machen, um die Frage zu klären, ob und wie aus ungleichen Lebenslagen soziale Konflikte entstehen. Erst wenn der Zusammenhang von Generationenkonflikt und Klassenkonflikt beschrieben wird, ergibt sich ein realistischer Blick auf die gesellschaftlichen Spaltungslinien.
Die Beiträge des Sammelbandes setzen den integrierenden Bezugsrahmen nicht voraus, sondern sind eher als Bestandsaufnahmen zu verstehen, die letztendlich ebenso deutlich machen, wie fruchtbar Generationenfragen für die Einzeldisziplinen sind, wie sie zu erkennen geben, das der von Kohli gewünschte einende Bezugsrahmen noch in weiter Ferne liegt:
- Eckart Volland unternimmt aus evolutionsbiologischer Sicht den Versuch, „die evolutionäre Entwicklung der postgenerativen Generation“ zu verstehen. Von besonderem theoretischem Interesse sei diese Lebensphase aufgrund des „äußerst ungewöhnlichen Merkmal(s) der obligaten Altersterilität der Frauen nach der Menopause“ (29). Worin liegt, so Volland, der evolutionäre Nutzen des Altwerdens für Frauen, wenn die Menopause eine fortgesetzte Fortpflanzung ausschließt? (30f.)
- Der ägyptologische Beitrag Stephan Seidlmayers thematisiert Alterstufen in einem für die Leserinnen und Leser gänzlich andersartigen Kulturzusammenhang. Entscheidend für die Disziplin aber ist die Einsicht, dass mit dem Generationenzugriff ein Beitrag zur empirischen Erschließung von Familien und Dorfgemeinschaften als Basisstruktur ägyptischer Gesellschaften gelingen kann.
- Mit seinen Skizzen zu gesellschaftlichen und familialen Generationen führt Josef Ehmer dicht an Martin Kohlis Überlegungen heran. Insbesondere in diesem Beitrag aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive zeichnen sich nicht nur integrative und übergreifende Perspektiven der Generationengeschichte ab (76), sondern es gelingt auch die Annäherung an die Soziologie.
- Intergenerationale Transmissionseffekte stehen im Mittelpunkt der erziehungswissenschaftliche Skizze, die Helmut Fend beiträgt. Auf der Datenbasis der Längsschnittstudie Life wird die Weitergabe von Bildung, von Wertorientierungen sowie politischer und religiöser Einstellungen skizziert und der große, Kontinuität mehr als Konflikt befördernde Einfluss der Elterngenerationen in Familienkontextenb hervorgehoben.
- Im Hintergrund von Erdmute Albers Überlegungen stehen drei Skizzen von Generationenbeziehungen in Westafrika, die zu unterschiedlichen Versorgungssituationen alter Menschen führen. Alle drei widersprechen dem statischen Bild der Großfamilie mit geregelten Generationenbeziehungen, das die ethnologische Literatur zur Generationenforschung lange bestimmte. „Generation erscheint hier zumeist als innovativer Fokus auf gesellschaftliche Prozesse, die unter dieser Perspektive noch nicht betrachtet worden sind.“ (108f) Alber führt vor, wie Generation nicht länger als Ordnungsprinzip (Altersklassengesellschaften) oder Verwandtschaftsbegriff betrachtet wird, sondern die Transformationsdynamik und damit den Gesellschaftswandel betont.
- Gisela Trommsdorff und Isabelle Albert gehen von der Feststellung aus, dass die Bedeutung von Generationenbeziehungen in der Psychologie kaum im Zusammenhang mit soziodemographischen Veränderungen untersucht wird. Aus ihrem Versuch eines Kulturvergleichs von Beziehungsqualität in Mehrgenerationenfamilien ergeben sich vielmehr Forschungsfragen im Blick auf eine lebensspanneübergreifende Sicht von Generationenbeziehungen. Generationenbeziehungen werden – psychologisch - „als familiär verbundene Beziehungen …, die über die Lebensspanne hinweg innere Entwicklungsalter und dem gegebenen kulturellen Kontext gestaltet werden“ (121) verstanden. Fragen der intergenerationalen Beziehungen müssen im Zusammenhang mit dem kulturellen Kontext beantwortet werden. Basis des Textes bietet eine eigene kulturvergleichende Studie, in der die Verfasserinnen kulturspezifische Differenzierungen generationaler Solidarität nachweisen.
