Konrad Maier (Hrsg.): Armut als Thema der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Wilfried Hosemann, 23.01.2010
Konrad Maier (Hrsg.): Armut als Thema der Sozialen Arbeit. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre (Freiburg) 2009. 292 Seiten. ISBN 978-3-932650-31-4. 19,80 EUR.
Thema
Armut ist wieder zum Thema gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geworden. Menschen in armen Verhältnissen sind traditionell Adressaten Sozialer Arbeit. Jetzt entstehen aber wieder neue Arbeitsaufgaben, das eigene Selbstverständnis dazu ist gefragt und gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren müssen Positionen vertreten und Ressourcen erstritten werden.
Aufbau
Der Sammelband bietet in seinen ersten drei Beiträgen Hinweise zur Interpretation von Armut und ihrer Wahrnehmung durch Vertreter der Profession. Fünf Beiträge widmen sich dem Thema aus einer arbeitsfeldspezifischen Perspektive. Die zwei abschließenden Beiträge stellen zwei Grundkonzepte der sozialpolitischen Bewältigung von Armut dar:
- an der Erwerbsarbeit ausgerichtet oder
- davon abgekoppelt als bedingungslose Grundsicherung.
Inhalt
Konrad Maier interpretiert die Wahrnehmung von Armut in der Sozialen Arbeit auf der Folie der Lehre der Sozialen Arbeit - verbunden mit seinen Analysen der gesellschaftsbezogenen Einschätzungen (in den 70ziger Jahren wurde „…das Wohlergehen/Wellfare aller zum Staatszweck erhoben“ S. 19). Er legt eine Definition von Armut vor, die sozial und gesellschaftlich ausgerichtet ist. Die Aufgaben der Sozialen Arbeit werden folgendermaßen gegliedert:
- Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes,
- Exklusionsvermeidung,
- Hilfe zu selbstbestimmter Lebensplanung,
- Gestaltung sozialer Räume.
Maiers Schlussfolgerungen bestehen unter anderem darin, dass Soziale Arbeit nur im Einzelfall Wege aus der Armut aufzeigen kann, aber ihr Wissen um prekäre Einkommensverhältnisse und eingeschränkte Verwirklichungschancen in den öffentlichen Diskurs einzubringen hat. Dafür hat sie ein effektiv arbeitendes Funktionssystem heraus zu bilden und eine ethische Reflexion der sozialen Benachteiligung zu leisten (S. 46). Letztlich habe Soziale Arbeit Beiträge zu neuen Formen von Lebensläufen zu leisten als zu den bisher in der Arbeitsgesellschaft üblichen.
Bertold Dietz und Carmen Ludwig untersuchen in „Armut in Deutschland“ zunächst die offizielle Berichterstattung und gehen auf Probleme der Definition und Messung von Armut ein. In ihren Aussagen über Armut anhand struktureller, ausgewählter Benachteiligungskategorien greifen sie auf eine qualitative, empirische Untersuchung zurück, die auf 19 mehrheitlich narrativen Interviews mit sozial benachteiligten jungen Erwachsenen beruht. Mit diesem empirischen Bezug unterscheiden sie sich, wie ich finde positiv. Ihre Kategorien bilden ab: Bildungsbenachteiligung, Benachteiligung am Arbeitsmarkt, Leben in sozial benachteiligten Stadtteilen sowie Armut und politische Partizipation. Ihr Resümee ist bedrückend: „Tatsächlich werden gegenwärtig nur wenige politische Anstrengungen unternommen, um strukturell angelegte Benachteiligungen zu verringern und damit Armut vorzubeugen“ (S. 70).
