Alessandro Pelizzari: Dynamiken der Prekarisierung
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 20.11.2009

Alessandro Pelizzari: Dynamiken der Prekarisierung. Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheitsbewältigung.
UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2009.
353 Seiten.
ISBN 978-3-86764-172-2.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 58,00 sFr.
Reihe: Analyse und Forschung - 63.
Thema
„Das vergangene Jahrzehnt ist nicht spurlos an der gesellschaftlichen Chancenstruktur vorbeigezogen: Die Kerne normaler Vollzeitbeschäftigung sind geschrumpft, und ihnen steht eine beträchtliche Zahl Ausgeschlossener gegenüber. Dazwischen öffnet sich ein Graubereich von Erwerbsverhältnissen, die von deutlichen Anzeichen der Unsicherheit geprägt sind. Die qualitative Studie beschreibt die Bewältigungsstrategien von prekär Beschäftigten als Verteilungskämpfe um Sicherheit, welche die Dynamiken der Ent- und Neubildung sozialer Klassen prägen. Sie lädt aber auch dazu ein, über neue Formen kollektiver Partizipationsmöglichkeiten der Beschäftigten in der Lohnarbeit nachzudenken.“ (Klappentext)
Autor
Alessandro Pelizzari ist Regionalsekretär der Gewerkschaft Unia in Genf. Er promovierte 2008 mit vorliegender Arbeit an der Faculté des sciences économiques et sociales der Universität Genf.
Entstehungshintergrund
Mit wachsender Geschwindigkeit breiteten sich in den letzten Jahren Verhältnisse aus, die im „sozialstaatlichen“ Kapitalismus längst als überwunden galten. „Prekäre“ Arbeitsverhältnisse, häufig angesiedelt in einem politisch gewollten und entsprechend protegierten „Niedriglohnsektor“ ersetzen die vergleichsweise auskömmliche Beschäftigung in sogenannten „Normalarbeitsverhältnissen“. Ein Indiz besteht darin, dass die darüber erzielbaren Einkommen voll Erwerbstätiger zunehmend mit Lohnersatzleistungen „aufgestockt“ werden (müssen). „Unsicherheit“ der Arbeits- und Lebensverhältnisse verbunden mit einer schärferen Arbeitsmarktkonkurrenz – gerade in der Krise! – werden damit bis in eine vermeintliche „gesellschaftliche Mitte“ hinein zu einer prägenden Erfahrung.
Seiner etymologischen Bedeutung nach lässt sich „prekär“ mit „widerruflich“, „unsicher“ oder „heikel“ übersetzen. Innerhalb der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung wird der Begriff genutzt, um die Ausbreitung der angesprochenen unsicheren Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse zu thematisieren. Insbesondere französische Soziologen wie Pierre Bourdieu (Die zwei Gesichter der Arbeit, Konstanz 2000), Serge Paugam (Le salarié de la précarité, Paris 2000) oder Robert Castel (Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000) sehen darin den Kern der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts.
Der Tatbestand als solcher besitzt dabei nur für die Lebensverhältnisse der „ersten Welt“ einen gewissen Neuigkeitscharakter, während „Unsicherheit“ für die sogenannte „dritte Welt“– mit einer praktisch viel dramatischeren Qualität, z. T. bis zur unmittelbaren Bedrohung des Lebens – bis heute eher die schlechte Normalität darstellt. Marx thematisierte dabei die Herausbildung „prekärer“ Arbeitsbedingungen im engeren Sinne im ersten Band des „Kapital“ als einen für den Kapitalismus ökonomisch folgerichtigen Umstand. Für die Arbeiter werde dabei paradoxerweise „[…] im selben Maß, wie sie mehr arbeiten, mehr fremden Reichtum produzieren und die Produktivkraft ihrer Arbeit wächst, sogar ihre Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals immer prekärer (Herv. MB)“ (S. 669).
