Jan Schmidt: Das neue Netz
Rezensiert von Dipl.-Soz.Päd. Thomas Molck, 10.03.2010

Jan Schmidt: Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0.
UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2009.
214 Seiten.
ISBN 978-3-86764-146-3.
Reihe: Einzeltitel Kommunikationswissenschaft.
Thema
Jan Schmidt beschätigt sich mit neuen Aspekten des World Wide Webs, die an anderer Stelle auch unter den Bezeichnungen Web 2.0, Mitmachweb, Social Web, etc. bezeichnet werden und gibt sowohl einen Überblick zum Inhalt, zur Definition und Geschichte als auch eine Analyse der Praktiken der Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagements, die er im Kern des neuen Netzes verortet sowie darauf aufbauend der Entstehung neuer persönlicher und weitergehender Öffentlichkeiten und Umgangsweisen mit Information und Wissen.
Autor
Jan Schmidt ist wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung (Hamburg) und hat sich bereits in diversen Projekten und Publikationen mit neuen Entwicklungen im Internet beschäftigt. In seinem Buch zu Weblogs hat er sich bereits ausführlich mit einem Teil des neuen Netzes beschäftigt, das er in dieser Publikation im Ganzen untersucht.
Webseite
Besonders interessant ist, dass Schmidt die Entstehung seines Buches mit einer eigenen Webseite begleitet hat (www.dasneuenetz.de). So konnten Interessierte bereits im Vorfeld den Entstehungsprozess in einem speziellen Weblog zu diesem Projekt verfolgen und kommentieren, womit im Projekt das neue Netz nicht nur beschrieben sondern auch genutzt wurde. Seit der Veröffentlichung gibt es auf der Seite auch eine Bibliographie mit den verlinkten Online-Quellen aus dem Literaturverzeichnis des Buches, was eine sehr große Hilfe für die weitergehende Recherche darstellt!
Inhalt
Nach einer kurzen Einleitung wird das „neue Netz“ im zweiten Kapitel aus verschiedenen Sichtweisen beschrieben. Zunächst wird der von Tim‘O‘Reilly geprägte Begriff des Web 2.0 mit den aus O‘Reillys Sicht prägenden Merkmalen einer neuen Form der Softwareentwicklung im Web, neuen Geschäftsmodellen – z.B. mit von den NutzerInnen erstellten Inhalten – und neuen Leitprinzipien der Wissensvernetzung, die – wie Schmidt gut herausstellt – so neu gar nicht sind sondern schon vor mehr als 60 Jahren diskutiert wurden und auch bereits der Grundidee des World Wide Webs von Tim Berners Lee zugrunde liegen. Dabei hält Schmidt den Begriff „Social Web“ für geeigneter, da er den sozialen Aspekt des neuen Netzes mehr in den Focus rückt. Die Anwendungen des neuen Netzes werden dann strukturiert in Plattformen (wie z.B. Facebook zur Kommunikation und Vernetzung), Personal Publishing (wie z.B. Weblogs), Wikis, Instant Messaging und Werkzeuge zum Informationsmanagement (wie z.B. Feedreader oder Linksammlungen mit Verschlagwortung). Abgerundet wird das Kapitel durch einen sehr guten Überblick über die wichtigsten Studien zur Netznutzung, deren Untersuchungsfeld, Methodik und grundlegende Ergebnisse vorgestellt werden.
Im dritten Kapitel zu den Nutzungspraktiken werden zunächst theoretische Grundlagen zur sozialen Praxis der Kommunikation und ihre Konkretisierung im Bezug auf computervermittelte Kommunikation dargestellt. Ausgehend von Ansätzen wie „Uses and Gratifications“ und Cultural Studies wird die Entwicklung zu Ansätzen herausgearbeitet, die immer mehr die eigene Aktivität in der Medienaneignung in den Mittelpunkt stellen. Zentraler Aspekt des Kapitels ist dann, auf dieser Grundlage die strukturellen Dimensionen der Nutzungspraktiken im neuen Netz herauszuarbeiten:
- Spezifische formelle Regeln (Gesetze, AGB‘s, Terms of Service, etc.) und informelle Regeln (Nettiquette, ethablierte Nutzungspraktiken, etc.).
