Sabine Allwinn: Stressbewältigung
Rezensiert von Prof. Dr. Ursula Hochuli Freund, 20.07.2011
Sabine Allwinn: Stressbewältigung. Eine multiperspektivische Einführung für die Soziale Arbeit und andere psychosoziale Professionen. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre (Freiburg) 2010. 256 Seiten. ISBN 978-3-932650-34-5. 19,80 EUR.
Thema
Professionelle der Sozialen Arbeit
unterstützen Menschen und Gruppen bei der Bewältigung
unterschiedlichster psychosozialer Probleme. Wissen über
Bewältigung von Stress und Traumatisierung, Bewältigungsaufgaben
und -formen ist dabei unabdingbar. In einem praxisorientierten
Überblick stellt Allwinn psychologische Konzepte zur
Stressbewältigung vor, wobei die individuumszentrierte
Perspektive erweitert wird um soziale Aspekte.
Dabei geht es um
Beschreibungs- und Erklärungswissen, auf Interventionswissen
wird am Rande immer wieder hingewiesen.
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr. phil. Sabine Allwinn ist Diplomsoziologin, psychologische Psychotherapeutin und Hochschullehrererin. Nach dem Studium der Soziologie und Psychologie (in letzterem mit Promotion) war sie mehrere Jahre klinisch tätig in psychosomatischen und onkologischen Kliniken. Seit 1997 hat sie eine Professur für Psychologie inne an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg i.Br. Im Kontext ihrer Lehrtätigkeit in den Bachelorstudiengängen Soziale Arbeit und Religionspädagogik/Gemeindediakonie ist das vorliegende Buch entstanden. Erschienen ist es im hauseigenen Verlag der Hochschule Freiburg FEL (Forschung - Lehre - Entwicklung).
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst zunächst vier kurze Kapitel sowie drei ausführliche Kapitel im Hauptteil. Im ersten Kapitel formuliert die Autorin eine Gebrauchsanleitung für das Buch. Die verschiedenen Konzepte zur Stressbewältigung sollen immer wieder an einem Fallbeispiel - der fachjournalistisch erfassten Geschichte eines Flüchtlingsmädchens, die zunächst kurz dargelegt wird - illustriert werden. Ausserdem wird die Leserin, der Leser innerhalb der Konzeptdarstellungen immer wieder mittels Fragen aufgefordert werden, persönliche Erfahrungen zu reflektieren und eigene Hypothesen zu notieren. "Mein Ziel ist es, dass sich die LeserInnen als Ergebnis des Lesens eine Fragensammlung zusammenstellen können, die zu ihrem jeweiligen Handlungsfeld, Arbeitsgebiet und zu ihrer Aufgabenstellung passt" (:9).
Im
zweiten Grundlagenkapitel setzt sie sich mit methodischem
Handeln
in der Sozialen Arbeit auseinander. Dieses umfasst die
Aufgabenbereiche Informationssammlung, Verstehen/Interpretieren von
Problem und Situation, Interventionsplanung sowie Evaluation. Das
wissenschaftliche Wissen zu Stressbewältigung - das im Buch
aufbereitet wird- kann insbesondere für die Aufgabe des
Verstehens, Interpretierens und Erklärens genutzt werden.
Damit
„Bewältigung“ in seiner Komplexität angemessen verstanden
werden kann - als Verhalten von Individuen und Familien innerhalb
sozialer und kultureller Bedingungen, in konkreten Lebensweisen und
Lebenswelten - ist ein transdisziplinärer Zugang unabdingbar,
bei dem Theorien und empirische Erkenntnisse aus verschiedenen
Nachbarsdisziplinen fruchtbar gemacht werden. Auf diese Weise kann
ein multiperspektivisches Verständnis von Bewältigung
erarbeitet werden.
