Peter Cloos, Stefan Köngeter u.a.: Die Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Hermann Sollfrank, 04.11.2009

Peter Cloos, Stefan Köngeter, Burkhard Müller, Werner Thole: Die Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 2., durchges. Auflage. 326 Seiten. ISBN 978-3-531-16597-4. 29,90 EUR. CH: 51,00 sFr.
Thema
Erklärtes Ziel der Autorenschaft ist es, „die Eigenart der einrichtungsbezogenen Kinder- und Jugendarbeit in Jugendhäusern, Jugendzentren und Häusern der offenen Tür als pädagogisches, institutionelles Handlungsfeld der non-formalen Bildung empirisch dicht zu beschreiben“ (9). Damit liegt der thematische Schwerpunkt nicht, was der Titel vielleicht zunächst nahelegen könnte, auf einer Deskription erfolgversprechender Sozialtechnologien oder Konzepte in der Kinder- und Jugendarbeit oder in einem Entwurf einer pädagogischen Kinder- und Jugendarbeitstheorie. Vorrang hat vielmehr die Frage nach den „empirisch zu beobachtenden Praktiken“ in dem pädagogischen Feld der offenen Kinder- und Jugendarbeit und damit die Frage, in welcher Art und Weise professionelle AkteurInnen und AdressatInnen dieses Feld gemeinsam „konstituieren“ (ebd.). Die Autoren verbinden mit ihrem Buch auch die Hoffnung, dass sie einen Beitrag zur weiteren Etablierung der Forschungsrichtung einer Ethnografie der Pädagogik in Deutschland leisten und den Prozess der Etablierung einer empirisch fundierten Erziehungswissenschaft unterstützen (10).
Autoren
Prof. Dr. Peter Cloos ist Juniorprofessor für die Pädagogik der frühen Kindheit am Institut für Erziehungswissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim.
Dr. Stefan Köngeter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Organisations- und Sozialpädagogik der StiftungUniversität Hildesheim
Prof. Dr. Burkhard Müller, befindet sich im Ruhestand und war vormals Professor am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Unversität Hildesheim.
Prof. Dr. Werner Thole, ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulische Bildung am Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter der Universität Kassel
Entstehungshintergrund
Die Publikation, hier in der 2. durchgesehenen Auflage vorliegend, präsentiert in überarbeiteter Form die Ergebnisse eines von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) geförderten Forschungsprojektes „Konstitutionsbedingungen und Dynamik (Performanz) sozialpädagogischen Handelns in der Kinder- und Jugendarbeit“, welches zwischen 2004 und 2007 an den Universitäten Hildesheim und Kassel durchgeführt wurde. Teilergebnisse der Studie wurden schon in einer früheren Veröffentlichung vorgestellt (Müller et al. 2005: Wahrnehmen können. Jugendarbeit und informelle Bildung. Freiburg).
Aufbau
Den Hauptteilen vorangestellt geben die Autoren einen Überblick über die zentralen Ergebnisse und den theoretischen Rahmen der Studie. Es folgen Anmerkungen zum Forschungsdesign, der Forschungspraxis und noch offener Forschungsfragen. Dabei werden in der Untersuchung drei Blickrichtungen miteinander verbunden. Die spezifischen institutionellen und organisatorischen Strukturen des Handlungsfeldes der Kinder- und Jugendarbeit, die besonderen Interaktionsstrukturen des Handlungsfeldes und die Verdichtung dieser institutionellen und interaktionalen Strukturen in individuellen und kollektiven Geschichten sowohl der Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit als auch der Pädagoginnen und Pädagogen.
Nach diesem Überblick stellen die Autoren drei grundlegende Bedingungen pädagogischen Handelns in der offenen Kinder- und Jugendarbeit heraus. Jeder dieser Bedingungen ist ein Teil des Buches gewidmet und stellt einen spezifischen ethnografischen Zugang dar:
- Die Herstellung von Zugehörigkeit
- Das Handeln in der sozialpädagogischen Arena
- Die Arbeitsbeziehungen in der Kinder- und Jugendarbeit.
Bemerkenswert ist der von den Autoren in diesem Zusammenhang eingeführte Begriff der „sozialpädagogischen Arena“, an dem entlang Besonderheiten des sozialpädagogischen Ensembles Kinder- und Jugendhaus empirisch herausgearbeitet werden. Arenen sind dabei in erster Linie „soziale Räume, in denen verschiedene Formen des alltäglichen, situationsbezogenen Sich-in-Szene-Setzens und des aktiven Zuschauens und Beobachtens zu rekonstruieren sind“ (15). Die Teilnahme an diesen Interaktionen und Inszenierungen ist in der Regel diskontinuierlich und latent durch Wettkampf und Spiele geprägt, bei denen sich unterschiedliche Ebenen von Zugehörigkeit etwa entlang von Kategorien wie Geschlecht, Clique, Generation rekonstruieren lassen (ebd.). Die sozialpädagogische Arena ist ein Raum, der durch Performativität, Sozialität und Materialität gekennzeichnet ist und in dem sich Kinder und Jugendliche untereinander und als solche wiederum mit PädagogInnen wechselseitig und in unterschiedlichsten Formen in eine Beziehung zueinander setzen.
