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Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land

Rezensiert von Prof. Dr. Barbara Ketelhut, 15.10.2009

Cover Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land ISBN 978-3-593-38867-0

Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Campus Verlag (Frankfurt) 2009. 376 Seiten. ISBN 978-3-593-38867-0. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 42,90 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-593-50642-5 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Davon ausgehend, dass sich materielle Armut in der Bundesrepublik Deutschland bis in die „gesellschaftliche Mitte“ ausbreitet, fragt Christoph Butterwegge danach, „wie unsere reiche Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die sie selbst für nicht dazu gehörig erklärt, marginalisiert oder sozial ausgrenzt.“ (S. 9)

Autor

Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und Autor zahlreicher Veröffentlichungen u. a. zu den Themen: Armut, Neoliberalismus, Rechtsextremismus, Migration und Gewalt.

Aufbau

Der Autor versteht seinen Ansatz als „Beitrag zu einer Sozial- und Diskursgeschichte der Armut“ (S. 10), den er in drei große Kapitel gliedert.

1. Armut in der Bundesrepublik – Begriffsdefinition und Bestandsaufnahme

Im ersten Kapitel liefert Christoph Butterwegge einen ausführlichen Bericht über den Stand der Armutsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, angefangen bei kontroversen Diskussionen um die Definition von Armut, über empirische und theoretische Ansätze, regierungspolitische Entwicklungen bis hin zu Fragen nach Zusammenhängen zwischen Entwicklung von Armut und Globalisierung im Kontext neoliberalen Wirtschaftens.

2. (Zerr-)Bilder der Armut: Wie man das Problem leugnet, verharmlost und verdrängt

Hier geht es um die Art der Wahrnehmung von Armut durch Wissenschaft, Politik und vor allem die Massenmedien seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Nachvollziehbar und eindrücklich stellt Christoph Butterwegge dar, wie Armut zunächst im Kontext des so genannten Wirtschaftswunders aber auch später noch sowohl von den Sozialwissenschaften als auch seitens der Politik entweder nicht zur Kenntnis genommen oder durch Vergleiche mit Armutsproblemen in den Ländern der so genannten Dritten Welt relativiert wurde. Ins öffentliche Bewusstsein rückte Armut erst wieder Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre im Kontext von Sozialarbeit und spektakulär mit dem Buch von Jürgen Roth: Armut in der Bundesrepublik Deutschland von 1971(vgl. S. 123). Christoph Butterwegge geht auf Armutsdiskurse und –entwicklungen in der Folge des Zusammenschlusses von BRD und DDR, auf die Einführung des als „Hartz IV“ bekannten Gesetzespakets ein, um nur einige wichtige Etappen seiner Darstellung zu nennen. Er kommt zu dem Fazit, dass sich in den letzten 20 Jahren zwar die Akzeptanz von Armut erhöht, aber die Akzeptanz der davon Betroffenen sich verringert habe (vgl. S. 247 f.). Er befürchtet (in Anlehnung an die Studien von Loϊc Wacquant), dass sich der Umgang mit „sozial Benachteiligten“ in den nächsten Jahren noch verschärfen wird.

3. Wege und Irrwege der Armutsbekämpfung

Christoph Butterwegge setzt sich mit drei weit verbreiteten Vorschlägen Armut zu reduzieren bzw. zu bekämpfen auseinander: das Konzept des „aktivierenden Sozialstaats“, die Fokussierung auf Bildung und verschiedene Modelle eines (bedingungslosen) Grundeinkommens. Alle drei Strategien werden in ihren Möglichkeiten und Schwächen dargelegt und überwiegend als unbrauchbar abgelehnt, da sie alle in letzter Konsequenz zu kurz greifen und zur Reproduktion von Armut beitrügen.

