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Stefan Beck (Hrsg.): alt sein - entwerfen, erfahren

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 03.07.2009

Cover Stefan Beck (Hrsg.): alt sein - entwerfen, erfahren ISBN 978-3-938714-02-7

Stefan Beck (Hrsg.): alt sein - entwerfen, erfahren. Ethnografische Erkundungen in Lebenswelten alter Menschen. Panama Verlag (Berlin) 2009. 2. Auflage. 224 Seiten. ISBN 978-3-938714-02-7. 14,90 EUR.

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Thema

Die quantitativen Dimensionen des Phänomens einer "alternden Gesellschaft" stehen immer wieder im Fokus vieler Publikationen. Soziale, kulturelle und lebensweltliche Aspekte dagegen sind weniger im Zentrum des Interesses. Die Beiträge dieses Bandes erkunden auf der Basis von genauen Beobachtungen und zahlreichen Interviews alltägliche Erfahrungen und Selbstbilder älterer Menschen. In ethnografischen Fallstudien beispielsweise über „alt sein – sich alt fühlen“ oder den Alltag im Pflegeheim wird der Umgang mit den körperlichen und sozialen Folgen des Altseins nachvollziehbar beschrieben. Der Herausgeber, Prof. Dr. Stefan Beck, arbeitet am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt – Universität zu Berlin und hat ein dreisemestriges Studienprojekt unter dem Titel „Utopien und Dystopien des Alter(n)s“ betreut. Eine Gruppe von Studierenden hat durch Beobachtungen und Befragungen die hier vorgestellten Ergebnisse erzielt. Eine spezifische Zielgruppe wird nicht benannt.

Aufbau …

Das Buch ist in verschiedene Themenkomplexe unterschiedlicher Länge untergliedert.

… und Inhalte

Der Herausgeber beginnt mit dem ersten Thema „Altersstile. Ethnografische Erkundungen in einer verriesterten Gesellschaft“. Er stellt die Herangehensweise des Projektes vor und gibt einen kurzen Überblick über die einzelnen Inhalte der Kapitel.

Josefine Raasch beschreibt in ihren Beobachtungen „Ich lebe eigentlich noch richtig gerne“ wie der Übergang vom dritten zum vierten Lebensalter gestaltet und erlebt wird. Im Selbstbild der Interviewpartner würde ein deutlicher Unterschied zwischen biologischem und sozialem Alter markiert. Je mehr körperliche Fähigkeiten und soziale Kontakte zurückgehen würden, desto größer sei die Identifikation mit dem biologischen Alter (S. 31). Das dritte Lebensalter würde von den Interviewten als die Zeit erachtet, sich Lebensträume erfüllen zu können.

Mit dem Titel „Freundschaften zwischen alten und jungen Menschen“ ist der folgende Abschnitt von Judit Bartel überschrieben. Es werden einzelne Freundschaftsporträts vorgestellt, die differenzierte Beziehungsmuster verdeutlichen. Sie seien in der Regel durch ähnliche Lebensphilosophien und gemeinsame Kommunikationsstile charakterisiert und trügen dazu bei, Einblick in die eigene Lebenspraxis zu gewähren.

Brigitte Friederike Gesing setzt mit einer weiteren ethnologischen Erkundung fort, indem sie dem „Glauben in Zeiten der Krise“ nachgeht. Sie verstehe unter Religion ein System von Deutungsangeboten, aus dem Menschen die an sie gestellten Lebensanforderungen bewältigen und sinnhaft zu verstehen suchen (S. 53). Manche Befragte seien in die Kirche „hinein gewachsen“, andere fänden in ihr ein Stück Geborgenheit und wieder andere hätten den Glauben verloren. Sie schließt mit der Bemerkung ab: „Differenziell zu altern heißt dementsprechend auch, differenziell zu glauben“ (S. 71).

Bleibt weiter aktiv und bei Verstand“ so polemisiert die nächste Autorin, Carola Pohlen. Es wird die Rolle und Funktion der Gewerkschaft in einer sich wandelnden Gesellschaft untersucht, die dennoch auch heute noch auf Solidarität als einen gemeinsamen Grundwert aller Beteiligten ausgerichtet sei.

Ein neuer Abschnitt „Alte über das Alter(n)“ von Sulamith Hamra verfasst, unter dem zwei weitere Erkundungen thematisch gefasst werden, „Gesundheit als ‚Lebensprinzip‘“ von Sophia Siebert geschrieben, und von Maximilian Enzinger „Bewegung als Lebenselixier“, beginnt auf Seite 89. Von allen Befragten werde das Altern als körperlicher und geistiger Abbauprozess wahrgenommen, weil man nicht mehr aus eigener Kraft das erreichen könnte, was man wollte. Die Sorge um den Körper wirke strukturierend und der je individuelle Gesundheitsstil präge den Lebensstil erheblich. Älter werden würde bedeuten, sich stärker um die eigene Gesundheit kümmern zu müssen (S. 109). Der Bewegung und Gymnastik werde zentrale Bedeutung für das eigene Wohlbefinden beigemessen.