1. Herstellung von Zugehörigkeit
Im ersten Teil der Abhandlung steht zunächst die Frage im Vordergrund, wie Personen überhaupt in die Einrichtungen gelangen, wie sie es schaffen, partiell am vielschichtigen Geschehen im Jugendhaus zu partizipieren, spezifische Rollen einzunehmen und wie die Zugehörigkeit zu dem „Aktivitätsraum Kinder- und Jugendarbeit“ entsteht (56). Dabei wird zunächst der Zugang zum Jugendhaus in den Blick genommen, die unterschiedliche Qualität seiner Ein- und Zugänge, die die Art und Weise eines Weges vom Außen in das Innen und umgekehrt determinieren. Des weiteren heben die Autoren auf die Bedeutung von Begrüßungsritualen als „vorstrukturierende Praktiken“, ab „mit denen räumliche Übergange im Jugendhaus gestaltet und bewältigt werden“ (71). Sie begleiten die Prozeduren der Inklusion und Exklusion von Personen und Gruppen und die Positionierung von an- und hereinkommenden BesucherInnen der Jugendhäuser.
Die Zugänge zur „sozialpädagogischen Arena“ werden als vielschichtig und vielfältig beschrieben, sind meistens zurückhaltend institutionell reglementiert und unterliegen häufig einem Aushandlungsprozess zwischen den Akteuren innerhalb des Jugendhauses. Die sozialpädagogische Arena wird hier als ein Handlungsraum begriffen, der nicht nur einfach „territorial-architektonisch“ beschrieben werden kann sondern dessen Zugänge und Grenzen immer wieder auf das Neue performativ hergestellt werden (89). Sozialpädagogische Arenen zeichnen sich nach Auffassung der Autoren strukturell dadurch aus, dass die Aktivitäten im Jugendhaus eher ohne direkte Anwesenheit und ohne direkten Einfluss der Professionellen geschehen. Sie sind „performativ hergestellte und sensorisch erfahrbare Orte […] des Sich-in-Szene-Setzens und des Zuschauens“, zeichnen sich durch die Gleichzeitigkeit und dem rasanten Wechsel von diskontinuierlicher, „dezentrierter und zentrierter“ Interaktion aus. Zugleich sind sozialpädagogische Arenen Austragungsorte der „spielerischen Auseinandersetzung und der Aushandlung“. Dabei werden Zugehörigkeit und Gemeinschaft durch Auseinandersetzung und Abgrenzung zu anderen Teilgruppen hergestellt sowie die eigene symbolische Zugehörigkeit in der zu besetzenden Arena inszeniert. Alle diese Handlungen realisieren sich in einem quasi öffentlichen Raum, der Intimität nur eingeschränkt zulässt (90ff). Von besonderer Bedeutung sind dabei die von Cloos u. a. als „Dispositive“ bezeichnete Kristallisationspunkte in der sozialpädagogischen Arena, die auch von PädagogInnen performativ (mit-) gestaltet werden können und mit ihrer Ausrichtung z. B. auf Alter, Gender und Ethnie Differenzen und Differenzierungen erzeugen, an denen Kinder und Jugendliche Anschluss finden können (121f).
2. Das Handeln in der sozialpädagogischen Arena
In diesem zweiten Teil der Monografie wird der ethnografische Blick auf die ritualisierten, mehr oder minder mit Absichten verbundenen, einverleibten und gewohnheitsmäßigen alltäglichen Praktiken gelegt. Dabei stehen zunächst die Platzierungspraktiken der JugendarbeiterInnen in der sozialpädagogischen Arena im Vordergrund, wie sie sich in Beziehung zu den Platzierungspraktiken der Jugendlichen darstellen und hier als Handlungsmodalitäten „Umherschweifen“, „sich präsent zeigen“, „sich separieren und Gravitation erzeugen“ begrifflich gefasst werden (129ff). Die entsprechenden pädagogischen Interaktionen knüpfen dabei an den Alltagskommunikationen der Jugendlichen an und modulieren diese im Sinne einer pädagogischen Produktivität. Hierauf aufbauend werden konstitutive Regeln pädagogischen Handelns beschrieben wie etwa der sparsame Gebrauch der Transformation von alltäglicher Kommunikation in eine offensichtlich pädagogische asymmetrische Arbeitsbeziehung (Sparsamkeitsregel), die Aufforderung, bei den Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen zumindest scheinbar als „Anderer“ mitzumachen (Mitmachregel) und die Ermöglichung einer wechselseitigen Sichtbarmachung von persönlichen Einstellungen (Sichtbarkeitsregel) (161ff). Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie im Alltag des Jugendhauses immer wieder Übergänge hin zu einem pädagogischen Rahmen geschaffen werden können, sowie die Rekonstruktion der Bedeutung der Hausverbote als Praktiken der Grenzziehung und Exklusion sind Gegenstand der letzten beiden Kapitel dieses Abschnitts.