Aufbau
Der eigentlichen Untersuchung ist eine kurze thematische Einleitung von Berthold Vogel (Institut für Sozialforschung, Hamburg) vorangestellt, in der dieser knapp auf die Herkunft in die Genese des Begriffes der „Prekarität“ eingeht.
Pelizzaris Untersuchung selbst ist ein zwei Teile gegliedert:
- Der erste, theoretisch-analytische Teil („Grundlagen der Prekarisierungsforschung“) beschäftigt sich in drei Unterkapiteln mit den „Diskursen der Prekarisierung“, dem Themenbereich „Arbeitsmarkt und Prekarisierung“ sowie einigen Zusammenhängen von „Sozialstruktur und Prekarisierung“.
- Im empirisch ausgerichteten zweiten Teil („Unsicherheitsbewältigung prekär Beschäftigter“) befasst sich der Autor, nach einigen „methodischen Vorbemerkungen“ zu seiner Untersuchung, mit den „Dynamiken der Prekarisierung“ sowie schließlich möglichen „Politiken der Entprekarisierung“.
1. Grundlagen der Prekarisierungsforschung
Im ersten Teil der Arbeit diskutiert der Autor den Forschungsstand zum Thema „Prekarisierung“ und erarbeitet einen theoretischen Rahmen, innerhalb dessen die forschungsleitende Fragestellung nach den Übergängen zwischen prekären und nicht prekären Erwerbsverhältnissen und deren Einfluss auf die Sozialstruktur näher beleuchtet wird.
Pelizzari bietet im ersten Kapitel eine Übersicht über die quantitative Ausweitung des prekären Arbeitsmarktes, eine Darstellung der gängigen politischen Deutungsmuster und Diskurse sowie eine erste Klärung der Begrifflichkeiten und Theorien, mit denen in der Folge für die Beschreibung prekärer Erwerbsverhältnisse gearbeitet wird. Zur qualitativen Entwicklung in der Schweiz hält er fest, dass sich die Beschäftigten trotz angeblicher Entspannung des Arbeitsmarktes einer „[…] in den letzten 15 Jahren kontinuierlich gewachsenen Reservearmee von Stellenlosen und Unterbeschäftigten gegenübersehen, die nicht nur einen erheblichen Druck auf die Arbeitsbedingungen ausübt. Als persönliche Erfahrung reicht die vorübergehende Unterbrechung der Erwerbsbiografie auch in immer weitere Bevölkerungskreise hinein […] allen Erfolgsmeldungen von der Front des Arbeitsmarktes zum Trotz: der permanente Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt gehört nach wie vor zu den Hauptursachen für das Anwachsen der Armut hierzulande.“ (S. 22 f.).
Aber auch jene, die aus der Erwerbslosigkeit wieder in den Arbeitsmarkt zurückgefunden haben, müssten nicht selten damit rechnen, die sich in instabilen sozialen Lagen wiederzufinden (Stichworte: „Niedriglohnsektor“ und „working poor“). Insgesamt konstatiert der Autor insofern zwar keine „Krise des Normalarbeitsverhältnisses“, aber schon die Zunahme von Erwerbsformen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses. Merkmale, die eine Arbeit als „prekär“ bestimmen, sind für ihn dabei insbesondere der Grad der Arbeitsplatzsicherheit, der mangelnde Einfluss auf die Kontrolle der Arbeitssituation, fehlende Schutzbestimmungen, mangelnde Existenzsicherung und niedrige Einkommen.
Die sozialen Wirkungen prekärer Erwerbsarbeit können sich – so Pelizzari - jedoch erst erschließen, wenn neben den objektiv messbaren Kriterien auch die dynamischen und subjektiven Dimensionen der Prekarität in die Analyse einbezogen werden: „Eine Theorie prekärer Arbeit muss also fähig sein, die den Erwerbsformen und Zonen des Arbeitsmarktes jeweils eigenen Ausschlussgefahren und Aufstiegsoptionen, kurzum die Rahmenbedingungen der Arbeitsmarktmobilität der prekär Beschäftigten sowie deren individuellen Erwerbsverläufe, sozialen Herkunftsbedingungen und Bewältigungsstrategien ins Auge zu fassen.“ (S. 41). Dies mache zugleich die Elemente der von ihm entwickelten relationalen Prekarisierungstheorie aus.
