Julia Engelbrecht-Schnür, Britta Nagel: Wo bist du? Demenz - Abschied zu Lebenseiten
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 03.10.2009
Julia Engelbrecht-Schnür, Britta Nagel: Wo bist du? Demenz - Abschied zu Lebenseiten. Hoffmann und Campe (Hamburg) 2009. 159 Seiten. ISBN 978-3-455-50107-0. 25,00 EUR. CH: 43,90 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-407-22917-5 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Deutschland altert. Und mit dem demographischen Alterungsprozess treten mehr und mehr auch die negativen Begleitumstände dieser Entwicklung in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Demenz vom Alzheimer-Typ in der sporadischen Variante ist eine typische Alterskrankheit, denn sie korreliert mit dem Alter. War der Begriff Alzheimer vor ca. 40 Jahren nur den Psychiatern und vor allem den Gerontopsychiatern bekannt, so ist er gegenwärtig fast jedem vertraut. Denn in den meisten Familien sind bereits Hochbetagte, Großeltern oder Onkel und Tanten, an diesem langjährigen Leiden erkrankt. Auch in den Medien spiegelt sich diese Verallgemeinerung dieses Altersleiden deutlich wider, wenn z. B. in Arztserien, Fernsehspielen und neuerdings sogar in abendfüllenden Spielfilmen diese Thematik aufgearbeitet wird. Im Bereich der Druckerzeugnisse, der Bücher, Broschüren und Zeitschriften kann regelrecht von einer Schwemme an Publikationen für diverse Zielgruppen berichtet werden. Fachbücher, Lehrbücher, Ratgeberbände, Kinderbücher etc. kommen Monat für Monat neu auf dem Markt.
Die vorliegende Veröffentlichung ist Teil dieses kollektiven Popularisierungsprozesses und zielt vor allem auf die Gruppe der pflegenden Angehörigen.
Autorinnen und Entstehungshintergrund
Julia Engelbrecht-Schnür (Jahrgang 1966) und Britta Nagel (Jahrgang 1960) sind beide als Journalistinnen in Hamburg ansässig, wo sie u. a. für überregionale Zeitungen und Zeitschriften arbeiten. Die 60 Fotos dieses Bandes stammen von Julia Engelbrecht-Schnür. Beide Autorinnen sind zugleich Betroffene dieser Erkrankung, die eine als Tochter und die andere als Freundin einer an Demenz erkrankten Person.
Da ihrer Meinung nach noch kein Buch über die Situation der Angehörigen vorliegt, fühlten sie sich veranlasst, durch ihr Werk den „Angehörigen eine Stimme (zu) geben“ (Seite 8).
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus insgesamt 14 Reportagen oder Porträts von Personen, die entweder familiär oder beruflich mit der Thematik Demenz konfrontiert sind. Acht Beiträge stellen pflegende und betreuende Angehörige vor, sechs Abschnitte lassen Professionelle im weiten Feld der Pflege, Betreuung und Forschung zu Wort kommen. Alle Beiträge sind mit meist ganzseitigen Fotos in schwarzweiß illustriert. Vom Umfang her sind die Reportagen meist nur mehrere Seiten lang. Folgende Angehörige werden im Einzelnen vorgestellt:
- Eine Tochter, die sich um ihren Vater im Pflegeheim bemüht.
- Ein Sohn sucht für seinen Vater eine altersgerechte Wohnung und organisiert ergänzende pflegerische und hauswirtschaftliche Unterstützung.
- Ein vermögender Sohn gründet für seine Mutter eine Stiftung mitsamt innovativer Betreuungseinrichtung, damit sie nicht in ein herkömmliches Altenpflegeheim in ihrer Region übersiedeln muss.
- Eine Frau von 56 Jahren berichtet, wie sie das Zusammenleben mit ihrem demenzkranken Lebensgefährten und dem gemeinsamen Sohn strukturiert.
- Eine Tochter mit einem behinderten Kind schildert, welchen Strapazen und Ängsten sie ausgesetzt war, als ihre Mutter vor dem Heimeintritt noch allein in ihrer eigenen Wohnung lebte.
- Eine Tochter dokumentiert in Gestalt von Tagebucheintragungen über einen Zeitraum von ca. 6 Monaten von der zunehmenden Überforderung ihrer demenzkranken Mutter und ihres schon leicht gebrechlichen Vaters, eigenständig noch einen eigenen Haushalt führen zu wollen. Die gemeinsame Übersiedlung der beiden in ein Heim führte zu einer deutlichen Entspannung für alle.
- Eine 14jährige Enkelin beschreibt den beschwerlichen Weg, sich damit abfinden zu müssen, dass ihre geliebte und selbständige Großmutter im Laufe von nur wenigen Jahren sich zu einer hilflosen Person gewandelt hat, die kaum noch auf Impulse ihrer Umwelt zu reagieren vermag.
