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Peter Richter: Ökonomisierung als gesellschaftliche Entdifferenzierung

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 10.10.2009

Cover Peter Richter: Ökonomisierung als gesellschaftliche Entdifferenzierung ISBN 978-3-86764-169-2

Peter Richter: Ökonomisierung als gesellschaftliche Entdifferenzierung. Eine Soziologie zum Wandel des öffentlichen Sektors. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2009. 251 Seiten. ISBN 978-3-86764-169-2.
Reihe: Analyse und Forschung - Sozialwissenschaften.

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Autor

Peter Richter ist Organisations- und Verwaltungssoziologe an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Mit der vorliegenden Arbeit promovierte er dort im Jahre 2008.

Thema

Mit „sozialer Differenzierung“ (Georg Simmel) oder auch „gesellschaftlicher Differenzierung“ werden in der soziologischen Theorie langfristige gesellschaftliche Veränderungen gekennzeichnet, in deren Verlauf sich „soziale Positionen“ sowie „Lebenslagen und –stile“ im Sinne ihre Fortentwicklung stets weiter ausdifferenzieren. Betrachtete die Soziologie „soziale Differenzierung“ lange Zeit als irreversibel, dann wird seit einigen Jahren mit dem - umstrittenen - Begriff der „Entdifferenzierung“ auch die Möglichkeit der Umkehrbarkeit dieser Entwicklungen im Sinne einer negativ konnotierten gesellschaftlichen Rückentwicklung diskutiert.

In eben diesem Kontext will Richter auch den Wandlungsprozess des öffentlichen Sektors betrachten, wenn er von der „Ökonomisierung als gesellschaftlicher Entdifferenzierung“ spricht, weil und insofern „die Ökonomie“ sich - etwa im Zuge eines „Imperialismus der ökonomischen Organisation“ (S. 61 f.) - den öffentlichen Sektor (und nicht nur diesen) ideologisch wie praktisch zum Untertan macht: „Stadtwerke und Kommunalverwaltungen werden zunehmend ökonomisiert. Die Ökonomisierung verändert Sinn und Struktur öffentlicher Organisationen ebenso wie die Beziehungen zwischen ihnen. Sie erschüttert den Glauben daran, dass gesellschaftliche Modernisierung stets mit einer Steigerung sinnhafter Ausdifferenzierung einhergeht. Die Untersuchung beleuchtet typische Muster der Dominanzherstellung des Ökonomischen im Feld kommunalen Wirtschaftens, Politisierens und Verwaltens. Sie zeigt auf, wie andere gesellschaftliche Bereiche an der Ökonomisierung des kommunalen Sektors mitwirken, und nicht zuletzt, wie Ökonomisierung organisations- und zugleich gesellschaftstheoretisch denkbar ist.“ (Klappentext).

Konkret hat sich Richter deshalb vorgenommen, „[…] erstens aufzuzeigen, wie sich der kommunale beziehungsweise öffentliche Sektor ökonomisierend wandelt und zweitens - und darin bestand die eigentliche Herausforderung - diese empirisch zugänglichen Prozesse institutionellen Wandels sozialtheoretisch zu erfassen - begrifflich wie methodologisch.“ (S. 215).

Aufbau

Die Arbeit umfasst insgesamt sechs Kapitel:

  1. In der Einleitung erläutert Richter kurz die inhaltliche Fragestellung und seine (methodische) Herangehensweise;
  2. Im zweiten Kapitel („Ökonomisierung des öffentlichen Sektors“) versucht Richter eine „erste kurze Annäherung an das zu erfassende Phänomen“;
  3. Im dritten Kapitel („Ökonomisierung als gesellschaftliche Rationalisierung“) werden soziologische Gesellschaftsdiagnosen und einige Probleme ihrer wissenschaftlichen Betrachtung thematisiert;
  4. Das darauf folgende Kapitel („Organisationale Ökonomisierung“) beschäftigt sich mit „Organisationen als ökonomisierten Systemen“, mit der „Ökonomisierung von Entscheidungen in Organisationen“ und beschreibt Ökonomisierung als Form zugleich der organisationalen Institutionalisierung und Individualisierung;
  5. Das umfangreichste, eher empirisch-analytisch angelegte fünfte Kapitel mit der Überschrift „Ökonomisierung des öffentlichen Sektors“ thematisiert Prozesse der internen und externen Ökonomisierung kommunaler Unternehmen sowie die Ökonomisierung der Verwaltung im engeren Sinne (durch das New Public Management sowie verschiedene Formen des Beteiligungsmanagements als Ökonomisierung (aus) der Kernverwaltung). Ein eigenes Unterkapitel ist den Beratungsunternehmen als einem besonderen externen Akteurstypus und ihren Einflüssen und Wirkungen auf Ökonomisierungsprozesse des öffentlichen Sektors gewidmet;
  6. Die Arbeit endet mit Schlussbetrachtungen zur „ Ökonomisierung der Gesellschaft und der Soziologie als unbeteiligtem Zuschauer“.