Immer wieder kritisiert der Autor die unterschiedlichsten Strategien, Armut zu individualisieren, statt sie als ein gesellschaftliches, historisch strukturell gewachsenes Problem zu begreifen. Dem entsprechend setzt er sich für eine umfassende Analyse der Ursachen von Armut und ihrer Entstehung ein. „ Notwendig wäre eine in sich konsistente, aber auch konstruktiv miteinander verzahnte Arbeits- und Beschäftigungs-, Gesundheits-, Wohnungs(bau)- und Stadtentwicklungs-, Familien- und Sozialpolitik.“ (S. 281)

Fazit und Anlass seiner Analyse werden im Folgenden deutlich: „Armut in einem reichen Land ist ein verteilungspolitisches Paradox und ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem, das nach einer Grundsatzdiskussion in allen Lebensbereichen und nach Konsequenzen im Handeln der Entscheidungsträger/innen verlangt. Wenn stattdessen intensiv über Leistungsmissbrauch im Wohlfahrtsstaat und eine Unterschicht diskutiert wird, die ihre soziale Misere selbst verschuldet hat, indem sie jegliche Bildungs- und Arbeitsbereitschaft vermissen lässt, nehmen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat das Phänomen nicht ernst und ihre Verantwortung für die (potenziell) davon Betroffenen nicht wahr. Vorurteile wie das des >faulen Arbeitslosen< oder das seines gemütlichen Ausruhens in der >sozialen Hängematte< verdecken das Scheitern aller Bemühungen, unterprivilegierte Mitglieder der Gesellschaft zu integrieren.“ (S. 306)

Diskussion

Das vorliegende Buch bietet unter Rückgriff auf eine immense Fülle von Materialien (historischen Entwicklungen, politischen Diskursen, Studien, Fachdiskussionen, Medienberichten u. a.) einen nahezu vollständigen Überblick über die Armutsdiskurse in der Bundesrepublik Deutschland, die zudem immer wieder in einem großen gesellschaftlichen Zusammenhang analysiert werden. Deutlich wird der Umgang mit einem solchen großen gesellschaftlichen Problem, wie dem der sich weiter ausbreitenden Armut und wie diese, trotz anders lautender Absichten, immer weiter reproduziert werden kann. Auf einer Metaebene zeigt sich hier sehr anschaulich, wie wichtig es insbesondere im neoliberalen Kapitalismus ist, jeden Diskurs zu hinterfragen und daraufhin zu überprüfen, inwiefern er zur Lösung des Problems, das er zu lösen vorgibt, beiträgt. Als Gesamtwerk stellt das Buch mit seinen weitreichenden kritischen Diskurs-Analysen einen der wichtigsten Beiträge zur Armutsforschung überhaupt dar.

Dennoch bleibt zu erwähnen, dass leider darin feministische Ansätze zu Armut und Armutsrisiken von Frauen zwar erwähnt werden, aber in der Analyse zu kurz kommen. Die Folgen zeigen sich, wenn Christoph Butterwegge den herrschenden Diskursen, die ansonsten von ihm kritisch reflektiert werden, folgt und z.B. mehr öffentliche Kinderbetreuung und Teilzeitstellen für Frauen fordert (vgl. S. 286). Aber gerade die Teilzeiterwerbstätigkeit in Kombination mit der geschlechtsspezifischen Segmentierung des Erwerbsarbeitsmarktes und der immer noch durchschnittlich geringeren Entlohnung von Frauen müssen je für sich und in Kombination zu den Gründen gezählt werden, die zu einem überproportional hohen Armutsrisiko von Frauen beitragen (für einen kurzen Überblick, vgl. z.B. Ruth Becker und Beate Kortendieck (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden 2004 oder das Stichwort: Armut. In: Florence Hervé und Renate Wurms (Hg.): Das Weiberlexikon. Köln 2006).

Fazit

Auch wenn es Christoph Butterwegge manchmal den LeserInnen nicht leicht macht, wenn er immer wieder die Ebenen seiner Argumentation wechselt: mal eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung fordert, mal kleine Reformen des bestehenden Sozialsystems nahe legt, lohnt sich die Lektüre für all diejenigen, die sich für eines der größten, wenn nicht das größte, gesellschaftliche Problem und seine Entwicklungen in der BRD interessieren. Das nach Schwerpunktthemen geordnete Verzeichnis der Literaturauswahl bietet insbesondere für Studierende einen guten Zugang zur vertiefenden Lektüre.

Rezension von
Prof. Dr. Barbara Ketelhut
(im Ruhestand) Hochschule Hannover, University of Applied Sciences and Arts Homepage www.hs-hannover.de E-Mail: barbaraketelhut@aol.com
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Es gibt 18 Rezensionen von Barbara Ketelhut.

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ISSN 2190-9245