Von Imke Wangerin wird in „Routine und Rituale“ ein weiterer Gesichtspunkt aufgegriffen. Ebenfalls zwei Aufsätze finden sich darunter. „Das autonome Selbst mit Pflegestufe“ von Tom Mathar verfasst und von Mareike Mischke „Notwendig ist das richtige ‚Pflegeverständnis‘. Pflegeanspruch und -praxis in einem interkulturellen ambulanten Pflegedienst“. Rituale und eingehaltene Routinen verschafften den älteren Menschen das Gefühl von Kontinuität und Sicherheit und würden dazu verhelfen, die anstehenden Veränderungen zu bewältigen (S. 126). Im ersten Aufsatz wird die Frage zu beantworten versucht, warum die Konfrontation mit dem Leben im Pflegeheim so betroffen mache. Der Grund sei ein moralisches Problem, das für moderne westliche Gesellschaften signifikant sei: Es gehe einerseits um die Akzeptanz einer individuellen Lebensführung auch im Heim und andererseits um Fremdbestimmung unter Standardisierung und Routinisierung. In der ambulanten Pflege gäbe es finanzielle Engpässe und es werde noch viel mit familiärer „Liebestätigkeit“ gepflegt. Hier gehe es um ein neues Pflegeverständnis – der Anspruch eines gleichberechtigten Umgangs, Förderung von Selbständigkeit und kultursensible Pflege.

Ein vorletzter Abschnitt von Tom Mathar befasst sich mit der Thematik „Humor“. Wichtig sei trotz widriger Lebensumstände beim Altern konnte in vielen Situationen der ethnografischen Erkundungen gelacht werden, es könne mit Humor Distanz zu sich selbst aufgebaut werden, um die bevorstehenden Ereignisse (Pflegebedürftigkeit, Tod) zu bewältigen.

Sulamith Hamra fährt fort mit einem Artikel zu „Ehret die Alten. Zur Lebenswelt alternder Migranten türkischer Herkunft im Amselviertel“ (S. 167). Viele Türken empfänden sich noch immer als „Dritte – Klasse – Deutsche“, denen die Anerkennung der Deutschen fehle. Die Kinder empfänden es als selbstverständlich, ihre Eltern bei Krankheit zu pflegen, um ihre familiären Pflichten zu erfüllen. Viele Türken würden darunter leiden, die soziale Rolle des Familienoberhauptes nicht mehr ausführen zu können, wenn sie alt sind. „Ich möchte nicht vor meinem Sohn die Hände aufmachen“ so ein Ausspruch eines Befragten (S. 179). Weitere ambivalente Gefühle werden nachvollziehbar und authentisch beschrieben.

Das letzte Kapitel dieses Abschnitts „Probleme, die man(n) sich nicht mehr leisten kann. Sechs homosexuelle Männer im Alter“ wurde von Imke Wangerin geschrieben. Sie zeigt auf, wie homosexuelle Männer mit dem Altern in Beziehung sozialer Kontakte, Sexualität oder Selbstpraktiken umgehen. Sie müssten mit der Ausgrenzung durch ihr soziales Umfeld und mit der eigenen Resignation, im Alter weniger attraktiv zu sein und dadurch weniger Kontakte zu haben, kämpfen, ihr autonomes Selbst zu erhalten.

Der letzte Abschnitt von Michael Kutter „Ausschlüsse“ befasst sich sehr eindrucksvoll und prägnant mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen des Alters. Die Disposition des größtmöglichen gesellschaftlichen Machtzugriffs scheinen nicht mehr wie früher die Alten zu haben, sondern eher diejenigen zwischen 45 und 65 Jahren. Die spürbarsten Ausschlüsse lägen allerdings in der Verwendung der Sprache insbesondere der expandierenden Anglisierung, wodurch viele Botschaften einfach nicht mehr verstanden werden würden. Ähnlich verhalte es sich mit der technischen Entwicklung, wobei der Wissenstransfer eher von Jung nach Alt gehe und neue Abhängigkeiten schaffe und an tradierten Generationsbildern kratze (S. 204). Nicht zuletzt sei eine Herabwürdigung der Alten erkennbar, weil sie zu viele wären, die nicht mehr mit der Zeit mitkämen.

Fazit

Es lohnt sich, diese Publikation zu lesen. Es ist eine Lektüre, die den Blick hinter die Kulissen erlaubt, authentisch, einfühlsam und nachvollziehbar. Ethnografische Selbstporträts als qualitative Methoden der Erhebung und Erkundung erlauben einen spezifischen Erkenntnisgewinn, der Alterungsprozesse in Facetten aufbereitet, die keinen alltäglichen, sondern eher einen sehr individuellen Zugang ermöglichen. Darin liegt auch die wesentliche Stärke der Publikation, wodurch quantitative Datenerfassungen nüchtern erscheinen. Die einzelnen Beiträge sind auch vom Sprachduktus und der Herangehensweise gut aufeinander abgestimmt und verstehbar. Für jene, die einen tieferen Einblick in die Seele alternder Menschen suchen, sind die Ausführungen bereichernd und lohnend zugleich.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische Sozialforschung und Gerontologie
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Es gibt 200 Rezensionen von Gisela Thiele.

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Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 03.07.2009 zu: Stefan Beck (Hrsg.): alt sein - entwerfen, erfahren. Ethnografische Erkundungen in Lebenswelten alter Menschen. Panama Verlag (Berlin) 2009. 2. Auflage. ISBN 978-3-938714-02-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7937.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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