3. Die Arbeitsbeziehungen in der Kinder- und Jugendarbeit.
Im letzten Teil des Buches rückt der Aspekt der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen in den Vordergrund. Eine wesentliche Aussage der Autoren ist hier, dass auf der Basis der eigenen empirisch gesicherten Rekonstruktionen von Handlungen, Beziehungen und der konstitutiven Elemente der sozialpädagogischen Arena eine Polarisierung zwischen Beziehungsarbeit und infrastrukturellen Raumschaffung hinterfragt werden kann. Damit folgen die Autoren unter Rückgriff auf ihre Forschungsergebnisse nicht dem argumentativen Mainstream in der konzeptionellen Literatur zur Kinder- und Jugendarbeit. Sie plädieren dafür „die Etablierung von Arbeitsbeziehungen immer zugleich als Ausgestaltung der sozialpädagogischen Arena [zu betrachten]“ (227).
Vor diesem Hintergrund entwickeln sie auch erste Versuche, die Genese von Arbeitsbeziehungen von professionellen AkteurInnen mit Kindern und Jugendlichen von einfachen Vorhalteleistungen bis zu gefestigten Arbeitsbeziehungen, von freizeitpädagogischen Angeboten bis hin zur Hilfe bei Krisen idealtypisch zu skizzieren und gehen auf die Rahmenbedingungen der Konstitution von Arbeitsbeziehungen und deren Typen ein, die sie als „Andere unter Gleichen“, „Erste unter Gleichen“ und „Erste unter Anderen“ bezeichnen. Mit der Analyse langfristiger Arbeitsbeziehungen im Kontext der Bearbeitung von Krisen Jugendlicher und der Frage nach den Herausforderungen der Etablierung von Arbeitsbeziehungen endet das Buch.
Diskussion
Die Kinder- und Jugendarbeit ist bis heute, was ihre empirisch orientierte Erforschung anbelangt, in vielen Bereichen eine Terra incognita. Dieses Forschungsdefizit zu beheben ist inzwischen eine drängende Aufgabe geworden. Kinder- und Jugendarbeit soll bildungs- und sozialpolitische Programme und Ziele etwa der Bundesländer und Kommunen realisieren helfen, unterliegt einem erheblichen Anpassungsdruck an das System Schule und sieht ihre Eigenständigkeit und Relevanz als außerschulische pädagogische Institution teils implizit und teils explizit in Frage gestellt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Blick der Kostenträger der Kinder- und Jugendarbeit sich unter dem Einfluss neuer Steuerungsmodelle in öffentlichen Verwaltungen zunehmend auf den bildungsökonomisch relevanten Beitrag der Anbieter von Kinder- und Jugendarbeit im jeweiligen sozialgeografischen Raum bzw. sozialräumlichen Kontext fokussiert. Denkt man die Ergebnisse der vorliegenden Studie weiter, muss man z. B. die populär gewordenen evidenzorientierten Kontrakte zwischen Finanzträgern und Anbietern der Kinder- und Jugendarbeit kritisch betrachten. In ihnen werden inzwischen qualitative wie quantitative Wirkungen pädagogischen Handelns auf die jugendliche Klientel via Zielvereinbarungen von vornherein festgelegt. Damit treten Vorstellungen der Machbarkeit, Planbarkeit und Steuerbarkeit pädagogischer Prozesse in den Vordergrund, die latent im Widerspruch zur besonderen sozialethnografischen Beschaffenheit der offenen Kinder- und Jugendarbeit stehen. Oder anders: Die Verfasstheit der offenen Kinder- und Jugendarbeit als eine sozialpädagogische Arena steht vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen vermutlich zur Disposition.
Fazit
Mit dem vorliegenden Buch ist es gelungen, eine empirisch fundierte und differenzierte Beschreibung der Rahmenbedingungen und Strukturen pädagogischen Handelns im Kontext alltäglicher Interaktionsbeziehungen zwischen PädagogInnen und ihren AdressatInnen in der offenen Kinder- und Jugendarbeit zu liefern. Das originäre pädagogische Potential der offenen Kinder- und Jugendarbeit, welches in seiner infra- und kommunikationstrukturellen Verfasstheit gründet, kann besser veranschaulicht, genutzt und prospektiv weiterentwickelt werden, wenn solche empirischen Ergebnisse im Rahmen ethnografischer Studien zur Pädagogik vorliegen. Ein Gewinn nicht nur für die Pädagogik als Reflexions- und Handlungswissenschaft. Auch ein Gewinn für die konzeptionelle Weiterentwicklung jugendpädagogischer und sozialpädagogischer Praxis in der Kinder- und Jugendarbeit.
Rezension von
Prof. Dr. Hermann Sollfrank
Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, Fachbereich Soziale Arbeit München
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Zitiervorschlag
Hermann Sollfrank. Rezension vom 04.11.2009 zu:
Peter Cloos, Stefan Köngeter, Burkhard Müller, Werner Thole: Die Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009. 2., durchges. Auflage.
ISBN 978-3-531-16597-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7971.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
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