Peter Langman: Amok im Kopf
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.11.2009

Peter Langman: Amok im Kopf. Warum Schüler töten.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2009.
300 Seiten.
ISBN 978-3-407-85887-0.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 38,60 sFr.
Originaltitel: Why Kids Kill.
Problemaufriss und Vergleich
Amokläufe, wie das Problem im Deutschen bezeichnet wird, sind Situationen, bei denen Menschen, meist Einzelpersonen, aus verschiedenen Gründen andere Menschen mit Waffen, Sprengmitteln, gefährlichen Gegenständen oder mit anderen, außergewöhnlichen Gewaltanwendungen angreifen, verletzten oder töten, und danach Selbstmord begehen oder die Selbsttötung zu versuchen. Amokläufe hat es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben. Wenn junge Menschen, z. B. in einer Schule, ein Massaker anrichten, ist die öffentliche Aufmerksamkeit besonders groß; wiewohl auch Amokläufe in Schulen keine Ereignisse sind, die in den gesellschaftlichen Problemlagen als neu zu bezeichnet sind. Jedoch die Häufung von Schulmassakern, insbesondere in den USA, aber in den letzten Jahren auch in Deutschland – Emstetten, Erfurt, Winnenden, Ansbach … – hat dazu geführt, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für das Problem deutlicher geworden und die gesellschaftlichen Überlegungen, worin die Gründe von solchen Gewalttaten liegen könnten und wie sie verhindert werden können und ihnen zu begegnen ist, gewachsen sind.
Definition
In Deutschland hat insbesondere der Jurist, Kriminologe, Sicherheitsberater und Autor Robert Harnischmacher zu dem Phänomen Stellung bezogen, indem er z. B. den Amoklauf folgenden Merkmalen zuschreibt:
- Es handelt sich grundsätzlich um agierende Einzeltäter, meist männlichen Geschlechts;
- er agiert anscheinend wahllos und gezielt;
- und zwar mit Waffengewalt;
- bei der er eine zunächst nicht bestimmbare Zahl von Menschen verletzt oder tötet, oder zumindest durch sein Gewaltverhalten erwarten lässt;
- damit auch seine eigene Tötung vorbereitet und vollzieht.
Entstehungshintergrund
Auf diese Begriffsbestimmung weist der Berliner Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann im Vorwort zu einem Buch des US-amerikanischen Psychologen, Psychiaters und Psychotherapeuten Peter Langman hin und betont, dass die dort analysierten Fälle von Schulmassakern in den USA durchaus auch auf die Situationen in Deutschland übertragen werden können. Er benutzt dafür den im Deutschen gebräuchlichen Begriff „Amoklauf“ und definiert ihn nach der Charakterisierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), als „eine anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich zerstörerischen Verhaltens, die eine extreme Gefährdungslage für die Menschen in der Umwelt und für den Täter mit sich bringt“.
Peter Langman titelt sein Buch in der englischsprachigen Originalausgabe: „Why Kids Kill“. Als ärztlicher Direktor der 1882 gegründeten privaten Organisation „KidsPeace“, die mittlerweile in Florida, Georgia, Indiana, Maine, Maryland, Minnesota, New Jersey, New York, North Carolina, Pennsylvania, Virginia und Columbia tätig ist, beschäftigt sich Langman seit mehr als einem Jahrzehnt mit den Ursachen und Folgen des so genannten Schulmassakers von Littleton, bei dem am 20. April 1999 zwei Schüler der High School, Eric Harris (18) und Dylan Klebold (17) in Columbine, in der Nähe von Denver, zwölf Schüler im Alter von 14 bis 18 Jahren und einen Lehrer ermordeten und 24 weitere Menschen verletzten und sich anschließend selbst töteten. Diese Tat und die zahlreichen weiteren Schulmassaker in den USA waren und sind für Peter Langman Frage- und Forschungsansatz für seine Arbeit bei KidsPeace, to „provides a unique children‘s psychiatric hospital; a comprehensive range of specialized, intensive and therapeutic residential treatment programs; accredited educational services; and a variety of foster care and community-based treatment programs to give hope, help and healing to kids facing crisis“.
