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Sven Hillenkamp: Das Ende der Liebe

Rezensiert von Prof. Dr. Jochen Schmerfeld, 18.11.2009

Cover Sven Hillenkamp: Das Ende der Liebe ISBN 978-3-608-94608-6

Sven Hillenkamp: Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2009. 320 Seiten. ISBN 978-3-608-94608-6. 22,90 EUR. CH: 39,40 sFr.

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Thema

Das Buch von Sven Hillenkamp beschäftigt sich mit einem m. E. wichtigen ethischen Problem der Gegenwart. Da es offenbar keine verbindlichen Regeln und Normen gibt, an denen sich Menschen bei der Gestaltung ihres Lebens orientieren können, sind sie bei der Beantwortung der Frage: wie will ich leben? auf sich gestellt bzw. auf das, was ihnen ihre Freiheit suggeriert: eine unendliche Dynamik der Steigerung.

Dieses Problem, fokussiert auf das Thema ‚Liebe‘, wird in Hillenkamps Buch behandelt.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile und ein Schlusskapitel.

  1. Der erste Teil trägt den Titel „Die freien Menschen und die Nichtliebe“ und beschreibt die historischen Veränderungen, die zu einem Verschwinden der Zwänge und damit auch zu einem Verschwinden der Liebe geführt hätten sowie einige Geschichten von ‚freien Menschen‘, die die These des Autors illustrieren.
  2. Im zweiten Teil, „Die Unendlichkeit möglicher Partner“ wird die für das Buch zentrale These von der Dynamik der unendlichen Partnersuche entfaltet. Der dritte Teil „Was die Liebe in der Freiheit soll“ geht es um die Sexualität der freien Menschen, um die Muster, in denen sie mögliche Partner wahrnehmen und um die Selbstreflexion, die ihnen ein unmittelbares Erleben verunmögliche.
  3. Im Schlussteil wird die Vernunftehe als pragmatische Lösung vorgestellt.

Der Epilog greift eine Heideggersche Metapher auf (den Satz vom Grund, verstanden als Sprung) und thematisiert einen kleinen Sprung als mögliche zeitlich begrenzte Loslösung aus der Dynamik der Freiheit.

Das Grundthema wird in verschiedenen Registern variiert, eine Systematik im üblichen Sinn (wie in wissenschaftlichen Arbeiten) findet sich nicht, was aber dem essayistischen Stil des Buches entspricht.

Das aus der Phänomenologie bekannte Vorgehen scheint mir auch leitend für Hillenkamps Untersuchung gewesen zu sein, obwohl es keine expliziten Hinweise darauf gibt: Die Intentionalität des Bewusstseins – in diesem Fall des freien, d.h. auf keine äußeren und inneren Zwänge stoßenden Bewusstseins – ist ständig über sich hinaus, sowohl in zeitlicher wie in sachlicher Hinsicht (und bei Hillenkamp auf eine Steigerung hin ausgerichtet). In dieser Hinsicht bewegt sich Hillenkamp im Rahmen des modernen Denkens (ohne allerdings die ebenfalls moderne Kritik an diesem Ansatz aufzunehmen, die besagt, dass für die so gebaute Bewusstseinstheorie Intersubjektivität nicht wirklich zu denken sei). Was vom modernen Denken abweicht, ist das Verständnis von Freiheit. Ging es im modernen Denken um die Überwindung von inneren und äußeren Zwängen, so setzt Hillenkamp dort an, wo das moderne Denken erst hinwollte: die Zwänge sind überwunden, das Bewusstsein findet sich vor in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten und genau das wird ihm laut Hillenkamp zum Problem. Denn wie immer es sich entscheide, welche Wahl immer es treffe, es könne dies nur tun im Wissen darum, dass es andere Möglichkeiten gebe, die möglicherweise optimalere Entwicklungen oder Passungen bereit hielten. So werde eine prinzipiell unbegrenzte Dynamik der Steigerung und Selbstoptimierung eröffnet. Dies sei der Preis, den der freie Mensch für seine Freiheit zu zahlen habe.

So weit sind diese Überlegungen allgemein und nicht spezifisch für das Phänomen der Liebe.

