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Michael Thoss, Christina Weiss (Hrsg.): Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.01.2010

Cover Michael Thoss, Christina Weiss (Hrsg.): Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa ISBN 978-3-424-35014-2

Michael Thoss, Christina Weiss (Hrsg.): Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa. Diederichs (München) 2009. 192 Seiten. ISBN 978-3-424-35014-2. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 34,90 sFr.

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Auf dem Wartegleis der Geschichte?

Die Rangier-, Abstell- und Wartegleise der Bahnhöfe sind meist in den hässlichsten und herunter gekommensten Gebieten der Bahnhofsviertel in den Städten; vermutlich, weil die Waggons entweder ausgesondert, oder reparaturbedürftig sind, oder derzeit nicht benötigt werden. Dieses Bild ist ganz gut geeignet, um die Europa-Skepsis zu beschreiben, wie sie nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag deutlich geworden ist: Wie viel Europa darf es sein?

Entstehungshintergrund und Autorenteam

Der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Allianz SE und des Stiftungsrates der Allianz-Kulturstiftung, Henning Schulte-Noelle, weist in seinem Vorwort zu der Sammlung von Vorträgen und Referaten, die von der Allianz Kulturstiftung als Beitrag zur bald 60jährigen Geschichte des europäischen Einigungsprozesses verstanden wird, auf die Gefahr hin, „dass der weitere Integrationsprozess und der Transfer von deutscher Souveränität an die Gemeinschaft in der Zukunft behindert oder zumindest verzögert wird“. In der Reihe „Reden über Europa“ kommen deutsche und europäische PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, Kulturschaffende und Publizisten zu Wort, denen eines gemeinsam ist: Sie sind davon überzeugt, dass ein friedlicheres, humaneres und gerechteres Zusammenleben der Menschen in unserer (Einen) Welt nur mit einem friedlichen, humanen und gerechten Europa geschaffen werden kann. Es sind unterschiedliche Argumentationslinien, als Aufrufe, Dialogangebote und kontroverse Paradigmen, die zum Nach- und Mitdenken anregen und so einen Baustein für das „europäische Haus“ darstellen.

Aufbau und Inhalt

Die vielfachen Aufforderungen, einen Perspektivenwechsel im Denken und Handeln der Menschen zu vollziehen, weil das Ende des Wachstums erreicht und die Menschheit sich am Wendepunkt ihrer Geschichte befinde (Club of Rome), dass die Menschheit an einem entscheidenden Punkt angelangt sei (Agenda 21), der Planet Erde vor der Überhitzung stehe (vgl. dazu: Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/7730.php), dienen auch dem Geschäftsführer der Allianz Kulturstiftung, Michael M. Thoss, dazu, in seinen Einführungsbeitrag vom „Ende der Gewissheiten“ zu sprechen und in einer Bestandsaufnahme nach „Quo vadis, Europa?“ zu fragen und damit gewissermaßen das Gliederungsschema des Sammelbandes vorzugeben: „Welche Lehren zieht Europa aus der Krise?“ und „Einheit in Vielfalt leben – Mission Impossible?“.

Die ehemalige Kulturstaatsministerin, Publizistin und Honorarprofessorin der Universität des Saarlandes, Christiane Weiss, setzt sich in ihrem Beitrag mit der Spannweite „Kulturelle Identität und Globalisierung“ auseinander. Dabei definiert sie Kultur als „das Regelwerk des Miteinander-Umgehens in einer Gesellschaft“. Dabei kann das Ziel eines humanen Miteinanders nur sein, dass ein gleichberechtigtes, gegenseitiges und dialogisches Einflussnehmen die eigene kulturelle Identität stärkt, ergänzt und bereichert. Die Autorin hofft, dass sich mit der Erkenntnis vom „Ende der Gewissheiten“ der unverstellte Blick öffnet „auf die Welt der anderen und ( ) die Chance (bietet), miteinander neue Sichtweisen und gemeinsame Handlungsräume zu eröffnen“.

Der Wiener Philosoph und Essayist, Konrad Paul Liessmann, spricht in seinem Beitrag „Europa als potenzielle Gemeinschaft“ über den Widerspruch der „Wertegemeinschaft“. Er bezweifelt z. B., dass die europäische Idee der Toleranz ein haftender Kitt sei, der die Gemeinschaft zusammen fügen könne; vielmehr plädiert er für die Bildung eines gemeinsamen Europas „so viel Gesellschaft wie möglich, so viel Gemeinschaften wie notwendig“.