Typologisierung
Schul-Amokläufer („school shooters“) werden schnell von den Medien und der öffentlichen Meinung charakterisiert als Versager, Unangepasste, von Gewaltspielen und –filmen beeinflusste, meist depressive und isolierte junge Menschen ohne Selbstbewusstsein und Halt. Gegen solche kurzschlüssige Kennzeichnung wendet sich Peter Langman. Es gibt keine eindeutigen Kriterien der Zuweisung von Ursachen für Amokläufer in Schulen; es sind immer vielfältige, persönliche und gesellschaftliche Gründe, die zu einem Schulmassaker führen können. Deshalb analysiert der Autor zehn jugendliche Amokläufer. Sie waren zwischen 11 und 23 Jahren alt; bis auf drei, die indianischer und koreanischer Abstammung waren, stammten die übrigen Amokläufer aus soliden und intakten weißen Mittelschichtfamilien; vier von ihnen töteten sich nach dem Amoklauf selbst, die anderen befinden sich in Haft bzw. haben ihre Haftstrafen bereits abgesessen. Langman hat nun die Lebensgeschichten der Amokläufer analysiert und die Ermittlungsunterlagen und Familienbiographien studiert. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die betrachteten Amokläufer eine Reihe von Eigenschaften gemeinsam haben, die er gliedert in die Gruppe der psychopathischen, der psychotischen und der traumatisierten Täter. Mit der Formel „Ich bin das Gesetz“ und den Persönlichkeitsmerkmalen des Egoismus und Egozentrismus, der fehlenden Aggressionskontrolle und des Narzissmus, können Menschen paranoide, sadistische und antisoziale Störungen entwickeln und zu Amokläufern werden; wie etwa bei Eric Harris. Zur psychotischen Gruppe zählt er schizotype Jugendliche, die keinen realen Bezug zur eigenen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit haben. „Eine schizotype Persönlichkeit kann man sich als einen Menschen vorstellen, bei dem sich extreme soziale Ängste mit Denkproblemen verbinden“; wie bei Dylan Klebold, dessen Persönlichkeitsstörungen von den Wissenschaftlern als pseudopsychopathisch („willenloser Psychopath“) bezeichnet werden, während sich in dieser Gruppe auch schizophrene Jugendliche befinden, die nicht in der Lage sind, Emotionen zu empfinden und zu äußern. Mit der Lebenseinstellung „Nichts ist wirklich“ sind die jungen Menschen nicht in der Lage, Realitäten zu erkennen und zu akzeptieren. Die traumatisierten Jugendlichen, die zur dritten Gruppe der Amokläufer, sind Kinder und Jugendlichen, bei denen bereits in der Familie soziale Defizite, wie etwa Alkoholismus, Drogen, Gewalt oder Missbrauch, vorherrschen. Vor allem diese sind es, die sich in Abhängigkeit zu anderen, „Freunden“, begeben, falschen Einflüsterungen und Einflüssen aussetzen und ihr eigenes Selbstbewusstsein dadurch zu steigern versuchen, etwas Ungewöhnliches, Sensationelles, Unerwartetes zu tun, das sich die anderen nicht zu tun wagen.
Ähnlichkeiten und Unterschiede
„Dylan Klebold fuhr seinen eigenen BMW und lebte in einem spektakulären Haus mit Swimmingpool, Tennis- und Basketballplatz; Evan Ramsey lebte in einer ungeheizten Wohnung in Alaska. Michael Carneal war der Sohn angesehener, gesetzestreuer, liebevoller Eltern; Jeffrey Weise war der Sohn eines Vaters, der sich während einer Schießerei mit der Polizei das Leben nahm, und einer alkoholabhängigen Mutter, die ihn misshandelte…“. Wie bereits erwähnt, haben die Kinder und Jugendlichen ganz unterschiedlicher Herkunft und sozialer Bedingungen ähnliche Gewalttaten des Amoklaufs in Schulen begangen. Die Kategorisierung in drei Tätertypen, die Peter Langman vornimmt, können dabei Anhaltspunkte bei der Ursachensuche und von Überlegungen zur Prävention sein. Dabei stellt der Autor fest, dass es zwischen den Tätern keine typologischen Überschneidungen gibt. Sie können jedoch als diagnostische Kriterien dienen, um dem Phänomen habhaft zu werden, dass es trotz der Unterschiede und vielfältigen Kategorien Gemeinsamkeiten gibt, die vielleicht den Therapeuten wie auch den in der Familie und in den Bildungs- und Erziehungsinstitutionen tätigen Erzieherinnen und Erziehern Anhaltspunkte in die Hand geben, nach dem „Warum?“ zu fragen. Der Autor identifiziert dabei, dass alle Täter erhebliche Mängel an Empathie aufweisen und dies im wesentlichen in drei Verhaltensweisen zeigen: Wut, Ausgrenzung, Außenseitertum und Höherwertigkeitsvorstellungen, sowie „verzweifelte Unsicherheit“, also mangelndes oder gar fehlendes Selbstbewusstsein. Diese Verhaltensweisen unterteilt Langman wieder in Formen der „existentiellen Wut“, die den Verstand ausschalten; Selbstmordgedanken und existentielle Angst, verbunden mit Perspektivlosigkeit, die als „Ausweg“ Aufmerksamkeit und Ruhm versprechen; „extreme Reaktivität“, die sich etwa in Überreaktionen auf normale Peererfahrungen darstellt; Scham, Neid und scheiternde Männlichkeit, ein Identitätsproblem, das der Aufmerksamkeit auch deshalb bedarf, dass, bis auf ganz wenige Ausnahmen, Amokläufer männlichen Geschlechts sind; und das Leben in Fantasiewelten, einer Flucht aus den Lebenswirklichkeiten, etwa durch Bücher, Filme, Videospiele oder Rollenspiele verwirklicht.
Gibt es Antworten?