Im dritten Kapitel stellt die Autorin in knapper Form die beiden theoretischen Ansätze aus der Disziplin der Sozialen Arbeit vor, die das Bewältigungshandeln thematisieren: Das Konzept der Alltagsbewältigung und Lebensweltorientierung von Thiersch arbeitet mit den Dimensionen Lebenszeit, erfahrener Raum und soziale Bezüge. Das Konzept biographischer Lebensbewältigung von Böhnisch unterscheidet vier Dimensionen subjektiver Belastung: Erfahrung von Selbstwertverlust, Erfahrung sozialer Orientierungslosigkeit, Erfahrung fehlenden sozialen Rückhalts, Sehnsucht nach Normalisierung. Beide Konzepte erhellen die Verzahnung und Dynamik persönlicher und sozialstruktureller Bedingungen bei der Entstehung und Bewältigung sozialer Probleme (vgl.:46).Im nächsten Kapitel skizziert die Autorin klassische Konzepte aus den Anfängen der psychologischen Stressforschung: Stress als physische Reaktion auf akute Gefahren (Cannon) und auf länger andauernde Belastungen (Seyle), bzw. Stress als Anpassungsleistung auf kritische Lebensereignisse (Holmes, Rahe). Auch wird kurz verwiesen auf das psychoanalytische Konzept der Abwehrmechanismen von Freud. Abschliessend finden sich - wie in der Folge nach jedem Kapitel - praxisbezogene Fragen für die Situationsanalyse.
Deutlich ausführlicher werden im fünften Kapitel drei komplexere Person-Umwelt -Modelle zunächst dargestellt und anschliessend kritisch diskutiert, Modelle, welche die Wechselwirkungen zwischen äusseren Bedingungen und den individuellen Reaktionen darauf zu erfassen suchen. Das transaktionale Stressmodell von Lazarus stellt die subjektive Sichtweise, die Bewertung in den Vordergrund. U.a. werden vier verschiedene Bewältigungsformen der Informationssuche - direkte Aktionen, Aktionshemmung, intrapsychische Bewältigungsformen - unterschieden. Das Salutogenese-Konzept von Antonovsky thematisiert das Potential von Menschen, auch unter schwierigen äusseren Bedingungen gesund zu bleiben. Massgeblich hierfür ist das sog. Kohärenzgefühl, mit seinen drei Komponenten Gefühl der Verstehbarkeit, Gefühl der Handhabbarkeit und Gefühl von Sinnhaftigkeit. Die Theorie der Ressourcenerhaltung von Hobfoll geht von einem ökologischen Modell aus und versteht Stress als zugleich real und sozial. Es werden interne, personale und externe (materielle und soziale) Ressourcen unterschieden. Hobfoll thematisiert die Bedeutung sozioökonomischer Bedingungen für die Bewältigungsmöglichkeiten und das Bewältigungsverhalten (Coping) von Individuen und Gruppen: Menschen mit geringen Ressourcen tragen ein höheres Risiko, wichtige Ressourcen zu verlieren und in einen Prozess zunehmenden Ressourcenverlusts zu geraten. In seinem multitaxialen Modell des Coping werden drei Achsen unterschieden: aktives vs. passives Coping, prosoziales vs. antisoziales Coping, direktes vs. indirektes Coping unterschieden. An dieser Stelle verlässt die Autorin explizit ihren Fokus auf Beschreibungs- und Erklärungswissen und referiert Hobfolls Hinweise zu Interventionsstrategien auf unterschiedlichen Ebenen (individuell, familiär, organisationsbezogen, sozialpolitisch) und seine Leitlinien für Professionelle im Bereich seelischer Gesundheit. Die Autorin bezeichnet das multitaxiale Modell als "Koordinatensystem für die Art, wie Menschen mit Stress umgeht"(108), und als "besser geeignet, Copingstrategien zu verorten, als der viele Jahrzehnte genutzte Forschungszugang, die Wirkung von Copingstrategien unterschiedlicher Funktion erfassen zu wollen" (ebd.). Von den drei vorgestellten Ansätzen werde die Theorie von Hobfoll der Verbindung von Person und Umwelt am meisten gerecht (vgl.:109).
Gleichwohl
bleibt auch diese Theorie in seiner Ausrichtung individuumszentriert.