- Verbindungen zwischen Objekten (Querverweise auf Inhalte, andere Nutzer, etc.) die sich technologisch als Links und Datenbankverknüpfungen zeigen, aber letztendlich immer von Menschen initiiert werden und so eine „vernetzte Öffentlichkeit“ herstellen, wobei die Verknüpfungen auch ein Indikator für sozialen Beziehungen sein können.
- Technikgenese als Strukturierung von Software-Code, der die Nutzungspraktiken rahmt (Art der Programmierung, der Nutzeroberfläche, der Kommunikationsformen, etc.), wobei der Code hier oft nicht determinierend wirkt sondern auch eine ganz andere Nutzungspraktik ermöglicht.
Im vierten Kapitel werden dann ausgehend von einer theoretischen Einordnung des individuellen Umgangs mit Identität, Beziehungen und Informationen als Management, die Formen dieses Managements im neuen Netz untersucht. Wie kann Identität im Netz ausgedrückt werden? Geht es dabei um ein Abbild der Realität oder Inszenierung? Welche Bedeutung haben Beziehungen im Netz für die Identität, für berufsbezogene und private Netzwerke? Wie funktioniert Öffentlichkeit für Informationen im Netz. Wie gehen NutzerInnen mit Informationen im Netz um? In den drei Abschnitten des Kapitels werden diese Fragen jeweils im Kontext ihrer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Einordnung, der Nutzungsweisen und der Rahmung durch den Software Code im Netz erörtert. Insgesamt argumentiert Schmidt dabei, „dass das Social Web die technischen Hürden für Praktiken des Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement senkt“ (S. 105) wenngleich es Unterschiede in Nutzungsweisen und Konsequenzen gibt.
Dabei entstehen persönliche Öffentlichkeiten, um die es im fünften Kapitel geht. Im neuen Netz sind diese – anders als in der Face-to-Face-Kommunikation – persistent, duplizierbar, skalierbar und durchsuchbar. Diese Eigenschaften schaffen neue Möglichkeiten der Kommunikation mit Bekannten und FreundInnen, verändern aber auch die Abgrenzung der eigenen Privatsphäre. Nicht immer in gewünschter Weise, wenn z.B. auch Eltern und Lehrer Einträge lesen, die eher für MitschülerInnen bestimmt waren oder Personalchefs die Profile von BewerberInnen durchstöbern. Für die Regulierung der Privatspäre nennt Schmidt drei Ebenen:
- Ein gezieltes Identitätsmanagement für verschiedene Publika (also z.B. eine andere Darstellung in StudiVZ als in XING),
- die Nutzung von Einschränkungen der Informationen auf bestimmte Gruppen (z.B. sichtbar machen nur für Kontakte/Freunde, was in Netzwerkplattformen häufig genutzt wird) und
- die Etablierung von die Privatsphäre schützenden Konventionen. Dazu gehört für Schmidt, nicht wie im aktuellen Gefährdungsdiskurs, den „digitalen Exhibitionismus“ anzuprangern sondern eher die „digitalen Voyeure“ (S. 127).
Aber das neue Netz verändert nicht nur persönliche Öffentlichkeiten sondern hat auch Konsequenzen für den Journalismus und politische Kommunikation, was im sechsten Kapitel erörtert wird. Journalistische Nachrichten werden z.B. in Diensten wie Google News oder Digg in besonderer Weise aggregiert wobei eine Auswahl mittels bestimmter technologischer Algorithmen und/oder Bewertungen von NutzerInnen getroffen wird. Auch die Ebene der Publikation verändert sich z.B. durch Weblogs, wobei es enge Bezüge zum traditionellen Journalismus gibt, auf den Einträge in Weblogs sich oft beziehen und der selbst Angebote des neuen Netzes wie Weblogs, Social Web oder Wikipedia auch als Quelle nutzt. Auch in der politischen Kommunikation wird das neue Netz zunehmend von den politischen Akteuren genutzt, wird aber hier nur von einer kleinen Gruppe der InternetnutzerInnen angenommen und stößt auch auf Hindernisse im politischen System. Umgekehrt bietet sich z.B. den NutzerInnen von Netzwerkplattformen die Möglichkeit der politischen Positionierung z.B. in Gruppen der Plattform.