Klar dürfte bisher geworden sein, dass es keine „Rezepte“ gibt, deren Anwendung Amokläufe in Schulen verhinderten. Doch in den Analysen lassen sich bestimmte Entwicklungen und Verhaltensweisen finden, die gesellschaftliche und pädagogische Antworten ermöglichen: „Die psychopathischen Täter stammen aus Familien, in denen der legale Umgang mit Schusswaffen alltäglich war. Dennoch waren die Täter von Waffen besessen. Es waren Jungen mit antisozialen, narzisstischen und sadistischen Persönlichkeitsmerkmalen. Sie lehnten Moral ab, fühlten sich über andere erhaben und genossen es, Schmerz zuzufügen oder gar zu töten. Sie spielten die Rolle des Anführers und rekrutierten Gefolgsleute, die an ihren Anschlägen teilnehmen sollten“. Bei aller Vorsicht und Problematik der Aussage, geht Peter Langman davon aus, dass „die psychotischen Täter ( ) die mentalen Erkrankungen geerbt (hatten), die in ihren Familien aufgetreten waren“; die traumatisierten Täter wären gewissermaßen für ihre Gewalt genetisch prädestiniert gewesen. Ganz sicher dürfte sein, dass es einer neuen, gesellschaftlichen Aufmerksamkeit bedarf, potentielle Schul-Amokläufer rechtzeitig wahr zu nehmen und psychologisch oder psychiatrisch zu behandeln. Das heißt freilich nicht, in jedem abweichenden Verhalten von Kindern und Jugendlichen gleich eine Amokgefahr zu wittern; und schon gar nicht, in Hysterie und Überwachungsstrategien zu verfallen. Dass es pädagogische und therapeutische Möglichkeiten gibt, den Erziehungsprozess „normal“ verlaufen zu lassen, macht Peter Langman in einer Reihe von Methoden und Beobachtungskriterien deutlich.
Wie man Schulmassaker verhindern kann
Diese schwierige und sicherlich nicht absolut zu formulierende Erwartung diskutiert der Autor in zehn Lektionen, mit denen er im wesentlichen an Eltern und andere Erziehungsberechtigte in Schule und Freizeiteinrichtungen wendet: Die Grenze der Privatsphäre im Erziehungs- und Aufklärungsprozess beachten; niemals zum Schutz des eigenen Kindes lügen; keine Sonderregelungen akzeptieren; eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus herstellen; den Zugang zu Waffen verhindern; Drohungen ernst nehmen, das Bewusstsein stärken, dass jeder einen Schul-Amoklauf verhindern kann; Vorbereitungen für einen Anschlag erkennen können; Strafe als Präventionsmaßnahme ausschließen, und die Risikoeinschätzung zwischen wirksamen und überzogenen Sicherheitsmaßnahmen professionalisieren. Das aber sind eigentlich selbstverständliche, pädagogische und erzieherische Grundsätze, die in jeder gesellschaftlichen Einrichtung, von der Familie bis zur Schule, Beruf und Freizeit, gelten sollten. Es ist vor allem die Empathie, die Fähigkeit also, den anderen in seinem Anderssein zu erkennen, zu akzeptieren und mit ihm, mit Verstand und Herz zu fühlen.
Fazit
„Amok im Kopf“ ist kein Rezeptbuch; weil menschliche Verhaltensweisen, normale und abnorme, niemals auf irgendwelche Flaschen gezogen oder in eherne Formen gegossen werden können. Dort, wo abweichendes Verhalten und als Extremform der Schul-Amoklauf sich vorbereiten oder auftreten, kann nur helfen, das faire, demokratische und empathische Miteinander dagegen zu setzen und gewissermaßen als Bollwerke dagegen aufzubauen – langfristig, kontinuierlich und pädagogisch. Deshalb ist das Buch von Peter Langman über Schulmassaker kein Sensationsbericht, aber auch kein apokalyptisches Menetekel, sondern eine nüchterne Analyse, bei der die vielfältigen, unterschiedlichen Gründe und Anlässe von Schul-Amokläufen dargestellt, diskutiert und verglichen werden, um nach Wegen zu suchen, künftig Gewalttaten in Schulen auszuschließen. Denn „jeder Vorfall, der Stress, Demütigung, Enttäuschung, Depression oder Wut erzeugt, ist Öl für das Feuer, das innerlich bereits brennt“. Eine positive Peerkultur zu schaffen, Konflikte unter den Schülern und den Erwachsenen zu lösen, Mobbing von Anfang an zu unterbinden und eine soziale Verbundenheit der Schüler untereinander und mit den Lehrerinnen, Lehrern und Eltern zu stärken, das sind Voraussetzungen, damit Schul-Amokläufe nicht stattfinden. Nicht unwichtig dürfte dabei sein, dass Erzieherinnen und Erzieher in die Lage versetzt werden, Auseinandersetzungen und Konflikte professionell zu lösen (vgl. dazu auch die Rezension zu: Nina L. Dulabaum, Mediation. Das ABC. Die Kunst, in Konflikten erfolgreich zu vermitteln).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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