2. „Unsicherheitsbewältigung prekär Beschäftigter“
Der im zweiten Teil behandelte „Arbeitsmarkt der Prekarisierung“ zeichnet sich durch ein Nebeneinander von Integrations- und Ausschlussdynamiken in den verschiedenen Zonen des Arbeitsmarktes aus. Auf Grundlage der „Theorie segmentierte Arbeitsmärkte“ (vgl. Werner Sengenberger (Hg.) (1978): Der gespaltene Arbeitsmarkt. Probleme der Arbeitsmarktsegmentation, Frankfurt/Main) analysiert Pelizzari den Arbeitsmarkt der Prekarisierung (in der Schweiz):
- Der umstrukturiert („Jedermanns-„)Teilarbeitsmarkt besteht aus Arbeitskräften mit allgemeinen Kenntnissen, jedoch ohne fachliche und betriebsspezifische Qualifikationen. Aufgrund fehlender vertikaler Mobilitätschancen und niedriger Kosten infolge eines Arbeitsplatzwechsels sind die Fluktuationsraten entsprechend hoch. Sozial- und migrationspolitische Zwangsmobilisierung weisen diesem Segment Arbeitskräfte zu, die über sehr reduzierte Verhandlungsmacht verfügen: z. B. (illegale) Migranten, vor allem aber auch weibliche Erwerbstätige. Prekäre Erwerbsformen (insbesondere im Dienstleistungssektor und Gaststättengewerbe) gelten für dieses Klientel nur im Ausnahmefall als Übergangsmöglichkeit in andere Erwerbssegmente. Wegen ihres schwachen kollektivvertraglichen Schutzes ordnet Pelizzari diese insgesamt als „prekäre Normalarbeitsverhältnisse“ ein.
- Qualitativ minderwertig sind ebenso die Beschäftigungsverhältnisse auf dem abhängigen externen „Puffermarkt“. Sie dienen vor allem der Abwälzung von Kosten und Risiken und kommen entsprechend am Rande hoch qualifizierter oder gewerkschaftlich stark durchdrungener Teilarbeitsmärkte vor (Baugewerbe, Maschinenindustrie). Entsprechend finden sich hier zahlreiche prekäre atypische Beschäftigungsverhältnisse (Befristung, Scheinselbstständigkeit). Die Mobilitätsbarrieren sind zwar niedriger als für diejenigen des Jedermann-Arbeitsmarktes, allerdings häufen sich gerade bei einer schlechten qualifikatorischen Ausgangsposition die Gefahren einer Verfestigung der Prekarität.
- Auf den betriebsinternen und fachlichen Teilarbeitsmärkten befinden sich Arbeitskräfte, die entweder betriebsintern qualifiziert sind, aber nur geringe überbetriebliche Qualifikationen aufweisen und daher nur wenig Transfermöglichkeiten zwischen Betrieben haben, oder aber solche, die über standardisierte, relativ breite Qualifikationen verfügen. In strategischen Branchen und Großunternehmen haben sie relativ große interne Aufstiegsmöglichkeiten und verfügen deshalb über eine entsprechende Verhandlungsmacht. Durch hohe interne Flexibilität drohen allerdings gesundheitliche und zeitliche Überlastungen. Dort, wo die Fachqualifikationen von Dequalifizierung bedroht sind (gewerbliche Fachkräfte), erfolgt der Eintritt in den Arbeitsmarkt verstärkt über destrukturierte Erwerbsverläufe (Praktika, befristete Anstellungen).