Ausgewählte Inhalte

Im Kapitel „Ökonomisierung als gesellschaftliche Rationalisierung. Gesellschaftsdiagnosen und einige Probleme ihrer wissenschaftlichen Erfassung“ erläutert Richter „wie Ökonomisierung makrosoziologisch zu verstehen ist und in welcher Weise das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Organisation und Gesellschaft in verschiedenen [soziologischen] Ansätzen konzipiert wird.“ (S. 29). Zur Beschreibung von Ökonomisierung als einem Phänomen gesellschaftlicher Modernisierung greift Richter dabei sowohl auf die Soziologie Max Webers („Universelle, okzidentale Rationalisierung“) als auch auf Niklas Luhmann („Systemische Ökonomisierung der funktional differenzierten Gesellschaft“) und Pierre Bourdieu („Soziale Ungleichheit in der ökonomisierten Gesellschaft“) zurück. Richter deutet Ökonomisierung in diesem Zusammenhang als einen Prozess „in dessen Verlauf sich Verhältnisse gesellschaftlicher Rationalitätsmodi ändern. Mit dem allgemeinen Bedeutungszuwachs der Ökonomie als Substruktur moderner Gesellschaften ist eine stärker an Zwecken orientierte Rationalisierung, insbesondere in der Form rechenhaften Handelns verbunden.“ (S. 57).

Im folgenden Kapitel, das mit „Organisationale Ökonomisierung“ überschrieben ist, untersucht er „welche Ausprägungen Ökonomisierungsprozesse in Organisationen annehmen, beziehungsweise genauer, wie Ökonomisierungsprozesse in Organisationen jeweils begrifflich erfassbar sind.“ (S. 61). Zu diesem Zweck werden etablierte Organisationstheorien als Untersuchungsinstrument von Ökonomisierungsprozessen erschlossen. Im Rahmen der systemischen Ökonomisierung von Organisationen lassen sich danach für Richter zwei Perspektiven ableiten: „Erstens die Idee der Verdrängung systemischer Primärbezüge von Organisationen. Organisationen wechseln ihr primäres gesellschaftliches Bezugssystem. Ökonomische Rationalvorstellungen verdrängen konkurrierende Systemlogiken. Zweitens wandeln sich intraorganisationale Verhältnisse der Multireferentialität. Organisationen sind weiterhin multireferentiellen Charakters, nichtökonomische Rationalformen verschwinden nicht einfach aus Organisationen, sondern sie werden von ökonomischen Formalformen überformt.“ (S. 84).

Im Kapitel „Ökonomisierung des öffentlichen Sektors“ behandelt Richter Tendenzen einer Ökonomisierung der Kommunalwirtschaft, die sich sowohl an Prozessen einer externen Ökonomisierung (der rechtlichen und organisatorischen Verselbstständigung sowie Ausgliederungsstrategien und der Etablierung neuer Rechtsformen) als auch interner Ökonomisierung (der Veränderung organisationaler Rollen und Selbstbilder der Akteure) aufzeigen lasse, wie sie mit dem neuen Leitbild eines „Dienstleistungsunternehmens Kommune“ nach innen, zugleich aber auch nach außen transportiert werden. Letzteres werde strukturell insbesondere durch die Einführung „managerieller Modernisierungsformen“ im Rahmen des New Public Managements bzw. des Neuen Steuerungsmodells befördert, die die Binnenmodernisierung der Verwaltung vorantreiben sollen und zugleich ein Vehikel darstellen, mit dem eine Modifizierung ihres Verhältnisses zu externen Leistungserbringern (Trägern und Einrichtungen) erreicht werden soll. Diese Veränderungen haben schließlich auch Folgen für die Gestaltung von Kommunalpolitik: „Kommunalpolitik wird zunehmend auf strategische und teleologische Steuerung der als Instrumente verklärten Verwaltung und Kommunalwirtschaft verwiesen. Auch die Rolle der Öffentlichkeit wandelt sich tendenziell vom Leitbild des Bürgers hin zum Leitbild des Kunden.“ (S. 131).

Diskussion

Die Untersuchung hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Das beim Leser geweckte Interesse an und der vom Autor selbst gesetzte Anspruch einer Verknüpfung der empirisch-deskriptiven Schilderung realer Veränderungsprozesse des öffentlichen Sektors durch die so genannten „Ökonomisierung“ einerseits und die sozialtheoretische Erfassung dieses institutionellen Wandels auf der anderen Seite wird – trotz der auf den ersten Blick durchaus konsistenten und sachlogischen Gliederung – nur in Ansätzen (dabei noch am ehesten im fünften Kapitel) eingelöst.