Gerd Mutz geht neuen Prozessen der Exklusion und Prekarisierung nach und beschreibt sie als Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Vor dem Hintergrund von Kronauers Analysen von Inklusion und Exklusion und Castells Zonenmodell der Integration und der Entkopplung warnt Mutz vor einem Denken in einem „Zwei-Container-Modell“, in dem scharf zwischen Inkludierten und Exkludierten unterschieden wird. Inklusion, Exklusion und Prekarität sind eng miteinander verbunden anzutreffen. Darauf habe sich die Soziale Arbeit verstärkt einzustellen. „Das Ziel von Sozialer Arbeit muss sein, Personen langfristig zu befähigen, in ihrem sozialen Umfeld eigene Wege selbständiger Lebensbewältigung zu finden und somit Autonomie zu gewinnen“ (S. 94.). Um die individualisierende Perspektive zu überwinden, weist er für zukünftige Aufgabenbewältigung in die Richtung des amerikanischen „Community Organisation“. Mutz beansprucht einen Alleinstellungsanspruch für den biographischen Ansatz, um „biographische Potenziale“ erschließen zu können (S. 94). Angehörige der Sozialen Arbeit sollten befähigt sein, neue Möglichkeitsräume zu denken: etwa für wettbewerbsgeschützte Räume, sichere Phasen von Nichterwerbstätigkeit zu entdecken oder über andere Formen der Ökonomie, etwa einer Social economy, nachzudenken.
Marion Pantizsch-Wiebe geht dem Verhältnis von Familien- und Kinderarmut und Bildung nach. Dabei hat sie den Mut und die emotionale Kraft, von dem Erleben der Armut unmittelbar Ausgang zu nehmen. Ihr armutsbezogenes Grundverständnis der Sozialen Arbeit ist wissenschaftlich deutlich breiter als bei Maier angelegt (mit Hinweisen auf Winkler, Bock/Thole, Galuske, Thiersch). Vor dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von Jürgen Habermas entwirft sie Maßstäbe und Kriterien, die der Sozialen Arbeit eine aussichtsreiche Plattform für soziale Bildungsprozesse und Kooperationen mit dem Bildungssystem ermöglichen. Sie unterstützt damit, dass die Kinder- und Jugendhilfe innerhalb der aktuellen Bildungsdebatte offensiver auftreten und angemessener berücksichtigt werden könnte.
Juliane Sagebiehl schildert den Umgang mit Armut nach der Handlungstheorie von Silvia Staub-Bernasconi. Sie geht von der Vorstellung aus: „Armut ist demzufolge ein praktisches Problem, das Menschen mit der Einbindung bzw. Nichteinbindung in soziale Systeme haben“ (S. 118). Im Anschluss daran werden die vier Kategorien sozialer Probleme von Staub-Bernasconi (Ausstattung, Austausch, Macht, Kriterienprobleme) durchdekliniert. Armut wird als Mehrebenenproblematik bestimmt und für die Soziale Arbeit gefolgert: „Realistisch betrachtet kann sie im Einzelfall unterstützen, begleiten und bei der individuellen Bewältigung helfen, doch sie kann das gesellschaftliche Problem der Armut nicht lösen“ (S. 130). Soziale Arbeit wird aufgefordert, sich aus ihrer ‚Armut der Sprachlosigkeit‘ in Zeiten des neoliberalen Sozialabbaus zu befreien (S. 130).
Harald Ansen widmet sich der „Methodik der Sozialen Beratung“. Zunächst wird im Text (S. 131) eine Ausrichtung auf Beratung bei Armut und sozialer Ungleichheit angekündigt dann aber eher ein allgemeiner Überblick zum Beziehungsaufbau, der Fall- und Problemerfassung sowie Interventionshinweise zu den Themen Hilfeplanung, Soziale Sicherung, persönliche Unterstützung geboten. Im Kapitel ‚Interventionen zur sozialen Sicherung‘ heißt es: „Allgemein betrachtet kommt es darauf an, dass die sozialen Probleme von Ratsuchenden in eine verwaltungskonforme Sprache übersetzt werden.“ (S. 146). Ansens Ausblick – und Beitrag - endet mit dem Hinweis: „Es wäre per se ungünstig, wenn die finanziellen Probleme losgelöst von der Frage nach sozialer Unterstützung oder persönlichem Beistand bearbeitet würden“ (S. 152).
Lothar Stocks Beitrag geht dem Verhältnis von Armut und Gemeinwesenarbeit entlang einer Darstellung der Praxis nach. Er kann zeigen, wie in der so genannten 3. Methode der Sozialen Arbeit der Bezug zu Benachteiligungen und Armut gestaltet wurde (z.B. GWA Projekte in innerstädtischen Sanierungsgebieten). Aktuell verweist er auf das Konzept „sozialraumorientierter Existenzsicherung“ und ein eigenes neu gestartetes stadtteilbezogenes Projekt zugunsten benachteiligter Mütter und Mütter mit Migrationshintergrund. In seinem Fazit findet sich ein Hinweis auf Formen der Skandalisierung sozialer Ungerechtigkeit.
