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Michael Herschelmann: "Boys-Talk". [...] Geschlechtsidentität

Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 12.08.2009

Cover Michael Herschelmann: "Boys-Talk". [...] Geschlechtsidentität ISBN 978-3-86541-327-7

Michael Herschelmann: "Boys-Talk". Eine explorative Untersuchung zur narrativ-biographischen (Re) Kon-struktion sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität. Lehmanns Media GmbH (Berlin) 2009. 248 Seiten. ISBN 978-3-86541-327-7. 24,00 EUR.
Schriftenreihe International Cultural-historical Human Sciences.

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Thema

Im Mittelpunkt dieser empirischen Untersuchung steht der Prozess, in dem Jungen und männliche Jugendliche eine in Distanz zu traditionellen Konstruktionen von Männlichkeit befindliche Persönlichkeitsstruktur entwickeln. Methodischer Mittelpunkt ist das autobiographische Erzählen, welches als dialektischer Prozess von Aneignung und Vergegenständlichung gesehen wird. Theoretische Grundlage ist u.a. die Entwicklungspsychologie des (emeritierten) Professors für Behindertenpädagogik Wolfgang Jantzen, welche von Herschelmann weiterentwickelt wird.

Entstehungshintergrund

Die Untersuchung wurde vor dem Hintergrund einer mehrjährigen praktischen (im Kinderschutzzentrum Oldenburg) und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Problem der sexuellen Gewalt und den Möglichkeiten und Grenzen einer diesbezüglichen präventiven (sozial-) pädagogischen Arbeit mit männlichen Jugendlichen verfasst. Präventive Arbeit wird als Gewinnung von Rollendistanz zu verinnerlichten Vorstellungen traditioneller Männlichkeit verstanden. So gesehen, stellt Jungenarbeit einen Weg dar, von sexueller Gewalt betroffenen Jungen einen Zugang zu Hilfe zu ermöglichen.

Aufbau und Inhalt

Nach der Einleitung, in der mit „Boys-Talk“ und „Boys-Narratives“ die Ausgangspunkte und Zielsetzungen der Untersuchung vorgestellt werden, folgen fünf große Kapitel:

  1. das theoretische Modell (S. 22-53),
  2. die inhaltlichen und methodischen Grundlagen der Untersuchung (S. 54-74),
  3. die empirische Untersuchung (S. 75-109),
  4. die Darstellung der zentralen Ergebnisse (S. 110-192) und
  5. ein Resümee mit Ausblick (S. 193-214).

Das Literaturverzeichnis umfaßt 25 Seiten.

Im Kapitel „Theoretisches Modell“ nimmt Herschelmann die aktuelle Diskussion um das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation auf. Er entdeckt viele offene Fragen, die im Weiteren anhand seiner Fortentwicklung der Kulturhistorischen Schule und Tätigkeitstheorie von Wolfgang Jantzen beantwortet werden (Wolfgang Jantzen hat u.a. die Theorie der Kulturhistorischen Schule von Vygotzkij, Leont´ev und Lurija weiterentwickelt). Von Wolfgang Jantzen wurde eine allgemeine psychologische Theorie übernommen, auf deren Grundlage Herschelmann die Entwicklung männlicher Persönlichkeit erklärt. Dabei werden auch kognitionspsychologische und psychoanalytische Elemente eingebaut.

Das Kapitel „Grundlagen der Untersuchung“ beinhaltet die Verbindung des erarbeiteten Modells männlicher Persönlichkeitsentwicklung mit narrationspsychologischen und psychoanalytischen Vorstellungen: „Mit dem autobiographischen Erzählen in der Spätadoleszenz wird ein Weg zur (Re) Konstruktion sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität beschrieben, über den auch der Prozess der Distanzierung von traditioneller Männlichkeit analysiert werden kann. Damit wird eine Brücke gebaut zwischen dem theoretischen Modell und der empirischen Untersuchung“ (Herschelmann 2009, S. 54) Es wird also – im Einklang mit neueren Erkenntnissen aus der Forschung zur Identitätsentwicklung in der Adoleszenz – davon ausgegangen, dass Identität narrativ hergestellt wird und sich entsprechend rekonstruieren lässt.

Im folgenden Kapitel werden das Forschungsdesign, das Auswertungskonzept und die Auswertungschritte beschrieben. Herschelmann hat sich für die Forschungsstrategie der Grounded Theory entschieden, in der Datenerhebung und Datenauswertung miteinander verbunden sind. In der Folge wird beschrieben, wie die jungen Männer für die Interviews gewonnen wurden. Insgesamt wurden 12 Interviews mit Männer zwischen 17 und 31 Jahren geführt (von denen aus „forschungspragmatischen Gründen“ (!?!) nur fünf in die konkrete Analyse miteinflossen). Die Interviews dauerten zwischen 1,5 und 3,5 Stunden. Als Erhebungsverfahren wurde das problemzentrierte Interview ausgewählt, welches auf der Erfassung subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität abzielt. Desweiteren wird die Datenauswertung vorgestellt. In einem kurzen Exkurs geht Herschelmann überdies auf das Nutzen von Kinofilmen in der Rekonstruktion bewusster und nicht-bewusster gesellschaftlicher Selbstentwürfe ein (S. 90-97). Es lagen dem Verfasser somit Teilelemente aus verschiedenen Auswertungsverfahren vor, die er in einen logischen Zusammenhang bringen musste. Er orientierte sich dabei an dem Stufenmodell des künstlerischen Schaffensprozesses von Leo Tolstoi (sic), „… weil neben der Analyse der Bedeutungen auch der dynamische Zusammenhang von Sinn und Bedeutung bzw. die Aneignung des (persönlichen) Sinns untersucht werden soll“ (S. 98).
Insgesamt ist der Grundgedanke dieses Auswertungskonzeptes – welches wie verschiedene andere Grundideen auch in anschaulichen Graphiken zusammengefasst wird – dass unser Selbst sich im Austausch mit (bedeutsamen) Anderen entwickelt, umgekehrt wir den Anderen über uns selbst erkennen können (S. 99).