Ansonsten gerät der eigentliche Untersuchungsgegenstand stattdessen häufig zum bloßen Material der Anwendung soziologische Theoreme, was ihn eher verrätselt, als zur Bestimmung der Sache - nämlich der Ökonomisierung als propagierter Leitidee eines Wandels des öffentlichen Sektors - beizutragen. So erfährt man etwa über die Soziologie Webers, Luhmanns und Bourdieus einiges, letztlich allerdings wenig Neues. Vor allem aber fragt sich der Leser, ob und ggf. inwiefern diese Ausführungen für die angekündigte Erklärung eines durch die Ökonomisierung sich vollziehenden „Wandels des öffentlichen Sektors“ relevant sein könnten?

Ein Beispielzitat – man könnte weitere anführen - mag diese Einschätzung bebildern: „Die Organisation selbst als typische Institution moderner Gesellschaften ist durch eine universelle Ökonomie gekennzeichnet. Insofern ist jede Organisation in gewissem Maße ökonomisch strukturiert. Organisationale Ökonomisierungsprozesse werden als komplexer sozialer Prozess beschrieben. Die legitimatorische Orientierung am ökonomischen Rationalmodell führt - im Hinblick auf die Gestaltbarkeit des Wandels - zu einer Externalisierung von Gestaltungsmöglichkeiten durch die Konstruktion eines Sachzwangcharakters ökonomischen Handelns, beispielsweise kalkulierenden Entscheidendes.“ (S. 127). Abgesehen davon, dass derartige Ausführungen auf alle Nichtsoziologen unter Umständen schon terminologisch und sprachlich leicht abschreckend wirken können: Was soll „die Organisation selbst“ getrennt von jedem Zweck und Inhalt sein? Warum und inwiefern ist sie „typisch“ für „moderne Gesellschaften“ (und was hat man darunter wieder zu verstehen?). Was genau ist eine „in gewissem Maße ökonomische Strukturiertheit“? „Komplex“ (dtsch.: verflochten, verwoben) ist ein auch außerhalb der Soziologie in der Wissenschaft oft gebräuchlicher Leerbegriff, der die Existenz vielfältiger Zusammenhänge (wovon?) nur behauptet, wo diese gerade zu erklären wären. Und schließlich: Wie und warum soll sich in der Abstraktion bzw. dem Pleonasmus eines „kalkulierenden Entscheidens“ (wer kalkuliert was, zu welchem Zweck; ist das Kalkulieren „an sich“ damit schon verwerflich oder ist eher eine bestimmte (welche?) Art und Weise ökonomischer Kalkulation gemeint?) ausgerechnet der „Sachzwangcharakter ökonomischen Handelns“ (überhaupt oder „moderner Gesellschaften“ oder des Kapitalismus?) zeigen und worin besteht dieser? All das fragt man sich an dieser, aber auch an anderen, inhaltlich ähnlich indifferenten Stellen des Buches.

Es verwundert deshalb nicht, dass der Autor selbst bezüglich der Ergebnisse bzw. möglicher Schlussfolgerungen seiner Forschung letztlich nur eher vage Äußerungen macht: „Ob es sich bei der Form von Ökonomisierung als Überformung um einen stabil wirksamen Ökonomisierungsmechanismus oder ob es sich demgegenüber um ein institutionelles Übergangsstadium handelt, in dem letztlich doch andere Rationalformen zumindest in bestimmten Organisationen oder Organisationstypen verdrängt würden (Ersetzung), bleibt unsicher, aber prinzipiell denkbar. Insofern ist die zweite Vorstellung von Ökonomisierung als Verdrängung konkurrierender Rationalformen – und dann sicher als Entdifferenzierung zu bewertender Entwicklung – nicht vom Tisch der Zukunft.“ (S. 223; Herv. i. O.).

Fazit

So hinterlässt das Werk seinen Leser nach gut 200 Seiten Lektüre einerseits etwas ratlos andererseits, d. h. bezogen auf die angekündigte Darstellung bzw. Klärung der Frage einer vermeintlichen oder tatsächlichen „Ökonomisierung als gesellschaftlicher Entdifferenzierung“, vor allem aber auch ziemlich unbefriedigt.

Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
Website

Es gibt 35 Rezensionen von Michael Buestrich.

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Zitiervorschlag
Michael Buestrich. Rezension vom 10.10.2009 zu: Peter Richter: Ökonomisierung als gesellschaftliche Entdifferenzierung. Eine Soziologie zum Wandel des öffentlichen Sektors. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2009. ISBN 978-3-86764-169-2. Reihe: Analyse und Forschung - Sozialwissenschaften. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7978.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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