Christoph Mattes sieht die Soziale Arbeit in seiner Überschrift zwischen erwünschter und unerwünschter Verschuldung. Er schildert rechtliche und organisatorische Grundlagen des Arbeitsfeldes „Schuldnerberatung“ und fasst abschließend zusammen: „ Sie (die Soziale Arbeit H.d.V.) begegnet aufgeschlossen der privaten Verschuldung als Mittel der gesellschaftlichen Teilhabe und als ursprünglich frei gewählte individuelle Strategie der Alltagsbewältigung“ (S. 189). Die Schuldnerberatung beabsichtigt ausgegrenzte Individuen „ …den vielfältigen Kredit- und Konsumbereichen erneut zuzuführen“ (ebd).
Christian Stark geht dem Thema „Soziale Arbeit und Wohnungslosigkeit“ nach, stellt Ursachen dar, beschreibt Widersprüche, Ohnmacht und Chancen professioneller Hilfe und listet Maßnahmen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit und zu ihrer Bewältigung auf. Seine Schlussfolgerung läuft darauf hinaus, dass Zusammenschlüsse und Allianzen und vor allem Solidarität und Zivilcourage gefragt sind. Und es braucht eine Soziale Arbeit, „die Ecken und Kanten zeigt“ (S. 208).
Benjamin Benz geht den Perspektiven der Mindestsicherung nach, startet beim Status quo und diskutiert die Mindestsicherung anhand der Gegenüberstellung von Hartz IV und bedingungslosem Grundeinkommen – unter Einbezug verschiedener Lesarten von sozialer Gerechtigkeit. Die Perspektiven der Mindestsicherung werden unter den Aspekten Erwerbseinkommen, Steuern und Abgaben sowie soziale Geldleitungen erörtert. Seine Schlussfolgerung lautet: Sozialstaaten mit korporativen und solidarischen Elementen erreichen im Vergleich bessere Ergebnisse als solche, die ‚zentral auf Mindestsicherung und ansonsten auf Marktlösungen setzen‘ (S. 230).
Konrad Maier plädiert: „Für ein erwerbsunabhängiges Grundeinkommen“. Maier trennt Fürsorge und soziale Gerechtigkeit (S. 232), sieht die Bewältigung von Armut als professionellen Auftrag der Sozialen Arbeit: und hält die Einführung eines erwerbsunabhängigen, existenzsichernden Grundeinkommens für geboten. Er versteht die bisherigen sozialstaatlichen Entwicklungspfade als Antwort auf die Industrialisierung und das bedingungslose Grundeinkommen (Garantismus) als Antwort auf eine gesellschaftliche Situation, in der sich Erwerbsarbeit als Medium der Verteilung von Einkommen und sozialer Sicherheit nicht mehr eignet (S. 236). Nach Darstellung und Hinweisen auf verschiedene Modelle des Grundeinkommens werden die Ideologien der Erwerbsgesellschaft analysiert und kritisiert. Abschließend wird für einen längerfristigen Prozess plädiert, das bedingungslose Grundeinkommen als Leitbild der Sozialpolitik einzuführen und dieses Einkommen von seiner Bindung an die Erwerbsarbeit abzukoppeln (S.253). Maier sieht für die Sozialpolitik drei zentrale Vorteile: (a) Wegfall autoritärer, bürokratischer Bedürftigkeitsüberprüfungen und Abbau der „Dunkelziffer der Armut“, (b) Erleichterung des Einstiegs in die Erwerbsarbeit und Humanisierung der Arbeitswelt sowie (c) Grundlage für neue Lebensformen und sinnvolle Betätigungen jenseits der Erwerbsarbeit (S. 256).