Im dritten Kapitel ergänzt der Autor seine Analyse durch die „Sozialstruktur der Prekarisierung“: „Eine relationale Prekarisierungstheorie kann sich nicht auf eine „objektivistische“ Analyse institutioneller Arbeitsmarktmechanismen beschränken, welche Prekarisierung als Prozess von „oben“ begreift, der auf die Betroffenen niedergeht, und damit die selbst Tätigkeit der Subjekte innerhalb gesellschaftlicher Strukturen sowie deren Fähigkeit, sich in die neuen Strukturen einzubauen und dabei sich selber zu fordern, ausblendet.“ (S. 119). Vielmehr gelte es, auch die Aufteilung der Gesellschaft in Gruppen mit unterschiedlichen Mobilitätschancen, individuellen und kollektiven Erwerbsverläufen, Orientierungen und Aufstiegsstrategien zu betrachten: „Anders ausgedrückt: die Beschäftigten, die sich Bergsteigern ähnlich auf dem zerklüfteten Arbeitsmarkt der Prekarisierung bewegen, verfügen über unterschiedliche Ausstattungen und Kompasse, die ihnen den Weg auf ihre Arbeitsplatzpositionen weisen.“ (ebd.).
Pelizzari untersucht deshalb in der Folge auf der Grundlage existenter sozialer Ungleichheiten die jeweils milieuspezifischen Unsicherheitsbewältigungsstrategien. Er weist nach, dass alle Milieus versuchen, ihre äußeren Lebenslagen mit aktiven individuellen wie auch sozial vernetzten Strategien zu bewältigen. Diese Strategien sind jedoch je nach Erwerbshabitus und kultureller Tradition verschieden mit der Folge, dass verschiedene Milieus die gleiche objektive Situation auch höchst verschieden be- bzw. verarbeiten. Insbesondere erhalten bei zunehmend individualisierten Lebensläufen objektive Ungleichheiten der Startbedingungen ein größeres Gewicht. Für Pelizzari kreuzen sich in den folgenden „drei Formen des Erwerbshabitus“ insofern die dargestellten Typologien der prekären Arbeitsmarktsegmente mit einer Typologie milieusspezifischer Bewältigungsmuster:
- Der „(re-)proletarisierte Erwerbshabitus“ zeichnet sich danach durch die Wahrung der eigenen finanziellen Autonomie und das „Festhalten an Würde und Ehre“ in der Erfüllung von oftmals unerfüllbaren bzw. unzumutbaren Arbeitsanforderungen aus. Aus der ökonomischen Notwendigkeit und mangels beruflicher Wahlmöglichkeiten hinsichtlich einer anderen Beschäftigung, sind diese Beschäftigten bereit, einfache und gering bezahlte Arbeit anzunehmen, was zu erheblichen Dequalifizierungstendenzen führt.
- Der „übergangsorientierte Erwerbshabitus“ zeichnet sich ebenfalls dadurch aus, dass Kontinuität des Erwerbsverlaufs und sozialer Statuserhalt angestrebt werden. Die Chancen, dies zu erreichen, sind aufgrund einer marktgängiger Ressourcenausstattung (insbesondere Ausbildung) vergleichsweise höher. Abstiegsprozesse oder ein Verharren in der Unsicherheit sind zwar nicht ausgeschlossen, aber insbesondere jüngere Menschen mit mittleren Qualifikationen können die neuen Marktanforderungen vergleichsweise einfacher mit ihren persönlichen Eigenschaften in Übereinstimmung bringen bzw. bedienen als die Vertreter des ersten Typus.
- Der „arbeitskraftunternehmerische Erwerbshabitus“ findet sich insbesondere in jenen modernisierten Angestelltenmilieus wieder, „[…] die durch ein ehrgeiziges Arbeitsethos und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Improvisation und Kompetenzmanagement, aber auch durch Werte wie Eigenverantwortlichkeit, Autonomiegewinn, Gleichberechtigung und dem Streben nach Sinn stiftenden Arbeitsinhalten geprägt sind.“ (S. 156). Prekäre Erwerbssituationen sind hier eher die Ausnahme. Wenn, dann werden sie bewusst im Sinne der Optimierung einer strategischen Karriereplanung oder zur besseren Vereinbarkeit mit anderen Anforderungen bzw. Interessen (Familie, Freizeit) freiwillig eingegangen. Die Ressourcenausstattung der Mitglieder dieser Gruppe besitzt einen tendenziell hohen Marktwert, so dass sie sich das beschriebene Verhalten auch ökonomisch leisten können.