Neben den Öffentlichkeiten verändert das neue Web auch Mechanismen der Wissensgenerierung und des Informationsmanagements, was im siebten Kapitel am Beispiel des Taggings und der Wikipedia thematisiert wird. Tagging ist ein Verfahren der Verschlagwortung von Texten, Medien, Links u.a. durch die NutzerInnen womit eigene Ordnungssysteme (Folksonomies) entstehen. In der Wikipedia manifestiert sich eine stärker von Kooperation geprägte Wissensgenerierung durch die NutzerInnen in einem sowohl durch die Technologie der Plattform als auch durch Regeln und Strukturen der Community festgelegten Rahmen. Hier erörtert Schmidt neben den Faktoren für den Erfolg der Wikipedia auch die Motivation der Beteiligten aus motivationspsychologischer, netzwerkanalytischer und diskurstheoretischer Sicht.
Abschließend argumentiert Schmidt in einer Kritik des neuen Netzes im achten Kapitel, dass Abwertungen der neuen Möglichkeiten als „Die Stunde der Stümper“ wie von Andrew Keen (München 2008) eher vom „hochkultureller Arroganz“ (S. 179) und einem Unverständnis der Kommunikationsmodi des neuen Netzes zeugen. Prägend sei vielmehr, dass sich im neuen Netz zunehmend auch Laien neuen Praktiken des Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagements bedienen können, die "die bislang vor allem von Personen mit professioneller Ausbildung ausgeübt wurden". (S. 178). Wenngleich er auch auf bestehende Unterschiede im Zugang und auf Aufmerksamkeitshierarchien in den entstehenden neuen Öffentlichkeiten hinweist. Schließlich fordert Schmidt eine Debatte über die Geschäftsmodelle der überwiegend kommerziellen Anbieter im Bezug auf die Frage „Wer kontrolliert die ‚Produktionsmittel‘ und öffentlichen Räume des neuen Netzes?“ (S. 181), weist aber darauf hin, dass es durchaus Möglichkeiten der Beteiligung an der Ausgestaltung durch die NutzerInnen gibt, die allerdings auch wahrgenommen werden müssen.
Diskussion und Fazit
Diese Publikation beschäftigt sich wie kaum eine andere mit dem gesamten Komplex des „neuen Netzes“. Die einleitende geschichtliche Einordnung und Beschreibung ist sehr gut geeignet, sich zunächst ein Bild davon zu machen, was mit Bezeichnungen wie „Web 2.0“, „Social Web“ oder eben auch „Das neue Netz“ überhaupt gemeint ist. Sie ist aufgrund des sehr verständlichen und trotzdem nicht verkürzenden Stils besonders gut zum Einstieg zu empfehlen.
In den folgenden Kapiteln entwickelt Schmidt eine sehr gut nachvollziehbare sozialwissenschaftliche Analyse des neuen Netzes und legt damit auch eine gute Grundlage zur weitergehenden Beschäftigung mit dem gesamten Komplex oder auch bestimmten Teilbereichen. Diese überzeugt vor allem in der Strukturierung der neuen Praktiken in das Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement. Für die in den folgenden Kapiteln erörterten Ansätze wäre eine Einordnung in diese Grundstruktur vielleicht stringenter gewesen, als die Betrachtung von persönlichen und weitergehenden Öffentlichkeiten und den Umgang mit Informationen und Wissen mehr oder weniger aneinanderzureihen.
In jedem Fall muss aber die umfangreiche Erörterung der bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen und Beiträge zu den jeweiligen Aspekten hervorgehoben werden, die sich auch im umfassenden Literaturverzeichnis und in der online Verfügbaren Bibliographie der Online-Quellen niederschlägt.
Rezension von
Dipl.-Soz.Päd. Thomas Molck
Dozent für Neue Medien und Datenschutzbeauftragter der HS Düsseldorf
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