Der Wuppertaler Philosoph und Kunstwissenschaftler Bazon Brock tritt für ein „Europa als Avantgarde einer Weltzivilisation“ und gegen „Kulturalismus“ ein. Es seien die Lehren aus der europäischen Geschichte, vom Eurozentrismus bis zur Bestimmung einer kulturellen, ethnisch-rassischen und rassistischen, sprachlichen und nationalen Identität, die zu einem neuen Kulturverständnis führen müssen, um die Bewältigung von „ökonomischen, ökologischen und anderen unlösbaren Problemen“ zu ermöglichen.

Der Münchner Soziologe und Politikwissenschafter Ulrich Beck zieht eine Bilanz der Realität und Utopie eines kosmopolitischen Europas. Von einer „Geschichte des Neins“ müssten sich die Europäer zu einer „Gemeinschaft der Emotionen“ wandeln Denn: Definitionen, Begriffe und Programme, wie ein gemeinsames Europa gestaltet werden sollte, gibt es genug. Was fehlt, ist ein Denkwechsel im Bewusstsein der Europäer für eine positive und zukunftsweisende europäische Dimension und Identität (vgl. dazu auch: : Dominique Moïsi, Kampf der Emotionen, 2009, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/8839.php).

Der österreichische evangelische Theologe, Bischof und Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Michael Bünker, spricht von der „versöhnten Verschiedenheit“, wenn er dazu auf fordert, die Vielfalt Europas als Einheit zu empfinden. Mit der Kennzeichnung, dass in Europa die Religion zurück kehre“, als Merkmal der Ungewissheiten des politischen und gesellschaftlichen Lebens, plädiert der Autor für eine „religiöse Dimension im interkulturellen Dialog“ der Zivilgesellschaft. Als Fundamente setzt er dabei die unveränderbare „Hausordnung“, die besteht in der unverlierbaren Würde des Einzelnen vor Gott, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit“.

Die Amsterdamer Ethnologin Halleh Ghorashi informiert darüber, „warum das Integrationsmodell der Niederlande gescheitert ist“. Dabei setzt sie sich mit dem traditionellen (europäischen) Begriff von Toleranz auseinander, der in den Demokratievorstellungen und –modellen all zu oft mit dem Bewusstsein von der Freiheit des anderen kollidiert.

Der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan ist davon überzeugt, dass die Zukunft Europas im Dialog liegt. Dazu formuliert er „neue Herausforderungen für Muslime in Europa“ (siehe dazu auch: Tariq Ramadan, Muhammad. Auf den Spuren des Propheten, Diederichs Verlag, München 2009). Er plädiert für ein neues WIR-Bewusstsein, das auf der Grundlage eines dialogischen, religiösen und kulturellen Pluralismus beruhen müsse.

Frank-Walter Steinmeier, Fraktionsvorsitzender der SPD, fragt, angesichts der Krisen und der Umbruchsituationen in der Welt, wo Europa stehe. Es sei immer noch die „Kraft der europäischen Idee“, die es zu entdecken und zu entwickeln gelte.

Der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg provoziert mit dem Hinweis: „Das Biedermeier ist zu Ende, wir haben es nur noch nicht realisiert“. Und weil sich die Kräfte- und Machtverhältnisse in der Welt verschoben hätten, müssten wir Europäer uns unserer Fähigkeiten und Schätze erinnern und einen gemeinsamen Markt der Ideen aufbauen.

Der bulgarische Politikwissenschaftler und Chefredakteur der bulgarischen Ausgabe von Foreign Policy, Ivan Krastev, mahnt an, dass „die EU vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte“ stehe. Dabei sei die Erhaltung des Status quo die schlechteste Lösung; vielmehr müsse Europa bereit sein, die Welt neu wahrzunehmen.

Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter in London und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, nimmt in seinem Beitrag die Kontroverse auf, wie sie sich um den Begriff und das Modell von „global governance“ rankt. Dabei formuliert er eine Reihe von Lehren, die aus der Wirtschafts- und Finanzkrise gezogen werden können: Europa müsse sich seiner Rolle als Modell zur Überwindung nationalstaatlichen Denkens bewusst werden.

Der in den USA als Experte für Geopolitik und Berater für internationale Beziehungen tätige Parag Khanna diskutiert „strategische Allianzen für das 21. Jahrhundert“. Eine neue Weltordnung lasse sich nicht mit spektakulären Utopien, aber auch nicht durch die Beibehaltung des Status quo erreichen; vielmehr bedürfe es einer hochkomplexen Diplomatie und der Bereitschaft zum Handeln.