Diskussion

Das Phänomen der Liebe, das Hillenkamp im Sinne der romantischen Liebe begreift, böte eine Möglichkeit, die Dynamik der Selbstoptimierung zu unterbrechen: vorstellbar wäre hier etwa mit Waldenfels die Intersubjektivität als Unterbrechung der Intentionalität des freien und einsamen Bewusstseins ins Spiel zu bringen und zu zeigen, dass die Erfahrung des Anderen die Freiheit des intentionalen Bewusstseins untergräbt. Mit einem solchen Ansatz käme auch eine dritte Instanz ins Spiel (die Stimme des Gesetzes bei Levinas oder daran anknüpfend einer Ordnungsinstanz bei Waldenfels), die die grenzenlose Dynamik unterbräche. Diesen Weg geht Hillenkamp nicht, möglicherweise weil er annimmt, dass die von Waldenfels und anderen analysierte Erfahrung dem freien Menschen nicht mehr möglich sei. Aber das wird so nicht thematisiert. So fasst er die Erfahrung des Anderen ganz auf der Linie dessen, was sich dem intentionalen Bewusstsein in seiner Objektwelt üblicherweise zeigt und in die Struktur der Horizonte eingeordnet wird: jedes Objekt verweist auf andere Objekte, die interessanter, begehrenswerter sein könnten. Jedes Objekt, das sich hier und jetzt zeigt, wird wahrgenommen vor dem Verweisungshorizont aller anderen möglichen Objekte. So kommt Hillenkamp zu dem Schluss, dass die Liebe im Zeitalter unendlicher Freiheit zu ihrem Ende komme, weil – das ist die Voraussetzung der romantischen Liebe – es nichts gebe, das dieses Objekt gegenüber allen anderen auszeichne und weil keine gesellschaftliche Institution die Unendlichkeit praktisch begrenze.

Aus einer psychoanalytischen Sicht (die allerdings anders als die oben erwähnten phänomenologischen Ansätze nicht methodisch an Hillenkamps Vorgehen anschließen könnte) wäre Hillenkamps These zu widersprechen. Das Problem des Subjekts besteht demzufolge nicht darin, dass es zu viele begehrenswerte Objekte gibt als vielmehr daran, dass es einen eklatanten Mangel in dieser Hinsicht gibt. Für das Subjekt gebe es in der Regel genau ein solches ausgezeichnetes Objekt, das aber auf immer verloren sei. Dieses eine ausgezeichnete Objekt existiere weiter als Bild, an dem das Subjekt sich orientiere. Das Problem, das das Subjekt lösen müsse, sei das ideale Bild des ausgezeichneten Objekts mit der Realität zu versöhnen. Möglicherweise haben Hillenkamps freie Menschen genau dieses Problem nicht gelöst.

Fazit

Hillenkamps Buch ist lesenswert für jeden Leser, der sich für Versuche interessiert, die Gegenwart zu verstehen, die sich möglicherweise aktuell vollziehenden Veränderungen zu denken und begrifflich zu fassen. Trotz des essayistischen Stils handelt es sich um genuin theoretisches Buch, um eine ausführliche Illustration einer These.

Das eingangs skizzierte ethische Problem findet keine Lösung in Hillenkamps Buch, das kann man auch nicht erwarten.

Was aber kritisch anzumerken ist, dass Hillenkamps These zu einfach gebaut ist, um der Komplexität des Phänomens Liebe und vor allem seiner ausgezeichneten Position, die es in der Moderne einnimmt gerecht zu werden. Das ergibt sich aus einem methodischen Fehler: da Hillenkamp die Liebe und die Beziehung des Subjekts zu einem geliebten Anderen in der Dimension der Objektwelt behandelt, kann er die ausgezeichnete Position des geliebten Anderen nicht erfassen. Möglicherweise ist das so intendiert, möglicherweise will Hillenkamp damit sagen: in der Spätmoderne gibt es für das Subjekt nur noch Objekte unter Objekten. Aber genau das erfährt der Leser nicht.

So bleibt ein unbefriedigtes Gefühl (das der Leser und die Leserin mit den freien Menschen teilen) und der Eindruck, dass ein auch theoretisch interessanter Ansatz nicht ausgearbeitet wurde.

Rezension von
Prof. Dr. Jochen Schmerfeld
Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg

Es gibt 21 Rezensionen von Jochen Schmerfeld.

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ISSN 2190-9245