Für Pelizzari hat die Prekarisierung nicht nur neue prekäre Erwerbssegmente hervorgebracht, sondern zugleich auch restrukturierend auf die gesamte Arbeitsgesellschaft zurückgewirkt. Neben der Tendenz zur „Destabilisierung der Stabilen“ in den privilegierten und strategischen Branchen, lässt sich danach insbesondere eine „Stabilisierung der Instabilität“ in den prekären und niedergehenden Branchen feststellen, in denen die Diskontinuität der Erwerbsverläufe weit gehend zur Normalität geworden ist: „Hier werden von den Beschäftigten neue Anpassungsstrategien verlangt, und hier sind neue Konkurrenzverhältnisse zwischen unqualifizierten, traditionellen Erwerbsgruppen und besser qualifizierten Arbeitsmarktneulingen (jüngere Arbeitnehmer, Frauen, „neue“ Migranten) im Entstehen begriffen. Dies sind deutliche Hinweise darauf, dass die Sozialstruktur der Nachkriegszeit an zentralen Scharnierstellen geräuschvoll zu knacken beginnt.“ (S. 120).
Im Zentrum des zweiten Teils der Ausführungen stehen die „Strategien der Unsicherheitsbewältigung prekär Beschäftigter“. Auf Grundlage des „verstehenden Ansatzes“ in der qualitativen Sozialforschung und einer Analyse von 38 Tiefeninterviews mit Erwerbspersonen aus unterschiedlichen Arbeitsmarktsegmenten und aus unterschiedlichen sozialen Milieus entwickelt Pelizzari die verschiedenen „Dynamiken der Prekarisierung“ (in Anlehnung an die oben dargestellten Typen des Erwerbshabitus sind dies neben der „notwendigen“, die „transitorische“ und die „avantgardistische“ Prekarität), um am Schluss seiner Ausführungen mögliche „Politiken der Entprekarisierung“ zu thematisieren.
Dabei versteht er eine „Politik der Entprekarisierung“ in erster Linie als ein „Abtrotzen persönlicher Sicherheit“. Er schlägt dazu eine „Drei-Säulen-Politik“ vor, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Beschäftigten Rechnung tragen soll, womit gleichzeitig deren Interessenkonvergenz gefördert werden könne: „Die erste Säule umfasst die - vornehmlich defensive - Sicherung der Normalarbeitsverhältnisse gegen die zahlreichen betrieblichen und politischen Strategien der Re-Kommodifizierung. Dabei geht es auch darum, mit einer offensiven tariflichen Mindestlohn- und Arbeitszeitpolitik dafür zu sorgen, dass „Normalarbeit“ wieder zu einem erstrebenswerten Leitbild für die übrigen Kategorien der Lohnarbeiter wird. […] Die zweite Säule entspricht einem gezielten - und damit offensiv erstrittenen - Ausbau der Rechte in jenen Arbeitsmarktsegmenten und für jene Erwerbsformen, die weder durch das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht noch von gesamtarbeitsvertraglichen Schutz abgesichert sind. […] Die dritte Säule schließlich umfasst konkrete organisatorische Maßnahmen, um die Prekären in die Organisationen der Arbeiterschaft einzubinden […] Mit einer solchen Politik der Entprekarisierung wüchse der Gewerkschaftsbewegung eine neue politisierende Gestaltungsrolle im sozialen Konflikt zu; umgekehrt mündet die Abschottung gegenüber neuen Beschäftigtengruppen zwangsläufig in eine weitere Schwächung der traditionellen Form der gewerkschaftlichen Interessenvertretung.“ (S. 333 f.).