Jean-Claude Juncker, Premier- und Finanzminister Luxemburgs, reitet mit seiner Frage, ob „die Wallstreet der neue Sitz der Komintern“ sei, eine Attacke gegen eine ungezügelte, kapitalistische Marktwirtschaft, und er mahnt an, „dass dem Sozialen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, … sowohl in der Europäischen Union, als auch im Rest der Welt“.

Peer Steinbrück reflektiert „über den vermeintlichen Widerspruch von Markt und Staat“. Wie viel staatliche Regulierung soll (muss) es sein. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, „dass weite Teile dieser Märkte Exzessen, Übertreibungen und Bereicherungen unterliegen und dass es keine Stabilisierungselemente mehr gibt“ (vgl. dazu auch: Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann: Der gute Kapitalismus, transcript Verlag, Bielefeld 2009, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/8846.php).

Der britische Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Harold James fragt, ob der „neue Keynesianismus“ der Totengräber des Projektes der europäischen Einigung sei. Sein von Pessimismus und beinahe schon Defätismus geprägter Beitrag sieht in den Ansätzen, wie die neuen Krisen bewältigt werden können, mehr und mehr nationale Lösungen: „Wir sind jetzt alle in der Fiskalpolitik zu Keynesianern geworden“.

Der Journalist und Autor des Buches „Die Globalisierungsfalle“, Harald Schumann, macht auf die Denk- und Politikfallen aufmerksam, indem er aufzeigt, „wie die ökologische Wende sich auch wirtschaftlich lohnt“. Die entscheidende Lehre aus der aktuellen Entwicklung müsse sein: „Es ist unverzichtbar, dass sich Regierungen und Parteien von den organisierten einzelwirtschaftlichen Interessen emanzipieren, um …die nötigen Maßnahmen zur Rettung der wirtschaftlichen und ökologischen Stabilität durchzusetzen“-

Der britische Soziologe Anthony Giddens plädiert in seinem Text für einen „grünen Staat“ und für eine „grüne Politik“. Am Beispiel des Klimaschutzgesetzes seines Landes zeigt er auf, welche Defizite, Irr- und Zukurzwege staatliche Umweltpolitik geht.

Die indische Umweltaktivistin und Publizistin Sunita Narain setzt sich für einen „Global Green Deal“ ein. Sie diskutiert, warum die bisherigen Konjunkturpakete scheitern müssen. Nur ein neuer „Gesellschaftsvertrag für die neue Welt“, der das Wohl aller Menschen auf der Erde im Fokus habe, könne uns vor der Menschheitskatastrophe bewahren.

Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdamer Instituts für Klimaforschung siehe ebenfalls in einem „Grünen Gesellschaftsvertrag“ für Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Ein „Global Deal“ müsse die ernsthafte Reduktion von Treibhausgasemissionen, die Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen an die Folgen des Klimawandels in Schwellen- und Entwicklungsländern, Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Zerstörung des Regenwaldes und die Ausweitung , Förderung und Kooperation bei technologischen Entwicklungen im Bereich der Niedrigemissionstechnologien umfassen.

Im Schlussbeitrag setzt gewissermaßen der Stifter des „Alternativen Nobelpreises“, Jakob von Uexküll, den Schluss- und Aufforderungspunkt: „Mit schmelzenden Gletschern kann man nicht verhandeln!“. Er weist darauf hin, dass das Hauptproblem der Menschen Hier rund Heute nicht ist, dass es die großen globalen Krisen gibt, sondern „dass wir diese nicht lösen, obwohl wir das Wissen, die Arbeitskraft und die Mittel dazu haben“. Mit seiner mutvollen Aufforderung, dass jeder Einzelne die Menschheitskatastrophe abwenden kann, durch „die Praxis täglicher Arbeit“, zeigt er Hoffnung auf und vermittelt die Kraft dazu.

Fazit

Die Allianz Kulturstiftung strebt das Ziel an, dazu beizutragen, dass der europäische Integrationsprozess sich dynamisch und nachhaltig entwickeln kann. Die „Reden über Europa“ zeigen den Querschnitt des gesellschaftlichen und politischen Denkens und Handelns in Europa auf. In der Textsammlung freilich sind die einzelnen Beiträge unterschiedlich zu gewichten, sowohl vom quantitativen wie vom qualitativen Aussagewert her. Der Leser wird die einzelnen Beiträge deshalb selbst werten müssen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.01.2010 zu: Michael Thoss, Christina Weiss (Hrsg.): Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa. Diederichs (München) 2009. ISBN 978-3-424-35014-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7917.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.


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