Im nächsten Kapitel werden die zentralen Ergebnisse vorgestellt. Dies ist das ausführlichste Kapitel der Untersuchung. U.a. mit einer Graphik werden die aus den Fallanalysen abstrahierten Thematiken als übergreifende Aspekte herausgestellt, die für die Distanzierung von traditioneller Männlichkeit von hervorragender Bedeutung sind. Diese sind: Omnipotente Mutter/peripherer Vater, Ausgrenzung durch andere Jungen, Andersgeschlechtliche Freundschaften, Gleichgeschlechtliche Freundschaften, Kunst als Spiegel, Auszug von Zuhause und Politik (S. 111). Herschelmann erläutert: „Die Thematiken sind nicht als monokausale Verursachungsfaktoren zu verstehen, die die Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken. Kein Aspekt allein kann die Entwicklung hin zu einer Distanzierung bestimmen. Die Thematiken beschreiben vielmehr Ausgangs-, Anfangs- und Randbedingungen für den Prozess der Distanzierung“ (ebd., S. 110). Die einzelnen Unterabschnitte dieses Kapitels sind nach den soeben erwähnten Thematiken gegliedert. Das Fallmaterial wird verwendet, um die Thematiken zu kommentieren. Es wird ergänzt durch die Hinzunahme von Literatur, die dem Verfasser zu den jeweiligen Sinnabschnitten passend erscheint.

Zum Abschluss der Arbeit zieht der Verfasser ein Resümee und gibt einen Ausblick („Weiterführende Fragestellungen und pädagogische Konsequenzen“).

Zielgruppen

Die Untersuchung richtet sich an fortgeschrittene Studenten der Geisteswissenschaften, insbes. der Sozialarbeit, Pädagogik, Philosophie, Psychologie und Soziologie. Darüberhinaus ist sie interessant für alle auf dem Gebiet der Gewaltprävention und der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen Tätigen. Schließlich wendet sich die Arbeit auch an WissenschaftlerInnen in den genannten Themengebieten.

Diskussion

Die vorliegende Arbeit ist durchweg auf hohem und konsistentem Niveau geschrieben. Sie liest sich sehr flüssig und teilweise regelrecht spannend. Zu danken ist dies der Kreativität des Verfassers, der Intensität der Analysen und dem guten Sprachgefühl und ´Timing´ von Herrn Herschelmann. Die Arbeit kann für die oben genannten Personenkreise von Bedeutung sein, denn sie vermittelt nicht nur viele Informationen, sondern regt auch zum eigenen Nachdenken an. Beispielsweise habe ich beim Lesen an verschiedenen Stellen innegehalten und überlegt, welche Erfahrungen und Sinndeutungen in meiner persönlichen Geschichte zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden haben. Für mich ist dieses „Anregen zum selbstständigen Denken“ eines der größten Komplimente, welches ich einem Werk (gleich ob Buch, Theater- oder Musikstück) bzw. seinem Urheber/seiner Urheberin machen kann.

Die fachliche Qualifikation des Verfassers steht außer Frage, ist er doch nicht nur vielbelesen, sondern versteht es auch, sein literarisches und wirtschaftliches Wissen für die Untersuchung gewinnbringend einzusetzen. Darüberhinaus ist er auch ein erfahrener Praktiker, der seit 1997 im Kinderschutzzentrum in Oldenburg tätig ist.

Negativ fällt der Einband des Buches auf:

  1. auf dem Buchrücken befindet sich ein hässlicher Fehler („Boys-Tak“ statt „Boys-Talk“);
  2. das ganze Werk hätte besser „Boys-Narratives“ genannt werden können. Der Titel „Boys-Talk“ ist irreführend;
  3. das Foto des Verfassers auf dem Buchtitel lenkt ab; ich halte es für angemessen, dem Inhalt zentrale Bedeutung beizumessen – alles andere, insbes. die eigene Person, sollte eher neutral gehalten bzw. untergewichtet werden.

Fazit

Ein einschlägiges, durch die intellektuelle und fachliche Kompetenz und den nimmermüden Einsatz des Verfassers, die richtigen Ansätze zu finden, hochinteressantes Werk. Es behandelt die Entwicklung vom Jungen zum Mann und zeigt, wie sich darin ontogenetisch die Fähigkeit zur Distanzierung von traditioneller Männlichkeit entwickelt. Herr Herschelmann hat ein (stellenweise recht eigenwilliges) theoretisches Modell entwickelt und eine eigene explorative empirische Untersuchung durchgeführt. Er befindet sich stets auf dem aktuellen Stand der Diskussion. Mit der vorliegenden Arbeit (und den anderen vorangehenden Veröffentlichungen Herrn Herschelmanns) erweist sich der Verfasser als ausgewiesener deutschlandweiter Experte auf dem Gebiet der „Gewaltprävention bei männlichen Jugendlichen“.

Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Es gibt 55 Rezensionen von Joachim Thönnessen.

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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 12.08.2009 zu: Michael Herschelmann: "Boys-Talk". Eine explorative Untersuchung zur narrativ-biographischen (Re) Kon-struktion sozialer (selbst-reflexiver) Geschlechtsidentität. Lehmanns Media GmbH (Berlin) 2009. ISBN 978-3-86541-327-7. Schriftenreihe International Cultural-historical Human Sciences. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7855.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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