Diese Schlussfolgerungen bzw. Forderungen sind aus der Sicht und dem Interesse eines leitenden Gewerkschaftsfunktionärs betrachtet nachvollziehbar. Es stellt sich allerdings erstens die Frage, ob die Gewerkschaften (zumindest in Deutschland) diesen Abwehrkampf – in Anbetracht ihres Mitgliederschwundes und damit ihrer abnehmenden Kampfkraft – (noch) leisten können. Zweitens aber vor allem, ob sie diese Strategie überhaupt verfolgen wollen: 1) haben sich die Gewerkschaften bei der Interessenvertretung etwa der (zeitweilig) Arbeitsuchenden - nicht wenige von ihnen waren zu Zeiten ihre Beschäftigung gewerkschaftlich organisiert oder sind es noch - in den letzten Jahren nicht hervorgetan. Gerade dieses Randklientel gewerkschaftlicher Interessenvertretung repräsentiert aber eine wachsende Gruppe unter den prekär Beschäftigten, weil sich Zeiten der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit - wie Pelizzari es ja auch ausführlich darstellt – zunehmend diskontinuierlich abwechseln; 2) haben sich die Gewerkschaften (in Deutschland) in den letzten Jahren – selbstverständlich immer nur unter der Maxime einer „Rettung von Arbeitsplätzen“ - sukzessive auf Tarifbedingungen eingelassen, die die beklagten Zustände bei Arbeit und Entlohnung (Stichworte: Niedriglohnsektor, Leiharbeit etc. pp.) jedenfalls ein Stück weit mir etabliert haben. Der letztlich eine Notsituation beschreibende Wille, „irgendeine Arbeit“ - und sei es eine „prekäre“ - anzunehmen bzw. annehmen zu müssen, erscheint jedenfalls nur dann als erstrebenswerter Zustand, wenn die Alternative darin besteht, überhaupt keine Arbeit mehr zu haben.
Die Mangelhaftigkeit der Forderung nach der angestrebten Rekonstruktion des Normalarbeitsverhältnisses und damit gleichzeitig dessen partielle Idealisierung bzw. Verklärung („Leitbildfunktion“) muss auch Pelizzari vor Augen gehabt haben, wenn er ganz am Schluss seiner Arbeit eine über die Immanenz des Lohnarbeitsverhältnisses hinaus gehende Überlegung anstellt: „Geht man hingegen, wie in dieser Untersuchung dargelegt, den Ursachen der Prekarisierung genauer auf den Grund, kommt man an einer seinerzeit wie heute allseits unbeliebten Aufforderung Bertolt Brechts vom 23. Juni 1935 auf dem Pariser Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur nicht vorbei: „Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen.“ (S. 336). Es bleibt aber letztlich unklar, ob damit das gemeint ist, was dem anfangs zitierten Marx zur Forderung der (Re-)Etablierung eines „Normalarbeitsverhältnisses“ einfiel: „Statt des konservativen Mottos: „Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!“, sollte sie (die Arbeiterklasse, MB) auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: „Nieder mit dem Lohnsystem!“ (K. Marx: Lohn, Preis, Profit, S. 152).
Fazit
Alessandro Pelizarri legt eine hoch instruktive Studie zu Formen und Bewältigungsstrategien prekäre Beschäftigungsverhältnisse vor. Das Neue und damit die besondere Qualität der Arbeit liegt in ihrer gelungenen Verbindung von „objektiven“, d. h. strukturellen Arbeitsmarktfaktoren mit den „subjektiven“, d. h. persönlichen Umgangsweisen aufseiten der betroffenen Arbeitnehmer. Insofern eignet sich das Buch nicht nur als qualifizierter Einstieg in das Themenfeld „Arbeit und Prekarität“. Es leistet zugleich auch einen Beitrag zur Analyse der aktuellen Arbeitsmarktentwicklung insbesondere in der Schweiz, aber auch darüber hinaus.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
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