Um die individualistische Sichtweise auf Bewältigung vollends zu
überwinden, werden im darauffolgenden, wiederum grösseren
Kapitel Aspekte
Sozialer
Bewältigung
thematisiert. Dies geschieht aus drei Perspektiven. In der ersten
wird der Einfluss des sozial-kulturellen Kontextes auf individuelle
Bewältigung dargelegt. Kulturelle und soziale Konstruktionen
beeinflussen die subjektiven Deutungen von Individuen zu allen
Aspekten von Stress. Mit Hilfe des Konzepts der Sozialen Identitäten
von Brown
können die unterschiedlichen Identitätskomponenten - z.B.
Alter, Geschlechtszugehörigkeit, soziale Schicht, etc. -
analysiert werden, die allesamt Einfluss haben auf das
Bewältigungsverhalten.
In einer zweiten Perspektive werden
Bewältigungsinteraktionen in den Blick genommen. Das Modell des
dyadischen Copings von Bodenmann
und die verschiedene Formen sozialer Unterstützung nach Hobfoll
werden skizziert. Einen Schwerpunkt legt die Autorin auf die
Copinginteraktion im Hilfeprozess. Sie weist u.a. auf die Gefahr
unreflektierter emotionaler Ansteckung hin, welche neben der
seelischen Gesundheit der Professionellen auch die Qualität der
Arbeit beeinträchtigt, sowie auf die Bedeutung kultureller
Kompetenz von Professionellen. In der dritten Perspektive geht es um
kollektive Bewältigung. Es werden verschiedene Modelle zum
Bewältigungsverhalten von Familien vorgestellt (Hill,
Patterson, Boss).
Die stützende Funktion sozialer Netzwerke wird anhand einzelner
Studien erläutert. Noch weniger erforscht ist der Einfluss von
Organisationsstrukturen und -prozessen auf Bewältigungsverhalten.
Am Beispiel der Polizei werden erste Forschungsergebnisse zu
Bewältigungskulturen in Organisationen vorgestellt.
Im letzten Kapitel ist der Fokus auf starken Stress gerichtet: auf Krisen und Traumata. Eine Krise zeichnet sich dadurch aus, dass "es zunächst völlig an hilfreichen Strategien fehlt, mit dem Krisenanlass umzugehen. (…) Krisenbewältigung erfordert demnach einen kreativen Akt. Eine (…) Strategie muss erfunden werden."(:174). Nach der Skizzierung von zwei Krisenverlaufsmodellen (Sonneck, Cullberg) wird kurz auf Krisen und Verläufe in Familien eingegangen. Anschliessend werden Traumata - d.h. bedrohliche Krisen mit gravierenden Auswirkungen - aus einer psychotraumatologischen, medizinisch-psychiatrischen Perspektive betrachtet. Es werden die Merkmale einer posttraumatischen Belastungsstörung beschrieben sowie - auf der Interventionsebene - Akutinterventionen sowie verschiedene therapeutische Konzepte der Traumabehandlung vorgestellt. Als Ergänzung zu diesem intrapsychischen Fokus werden verschiedene Konzepte erläutert, die den sozialen Kontext mit berücksichtigen, u.a. das Konzept der heilsamen Beziehung (Hermann), Identitätsentwicklung nach Trauma (Brown), Sturz aus der normalen Wirklichkeit (Gerdes), Trauma in der Familie (Boss) sowie politisch-kulturell bedingte Traumata bei Flüchtlingen.
Diskussion
Die
Autorin hat die aktuelle psychologische Literatur zu
Stressbewältigung aufgearbeitet und in gut verständlicher,
prägnanter Form zusammengefasst. Ihren Anspruch, mit dem Buch
einen "praxisorientierten Überblick über Erkenntnisse
zur Bewältigung von Stress und Traumatisierung"(:8) zu
bieten, hat sie zweifellos eingelöst. Ihr grosses Verdienst
besteht darin aufzuzeigen, wie viele psychologische Konzepte zu
diesem Thema es gibt, welche die disziplinär
individuumszentrierte Perspektive der Psychologie erweitert haben um
die soziale Dimension. Durch die Kontextualisierung von
Stressbewältigung entsprechen diese Konzepte dem
Selbstverständnis der Sozialen Arbeit, welche individuelle
Bewältigung - sowohl hinsichtlich Bewältigungsbedarf als
auch Bewältigungsverhalten - immer beeinflusst sieht durch
sozialstrukturelle Bedingungen, durch die wechselseitige Dynamik
zwischen Person und Umwelt. Da sich die Soziale Arbeit nicht nur mit
der Unterstützung von Individuen, sondern auch von Familien,
Gruppen und Gemeinwesen befasst, ist es hilfreich, dass Allwinn
auch Konzepte vorstellt, welche die Bewältigung von Familien
thematisiert.