- Drei literaturwissenschaftlich relevante Gesichtspunkte werden von Daniel Müller Nielaba beigesteuert: Die ersten beiden - Generationen als Strukturmerkmal der Fachgeschichte, Generationen als Erzählstoff bzw. narratives Grundmuster erzählender Texte – verbindet der Gedanke, dass Generationen Ordnung stiften und Geschichte konstituieren. Interessant ist der dritte Gesichtspunkt: Generationen als epistemologische Denkfigur des literarischen Textes, in dem es in gewisser Weise um einen ewigen Dialog, eine Generationenlinie ohne Anfang und ohne Ende ginge.
- Heinz Bonfadellis Beitrag bezieht die Generationenperspektive im Fazit mit ein, wenn der Medienwandel im Generatioenvergleich betrachtet wird. Die voranstehenden Passagen wenden sich dem Zusammenhang von Medien und Alter zu.
- Stefan Bach, Gert G. Wagner konstatieren für die Volkswirtschaftslehre, dass das Generationenthema ein gleichermaßen spannendes wie lieblos behandeltes Konzept darstellten. Volkswirtschaftlicher Ausgangspunkt sei der Generationenvertrag, der den Gütertransfer zwischen unterschiedlichen Altersgruppen beschreibe, dabei gehe es „meist nicht um konkrete Generationen, sondern um abstrakte Generation im mathematischen Modell.“ (175; vgl. 183)
- Der juristische Beitrag von Nicola Preuß setzt sich mit dem Pflichtteilsrecht in Erbvorgängen auseinander. Ohne tiefere Hinweise zum Generationenthema, bietet der Beitrag zugleich eine Fülle von Anregungen zur Gestaltbarkeit von Erbbeziehungsregelungen.
- Der Band schließt mit dem poltikwissenschaftlichen Beitrag von Christoph Butterwegge, der konstatiert, dass das Generationenthema von der Politikwissenschaft stiefmütterlich behandelt werde und Aktualität erst durch „demagogisch gewendete“ demografische Krisen- und Katastrophenszenarien gewinne. Seine Leitfrage ist, ob Generationengerechtigkeit statt politischem Kampfbegriff ein sinnvolles Leitbild der Sozialpolitik darstellen kann. „Durch das Schlagwort ‚Generationengerechtigkeit‘ wird die soziale Spaltung unserer Gesellschaft biologisiert, auf ein Verhältnis zwischen unterschiedlichen Altersgruppen reduziert und relativiert. … ‚Die aktuelle Prominenz des Wortes ‚ Generationengerechtigkeit‘ birgt zumindest die Gefahr, damit andere, womöglich entscheidendere Ungleichheitsfaktoren aus dem Blick zu verlieren‘ (Szydlik)“ (222) Am Beispiel der Verschuldung im Staatshaushalt führt Butterwegge vor, wie die hohen Staatsverschuldungen künftige Generationen nicht nur belasten, sondern ihnen auch zu gute kommen.
Diskussion und Fazit
In den Beiträgen sollten Kontexte und Bedeutungen des jeweiligen Generationenbegriffs deutlich werden. Worüber reden wir, wenn wir „Generation“ sagen? Die Klärung erfolgt – aber das Gespräch steht noch aus. Wichtig ist, aus den jeweiligen Einzelperspektiven eine multidisziplinäre, oder besser interdisziplinäre Sicht der Dinge zu entwickeln. Hier stoßen die Einzelbeiträge wie der Sammelband an ihre Grenzen, da sie den Diskurs zur Sache nur anstoßen, aber nicht führen. Im Sinne des eingangs zitierten Martin Kohlis teilen die Disziplinen ihr Thema „Generationen“. Das ist mehr als ein Stichwort, aber um einen gemeinsam erarbeiteten und bearbeiteten Gegenstand handelt es sich - noch - nicht. Der gewünschte Einblick ist mit dem Sammelband gegeben, vielleicht gar ein Überblick gewonnen. Alles Weitere steht noch aus.
Rezension von
Prof. Dr. Ralf Evers
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Es gibt 17 Rezensionen von Ralf Evers.
Zitiervorschlag
Ralf Evers. Rezension vom 13.01.2010 zu:
Harald Künemund, Marc Szydlik (Hrsg.): Generationen. Multidisziplinäre Perspektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-15413-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7831.php, Datum des Zugriffs 18.09.2024.
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