Drorit Lengyel: Zweitspracherwerb in der Kita
Rezensiert von Sibylle Lottermoser, 03.12.2009
Drorit Lengyel: Zweitspracherwerb in der Kita. Eine integrative Sicht auf die sprachliche und kognitive Entwicklung mehrsprachiger Kinder.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2009.
284 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2086-1.
29,90 EUR.
Reihe: Internationale Hochschulschriften - 521.
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit Fragen der Mehrsprachigkeit und des Zweitspracherwerbs im Zusammenhang mit Bildungsprozessen bei Migrationskindern. Auf der Grundlage der Theorien von Vygotskij und Bühler werden sprachlich- interaktive Prozesse beschrieben und der Zweitspracherwerb als Ko-Konstruktionsprozess verstanden. Die hergeleiteten Analysekategorien werden anhand empirischer Belege auf ihre Brauchbarkeit zur detaillierten Betrachtung des Zweitspracherwerbs untersucht. Die Publikation wurde 2008 von der Fakultät für Psychologie und Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen.
Autorin
Drorit Lengyel arbeitete als Sprachtherapeutin mit mehrsprachigen Kindern, später als Sprachförderkraft sowie als Lehrende in der Grundschul- und Sonderpädagogik. Zur Zeit arbeitet sie an der Universität Hamburg im Modellprogramm FÖRMIG. Arbeitsschwerpunkte sind Sprachdiagnostik und –förderung bei Mehrsprachigkeit.
Aufbau und Inhalte
Das Buch insgesamt ist die Dissertation der Autorin. Sie geht folgenden zwei Fragestellungen nach:
- Welche Beobachtungsfelder und Analysekategorien können operationalisiert werden, um in interaktiven Spielhandlungen sprachlich-kognitive Prozesse und deren qualitative Veränderungen im Zweitspracherwerb zu beleuchten? und
- Wie erfolgt das Zusammenspiel (zweit-) sprachlicher und kognitiver Entwicklung in Interaktionssituationen bei Kindern mit Migrationshintergrund.
In Teil 1 „Aufwachsen mit mehr als einer Sprache“ geht es um die Besonderheiten des Zweitspracherwerbs, Hintergründe von Schwierigkeiten beim Erwerb der zweiten Sprache und den Einfluss sozialökonomischer Gesichtspunkte. Es werden unterschiedliche Wege des Zweitspracherwerbs in Abhängigkeit von der Sprache der Eltern und der Umgebung des Kindes aufgezeigt. Die Begriffe sukzessiver Spracherwerb, implizites und explizites Sprachlernen werden erläutert. Die Rahmenbedingungen des mehrsprachigen Aufwachsens sowie der Zusammenhang zwischen Bildungsstatus und Bildungsbeteiligung finden Erwähnung. Im Kontext der sozialen Herkunft und der Sprachkompetenz fließen bildungsbiografische Gesichtspunkt ein. Die Determinanten des Zweitspracherwerbs bezüglich des kindlichen Lebensalters werden nach Phonetik/Phonologie, Morphologie/Syntax und Lexikon spezifiziert.
In Teil 2 „Grundlagen der Erforschung sprachlich- interaktiver Prozesse“ werden Erfassung und Analyse der Sprache unter dem Aspekt sprachlich und kognitiver Prozesse in den Blick genommen. Dabei werden die Grundgedanken und Kernbegriffe Vygotskijs Kulturhistorischer Schule und seiner Beziehung zwischen biologischen, evolutionären, kulturellen sowie gesellschaftlichen Faktoren als Basis diskutiert. Die Zweifeldertheorie Bühlers und die Relevanz des Spiels für den Zweitspracherwerb wird in unterschiedlichen Spielformen vorgestellt. Verschiedene Sichtweisen in Form von konkurrierenden Modellen der Zweitspracherwerbsforschung werden als „Befunde“ dargestellt und diskutiert. Aus diesen vormals erörterten unterschiedlichen Ansätzen des Zweitspracherwerbs entwickelt die Autorin eine integrative Sicht, die eine mehrdimensionale Sprachbetrachtung für sich in Anspruch nimmt. Diese Sichtweise wird als eine für das sprachheilpädagogische Handeln unerlässliche, entwicklungsspezifische Betrachtungsweise hervorgehoben.
In
Teil 3 wird die Studie
vorgestellt. Die Untersuchung wurde von Oktober 2003 bis Februar 2004
in vier Kindertagesstätten in sozialen Brennpunkten einer
deutschen Großstadt durchgeführt. Die teilnehmenden
Beobachtungen nahmen bis zu vier Wochen pro Einrichtung in Anspruch.