Diskussion
Das Verhältnis der Sozialen Arbeit zur individuellen und gesellschaftlichen Problematik von Armut bedarf eines breiten fachlichen Diskurses. Der von Konrad Maier herausgegebene Sammelband ist daher sehr begrüßenswert und stellt relevante Überlegungen und Argumente zusammen, insbesondere zum Thema Grundsicherung. Des ungeachtet ist es notwendig, auf folgende Aspekte hinzuweisen:
- Maier verkürzt in seiner Darstellung die wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit mit dem Thema Armut in erheblichem Maße, u.a. auf begrenzte Fachhochschuldiskurse. Die Verhandlungen des Bundeskongresses für Soziale Arbeit zum Thema „Armut, Sozialarbeit und Sozialpolitik“ (1997) und nachfolgende Publikationen bleiben außen vor ebenso wie Veröffentlichungen der Praxis wie sie sich u.a. im Internet widerspiegeln. Die Situation der Berufsangehörigen wird nicht reflektiert. Maier konturiert entlang seiner Präferenzen: das ist legitim und kritikfrei zu respektieren. Er müsste aber auf Anschlüsse verweisen - insbesondere dann, wenn er beansprucht, ein Einführungsbuch für Studierende und ein Überblicksbuch für Praktiker vorzulegen.
- Für die immer wieder im Buch geforderte Politikfähigkeit ist es unumgänglich, dass die Diskurse zur sozialen Gerechtigkeit aufgenommen werden. Es reicht nicht vereinzelt auf bestimmte Aspekte von Gerechtigkeitsdebatten hinzuweisen (es fehlen die grundlegenden Positionen von Miller, Fraser, Honneth, Kersting). Ohne Rückgriff auf sozialstaatliche Semantiken und Kenntnisse der relevanten Diskurse zur sozialen Gerechtigkeit können nur begrenzt sozialpolitisch bedeutsame Beiträge geleistet werden. Nirgends werden politische Aktivitäten genannt oder diskutiert: weder die Armutskonferenz, der „Nationale Aktionsplan für Deutschland zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2003 -2005“ noch die nachfolgenden Strategieberichte (2006-2008 und 2008-2010) oder das Europäische Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Damit werden Anschlussmöglichkeiten und Sprachfähigkeit der Sozialen Arbeit genau in dem Bereich eingegrenzt, der wiederholt als Forderung in den Beiträgen auftaucht: stärkere Wirksamkeit im politischen und sozialpolitischen Raum.
- Die Qualität der Beiträge ist höchst unterschiedlich. Die Einbindung der Beiträge in die Debatten über Konfliktlinien der Sozialen Arbeit erfolgt unsystematisch und teilweise sehr plakativ (der Sozialstaat zwängte der Fürsorge ein kapitalistisch geprägtes Modell auf). Gerade in einem zentralen Beitrag – dem zur Beratung – bleiben die allgemeinen Vorgehensweisen im Vordergrund und man sucht die spezifischen Dimensionen die das Interaktionsverhältnis mit Armen und ihren Kindern ausmachen vergebens, aber auch die Sensibilität in Fragen des Geschlechts, des Migrationshintergrundes oder der Regionen kommt kaum zum Tragen. Kein Satz zur Problematik der Unterscheidung von würdigen und unwürdigen Armen.
- An wenigen Stellen im Buch wird ein unmittelbarer Bezug zu den Adressaten hergestellt und noch seltener ist, dass Engagement und emotionales Verständnis für Menschen in Armut deutlich wird. Ohne „Herz“ für die Adressaten wird es schwierig sein, Verständnis und Verstehen zu entwickeln und hinreichende emotionale Qualitäten aufzubauen, um auch Verhaltensweisen von Menschen in belasteten Situationen zu ertragen, die sich selber wiederum belastend verhalten.
Fazit
Maiers Buch ist für Kenner der fachlichen Szene und in die Materie schon etwas Eingedachte zu empfehlen. Sie werden seine Sichtweisen einzuordnen und die fachlichen Anregungen und Beiträge zu schätzen wissen. Als Einführungsbuch für Studierende oder Überblicksbuch für Praktiker fehlen ihm wesentliche Inhalte und die erforderliche wissenschaftliche Genauigkeit.
Rezension von
Prof. Dr. Wilfried Hosemann
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Zitiervorschlag
Wilfried Hosemann. Rezension vom 23.01.2010 zu:
Konrad Maier (Hrsg.): Armut als Thema der Sozialen Arbeit. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre
(Freiburg) 2009.
ISBN 978-3-932650-31-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8024.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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