- Ein hoch betagter Ehemann berichtet, wie er nach fast 70 Jahren Ehe mit seiner demenzkranken Frau gemeinsam in ein Heim übersiedelt. Während sie in dem Demenzwohnbereich untergekommen ist, hat er im Rüstigenbereich ein Apartment bezogen. So kann er den ganzen Tag zusammen mit seiner geliebten Gattin verbringen.
Zusätzlich werden folgende sechs beruflich in unterschiedlichen Arbeitsfeldern tätige Personen jeweils auf wenigen Seiten porträtiert:
- Der Gerontopsychiater Dr. med. Jens Bruder als einer der Pioniere im Beratungswesen von Angehörigen Demenzkranker verweist auf seine Erkenntnis, dass nur das Wissen um die Erkrankung in ihrer Vielschichtigkeit und ihrem Verlauf der Demenz ihren Schrecken zu nehmen vermag.
- Der Gerontopsychiater Prof. Dr. med. Lutz Frölich vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim ist sich der äußerst begrenzten Wirkung der Alzheimermedikamente bewusst und hofft, dass demnächst eventuell Impfungen der krankhaften Plaquebildung Einhalt gebieten werden.
- Der Molekularbiologe Prof. Dr. Konrad Beyreuther der Universität Heidelberg, ein international anerkannter Alzheimerforscher, setzt auf gezielte Prävention u. a. durch Bewegung, gesunde Ernährung, befriedigende Sozialkontakte und möglichst lebenslanges Lernen.
- Klaus Lessow, Altenpfleger und Pflegedienstleiter eines Pflegeheimes in Hamburg, hat die Erfahrung gemacht, dass Pflegende im Umgang mit Demenzkranken vor allem Gelassenheit, Ruhe und Souveränität ausstrahlen sollten. Und die Pflege und Betreuung wird für alle Beteiligten leichter, wenn der Alltag im Heim von Routine, Gewohnheiten und einem vertrauten Rhythmus bestimmt wird.
- Dr. phil. Olivia Dibelius, gelernte Krankenschwester und Professorin für Pflegewirtschaft an der Evangelischen Fachhochschule in Berlin, sieht ein Problem in der Versorgung Demenzkranker u. a. in dem Sachverhalt, dass Mediziner und Pflegende völlig konträre Vorstellung über eine angemessene Pflege und Betreuung hätten.
- Dr. med. Volker Fintelmann, Arzt für Innere Medizin aus Hamburg, setzt als ein Vertreter einer so genannten anthroposophischen Medizin mehr auf spirituelle Dimensionen als Erklärungshintergrund für demenzielle Erkrankungen.
Diskussion
Der erste Eindruck ist überraschend positiv, denn die Autorinnen verstehen es, wohl auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen im Umgang mit demenzkranken Angehörigen, sehr einfühlend und eindringlich die Konflikte, Belastungen, aber auch die Gefühle der vertrauten Beziehungen in passende Worte zu kleiden. Die eingefügten Fotos vertiefen oft diese Eindrücke, sie verdeutlichen zugleich, welch inniglichen zwischenmenschlichen Begegnungen jenseits aller Worte hier stattfinden.
Doch dann stellt sich auch die Frage, für wen dieses Buch verfasst wurde und welche Aufgabe es bei den Adressaten erfüllen soll. Und hierzu muss einiges Kritisches vermerkt werden.
- Für die Hauptzielgruppe, die Angehörigen, liegt bereits eine kaum noch zu überschauende Anzahl an einschlägigen Veröffentlichungen vor. Ratgeberbände für pflegende Angehörige, Darstellungen jahrelanger Pflege und deren Verarbeitung und vieles mehr. Hier ließe sich fast sagen, dass der Markt bereits gesättigt ist.
- Für beruflich in diesem Bereich Tätige enthält diese Arbeit auch keine neuen Impulse. Die Positionen der angeführten Experten sind seit langem Allgemeingut. Und die Belastungen von Angehörigen sind den verschiedenen Berufsgruppen bekannt und sie werden in den Heimen und Beratungsstellen tagtäglich erfahren.
- Ein weiteres Problem besteht aus der Doppelfunktion des Werkes, es ist sowohl ein Textbuch als zugleich auch ein Bildband. Und in diesem Fall engen die Fotos das Quantum für den Text, der oft zu knapp ausfällt. Zu skizzenhaft wirken die Porträts, es bleibt manches doch zu sehr an der Oberfläche, wo Vertiefungen die Darstellung hätten abrunden können.
Fazit
Zu diesem Buch kann zusammenfassend die Aussage gemacht werden, dass hier Inhalt und Gestaltung nicht kongruent sind. Diese Beiträge, die Texte und auch die Fotos, wären in Zeitungen, Zeitschriften und auch Magazinen besser aufgehoben. In der vorliegenden Buchform gelingt es den Ausführungen nicht, der Komplexität des Gegenstandsbereiches ausreichend gerecht zu werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 03.10.2009 zu:
Julia Engelbrecht-Schnür, Britta Nagel: Wo bist du? Demenz - Abschied zu Lebenseiten. Hoffmann und Campe
(Hamburg) 2009.
ISBN 978-3-455-50107-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7849.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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