Stefan Luft: Staat und Migration
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.11.2009
Stefan Luft: Staat und Migration. Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration. Campus Verlag (Frankfurt) 2009. 400 Seiten. ISBN 978-3-593-38888-5. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR, CH: 76,00 sFr.
Die Frage nach der Steuerungsmöglichkeit für Integrationsprozesse ist von zentraler Bedeutung
Deutschland ist kein Einwanderungsland – Deutschland ist ein Einwanderungsland; das politische Hin und Her hat ab den 1970er Jahren in Deutschland dazu geführt, dass es bei der Frage nach Aufnahme von Einwanderungswilligen zu einer zunehmenden Polarisierung bei den politischen Parteien und in der Gesellschaft gekommen ist. Die Folgen dieser fehlenden Steuerungsfähigkeit und Entscheidungskraft sind bis heute spürbar und zeigen sich nicht zuletzt in den Problemen und Schwierigkeiten, gelingende Integrationsprozesse zu ermöglichen: „Die dauerhafte Randständigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen in den Städten birgt… erhebliches Konfliktpotential“.
Wanderungen von Menschen, die ihre angestammte Heimat verlassen, aus den verschiedensten Gründen – um Arbeit und Einkommen zu finden, wegen ökonomischen oder ökologischen Problemen, neue Lebensräume für sich und ihre Familien zu finden - hat es gegeben, seit es Menschen gibt. Doch die Dynamik der Wanderungsbewegungen hat weltweit dadurch zugenommen, dass durch die Globalisierung nationale und ethnische Grenzen aufgehoben werden. Doch die vielfach als Horrormeldungen durch die Welt geisternden Migrationszahlen bedürfen einer realistischen und objektiven Betrachtung: Derzeit leben rund 6,8 Milliarden Menschen auf der Erde (auf der „Weltbevölkerungsuhr“ lässt sich mitzählen, wie die Weltbevölkerung wächst: www.weltbevoelkerung.de; davon, so ist aus den Statistiken zu lesen, leben rund drei Prozent als MigrantInnen außerhalb ihres Geburtslandes. Während die Wanderungsbewegungen innerhalb der so genannten Entwicklungsländern im Laufe des letzten Jahrzehnts zurück gegangen sind, stiegen sie in Richtung der Industrieländer stark an. Im europäischen Vergleich gehört die Bundesrepublik Deutschland zu den Ländern mit den höchsten Zuwanderungszahlen: „1991 bis 2003 lag sie mit rund 13 Millionen Zuzügen weit vor Großbritannien (4,9 Millionen) und Italien (2,3 Millionen)“. Bedeutsam für die Migrationsforschung wie für die politische Handhabung von Zuwanderungsprozessen sind dabei die Ursachen (Push- und pull-Faktoren), sowie die unterschiedlichen Migrationsmodelle, die sich in den einzelnen Ländern und Regionen herausgebildet haben (Binnen-, Arbeits-, Asylmigration, Familiennachzug/Heiratsmigration, illegale Migration).
Thema und Autor
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die als globales Recht angesehen werden kann, werden Freiheit und Freizügigkeit des Menschen als unabdingbare und nicht relativierbare Grundrechte ausgewiesen; etwa in Art. 13/Abs. 2: „Jedermann hat das Recht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren“; sowie Art. 14/Abs.1: „Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“. Weil demokratische Staaten legitimiert sind, Zuwanderung zu steuern, kommt den gesetzlichen Regelungen von Migrationsprozessen eine besondere Bedeutung zu. Der als Privatdozent an der Universität Bremen lehrende Stefan Luft hat zu den Bedingungen und Grundsätzen der Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration eine Habilitationsschrift verfasst und sie mit dem o. a. Buch vorgelegt. Am Beispiel der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysiert der Autor die Möglichkeiten und Aktivitäten, Probleme, Erfolge und Misserfolge, wie die politischen und rechtlichen Restriktionen, sowie die Einflussnahmen der unterschiedlichen Akteure bei den Zuwanderungsprozessen.
Aufbau und Inhalt
Er beginnt mit den Aspekten der Anwerbung von „Gastarbeitern“ und betrachtet die vielfältigen Probleme der Steuerbarkeit, der Arbeitsmarktpolitik und identifiziert das Fehlen einer eigenständigen Ausländerpolitik in der Bundesrepublik. Dabei benennt er den „Anwerbestopp“ als eine Illusion der Steuerbarkeit und verweist anhand der Migrationsbeziehungen zwischen der Türkei und Deutschland auf Fehldeutungen in der Bevölkerungs- und Beschäftigungspolitik beider Länder. Am Beispiel von Berlin zeigt Stefan Luft die unterschiedlichen Entwicklungen der Integrationskraft von Städten auf und analysiert die Stadt-Umland-Wanderungen. Die dabei entstehenden ethnisch-sozialen Unterschichtenkonzentrationen und Segregationsprozesse führen zu der vielbeschriebenen und als Menetekel visierten Bildung von „Parallelgesellschaften“ mit all den Folgen einer negativen Dynamik. Die dabei von staatlicher Seite initiierten administrativen Steuerungsversuche von Niederlassungsprozessen haben keinesfalls zu den avisierten Erfolgen, etwa der Verhinderung der Bildung von Ballungsräumen, mit all den negativen Folgen auf den Gebieten des Wohnens, der Versorgung, des Arbeitsmarktes, des kulturellen Zusammenlebens und der schulischen und außerschulischen Bildung geführt.