Es wird eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte
und Modelle dargelegt. Auf diese Weise ist ein Überblick über
den aktuellen Wissensstand zum Thema gewährleistet. Damit die
einzelnen Konzepte für die fallbezogene Arbeit - für das
Fallverstehen - genutzt werden können, hätte ich mir
manchmal eine etwas ausführlichere Darstellung gewünscht.
Auch die beiden Konzepte, die aus der Sozialen Arbeit stammen (von
Thiersch
und Böhnisch),
hätten eine genauere Darlegung verdient.
Der Nutzen des
Fallbeispiels, anhand dessen die Konzepte manchmal illustriert
werden, ist m.E. eher fraglich, bleiben doch die Fallüberlegungen
oberflächlich. Hilfreich hingegen sind die Überlegungen zum
Nutzen eines Konzeptes für die Soziale Arbeit, die Ausführungen
zu Aspekten der professionellen Beziehung und die Folgerungen für
das praktische Handeln, welche die Autorin am Ende jedes Kapitels
formuliert: Die auf dem Hintergrund der dargestellten Konzepte
zusammengestellten Fragen für die Situationsanalyse bieten
hilfreiche Anregungen für die berufspraktische Arbeit.
Aufgrund
seines Entstehungshintergrunds und durch den Lehrbuch-Charakter mit
den didaktischen Fragen richtet sich das Buch primär an
Studierende der Sozialen Arbeit. Es ist nützlich aber auch für
alle Professionelle der Sozialen Arbeit, die ihr Hintergrundswissen
und ihr Grundverständnis von Stressbewältigung erweitern
möchten. Für sie werden die didaktischen Fragen, welche die
persönliche Auseinandersetzung anregen sollen, wahrscheinlich
eher bemühend sein (und sie werden sie wahrscheinlich einfach
übergehen). Sicherlich ist das Buch darüber hinaus auch
geeignet auch für Studierende und Praktiker/innen anderer
psychosozialer Professionen, die "ein Interesse daran haben,
Stressbewältigung von Erwachsenen alltags- und
lebensweltorientiert, im sozialen Kontext zu betrachten" (:5),
und die einen Auftrag haben, Menschen bei der Bewältigung ihrer
Probleme im sozialen Kontext zu unterstützen.
Fazit
Das Buch von Sabine Allwinn bietet einen sehr guten, praxisorientierten Überblick über aktuelle psychologische Konzepte zur Bewältigung von Stress und Traumatisierung. Die Autorin skizziert eine Vielzahl von Konzepten, welche die individuumszentrierte psychologische Perspektive auf Bewältigungsverhalten erweitert haben um die soziale Dimension: Nur wenn das Verhalten von Individuen (und Familien) innerhalb sozialer, sozialstruktureller und kultureller Bedingungen in den Blick genommen wird, kann „Bewältigung“ in seiner Komplexität angemessen verstanden werden. Durch den Fokus auf Wahrnehmungs- und Erklärungswissen und die konkreten Fragen zur Situationsanalyse ist das Buch nicht nur für Studierende ein hilfreiches Arbeitsmittel.
Rezension von
Prof. Dr. Ursula Hochuli Freund
Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit (Institut für Professionsforschung und kooperative Wissensbildung) der Fachhochschule Nordwestschweiz. Arbeitsschwerpunkte: Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit, Soziale Diagnostik, Geschlechtersozialisation
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Zitiervorschlag
Ursula Hochuli Freund. Rezension vom 20.07.2011 zu:
Sabine Allwinn: Stressbewältigung. Eine multiperspektivische Einführung für die Soziale Arbeit und andere psychosoziale Professionen. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre
(Freiburg) 2010.
ISBN 978-3-932650-34-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8026.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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