Die Untersuchung bestätigt die herausgehobene Rolle der
Erwachsenen als Begleiter der (Zweit-)sprachentwicklung, insbesondere
durch die Gespräche und Literacy-Aktivitäten als
dominierende Interaktionsform zwischen Erwachsenen und Kindern. Die
sprachübergreifenden Kommunikationsstrategien (imitativ,
problemlösend, metasprachlich) geben Hinweise zur Anbahnung
expliziter Lernprozesse. Auch durch die Beobachtung des
Code-Switchings, also des adressatenspezifischen Sprachwechsels,
können kognitive Weiterentwicklungen der Kinder erkannt werden.
Dekontextualisierungsprozesse wurden in den beiden Modi Verwobenheit
mit bzw. Herauslösung aus dem nichtsprachlichen Kontext in
Abhängigkeit von verschiedenen Interaktionskonstellationen
betrachtet. Gespräche und Literacy-Aktivitäten förderten
eine Herauslösung sprachlicher Zeichen und waren eng an
sprachkompetente (erwachsene) Interaktionspartner gebunden.
Die integrative Perspektive fokussiert den Blick auf die
individuellen Sprachaneignungsprozesse und löst sich von der
überwiegend normativen Betrachtung. Zweitspracherwerb erfolgt
vor allem in heterogenen Peer-Interaktionen. Für Mehrsprachige
ist es entscheidend, eine hohe Bereitschaft zur Anpassung an die
jeweiligen situativen Umstände zu entwickeln. Die Kinder sind
daher anzuregen, aktiv Bezüge zwischen Erst- und Zweitsprache
herzustellen. Um den Prozess der Sprachaneignung zu unterstützen,
sollen die Erwachsenen den Input bewusst inszenieren. Die
anzuwendenden Mechanismen entsprechen denen des Konzepts der
Entwicklungsproximalen Theorie von Dannenbauer.
Darüberhinaus geht es darum, sprachliche Formeln zu
flexibilisieren und schrittweise, insbesondere im Übergang zum
Primarbereich explizites Lernen, insbesondere bezüglich
sprachlicher Bewusstwerdung und Ablösung vom situativen Kontext
zu fördern. Im Kita-Alltag müssen die Erzieher geeignete
Interaktionskonstellationen und –aktivitäten stärker
fördern und sie die Fähigkeit entwickeln, ihre eigene
Sprache als Werkzeug zur Sprachbildung zu gebrauchen.
Diskussion
Die Stärke des Buches liegt im ersten Teil. Die Autorin stellt die wichtigsten Grundlagen und Begrifflichkeiten, die für den Zweitspracherwerb relevant sind, gut dar. Die sozialen Zusammenhänge und Ursachen für Brüche und Stillstände beim Spracherwerb werden deutlich.
In der Studie ist nicht erkennbar, nach welchen Kriterien die zu beobachtenden Kinder ausgewählt wurden, wie viele Kinder beobachtet wurden, ob ggf. Cluster, z.B. hinsichtlich Alter, Geschlecht und Dauer des Aufenthaltes in der Kita gebildet wurden. Auf der Grundlage der zwei Kardinalfragestellungen wurden keine Hypothesen aufgestellt. In der Darstellung der Ergebnisse fließen bereits Interpretationen ein. Eine statistische Auswertung erschöpft sich in Häufigkeitsangaben. Wie ein enger Zusammenhang zwischen den sprachlich- interaktiven Prozessen und dem Zweitspracherwerb nachgewiesen wurde, ist nicht dargestellt. Diese Einschränkungen hinsichtlich Überprüfbarkeit und Verallgemeinerbarkeit sind zum großen Teil auf die gewählte Datenerhebungsmethode zurückzuführen.
Das Lesen würde durch eine Liste der verwendeten Abkürzungen am Anfang oder Ende des Buches erleichtert werden.
Fazit
Wissenschaftlich interessierte Leser suchen klarere Beschreibungen von Untersuchungsgegenstand und – Methodik. Für eher praktisch Arbeitende erschließt sich der Erkenntniszuwachs erst in den Schlussbemerkungen, der sich vor allem in der Bestätigung erschöpft, dass durch Sprachvorbild der Erwachsenen und Literacy-Aktivitäten ähnlich wie auch beim Erstspracherwerb in ihrer sprachlichen Kompetenz gefördert werden.
Rezension von
Sibylle Lottermoser
Dipl. Sprechwissenschaftlerin, Logopädin, Erzieherin
Website
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Sibylle Lottermoser.
Zitiervorschlag
Sibylle Lottermoser. Rezension vom 03.12.2009 zu:
Drorit Lengyel: Zweitspracherwerb in der Kita. Eine integrative Sicht auf die sprachliche und kognitive Entwicklung mehrsprachiger Kinder. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2009.
ISBN 978-3-8309-2086-1.
Reihe: Internationale Hochschulschriften - 521.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7904.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.