Als eines der schwierigsten und chronisch vernachlässigten Kapitel der Ausländerpolitik dürfte die Integration der Migrantinnen und Migranten in das deutsche Bildungssystem, insbesondere in den vorschulischen, schulischen und außerschulischen Bereichen, angesehen werden. Spätestens die Ergebnisse der nationalen und internationalen Schul- und Leistungsvergleichsuntersuchungen haben zutage gefördert, dass die Kinder aus Migrantenfamilien vielfach zu den gesellschaftlichen Verlierern gehören. Diese Bildungsungleichheit setzt sich bei der Frage der beruflichen Weiterbildung fort. Der Autor benennt dabei eine Reihe von Ursachen und Gründen und diskutiert die bisher (spärlich) vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen darüber. Kritisch geht er dabei um mit der ursprünglich wohlmeinenden Auffassung, dass Kinder ausländischer und anderskultureller Herkunft in der deutschen Schule ihre muttersprachlichen Kompetenzen erwerben und erhalten sollten; vielmehr sieht er in den mangelnden Bemühungen zum Erwerb der deutschen Sprache, bei Migrantenkindern wie –erwachsenen, die eigentliche Ursache der Defizite und gesellschaftlichen Probleme.
Die Debatte um Integration hat in der deutschen Mehrheitsgesellschaft spät eingesetzt; ein spätes Erbe der unseligen Diskussion darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder nicht. Erst mit dem Nationalen Integrationsplan und den Bemühungen der Bundesregierung, mit dem „Integrationsgipfel“ ein Instrumente und Diskussionsforen für eine gelingende Eingliederung der Eingewanderten in die Gesellschaft zu schaffen, werden zaghafte, viel zu zaghafte und zögerliche Anstrengungen unternommen, die bisherigen Auffassungen, dass Integration = Assimilation bedeuten müsse, zu revidieren (vgl. dazu auch die Rezension zu Jutta Aumüller, Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept, transcript Verlag, 2009). Stefan Luft deckt auf , dass „eine auf die Zukunft der Menschen in einem Staat gerichtete Politik (... ) sich vom Multikulturalismus verabschieden (muss)“; sie dürfe nicht verschweigen, dass eine dauerhafte Niederlassung in einem fremden Land erhebliche Anpassungsnotwendigkeiten mit sich bringe und kulturelle Veränderungsprozesse zur Folge habe.
Aus all den genannten Gründen und Analysen der (bisherigen) Integrationspolitik in Deutschland kommt der Autor zur Schlüsselfrage: Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration. Dabei diskutiert er die vielfältigen Formen, gesetzlichen Maßnahmen und mentalen Gewohnheiten, die sich durch die Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland als föderativer Staat entwickelt haben. Er weist aber auch deutlich darauf hin, dass es, angesichts der sich immer interdependenter entwickelnden Welt transnationaler Regelungen und eines Perspektivenwechsels weg vom nationalstaatlichen und hin zum globalen Denken und Handeln bedarf. Dies gilt insbesondere im Zusammenhang von „Staatsangehörigkeit und Integration“, also der Einbürgerungsbemühungen in die deutsche Gesellschaft.
Im Schlussteil plädiert Luft für einen integrationspolitischen Realismus, indem er deutlich macht, dass Erfolg oder Misserfolg von Integration im wesentlichen „von den sozioökonomischen Mega-Trends“ abhänge. Für die deutsche Integrationspolitik mahnt er einen „Lastenausgleich“ an. Es seien die ungleichen sozioökonomischen Rahmenbedingungen, die eine humane Integration verhinderten: „“Unter den großen Volkswirtschaften weist Deutschland die höchste Belastung des Arbeitseinkommens durch direkte Steuern und Sozialabgaben auf. Gleichzeitig unterliegen Gewinn- und Vermögenseinkommen der niedrigsten Abgabequote innerhalb der Europäischen Union“. Daraus ergeben sich Benachteiligungen, die letztlich auf der einen Seite sich in Höherwertigkeitsvorstellungen der mehrheitsgesellschaftlichen Bevölkerung ausdrücken, auf der anderen in Benachteiligungserfahrungen der Minderheiten zeigen. „Integrationspolitischer Realismus setzt auf Versöhnung“ in der Gesellschaft. Das bedeutet: Kennen und kennen lernen! Die Konflikte nicht machtpolitisch, sondern dialogisch austragen; auf Augenhöhe!
Fazit
Was wäre, so fragt der Rezensent, würden Politiker und die gesellschaftlich agierenden Kräfte in unserer Gesellschaft die Analyse von Stefan Luft „Staat und Migration“ zur Hand nehmen und daraus die Überlegungen zur „Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration“ in ihrem gesellschaftlichen und politischen Handeln berücksichtigen? Ohne Zweifel würde es dadurch kein „konfliktfreies“, individuelles und gesellschaftliches Miteinander geben; aber eine auf Empathie, Respekt und Toleranz fußende Gesellschaft!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.11.2009 zu:
Stefan Luft: Staat und Migration. Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration. Campus Verlag
(Frankfurt) 2009.
ISBN 978-3-593-38888-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7909.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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