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John Taylor Gatto: Verdummt noch mal! Dumbing us down

Rezensiert von Dr. Martin R. Textor, 10.08.2009

Cover John Taylor Gatto: Verdummt noch mal! Dumbing us down ISBN 978-3-934719-35-4

John Taylor Gatto: Verdummt noch mal! Dumbing us down. Der unsichtbare Lehrplan oder Was Kinder in der Schule wirklich lernen. Genius Verlag (Bremen) 2009. 180 Seiten. ISBN 978-3-934719-35-4. D: 12,80 EUR, A: 12,80 EUR, CH: 22,80 sFr.
Originaltitel: Dumbing us down.

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Thema

Erst 17 Jahre nach der Veröffentlichung in den USA erschien nun das schulkritische Buch „Dumbing Us Down“ von John Taylor Gatto in deutscher Übersetzung. Der Autor beschreibt, wie das Schulsystem systematisch die Selbstentfaltung und die Unabhängigkeit von Kindern verhindert, denn das „ökonomische System, unter dem Schulkinder heute erwarten zu leben und zu dienen, würde keine Generation junger Leute überleben, die zum Beispiel kritisches Denken gelernt hätten“ (S. 14).

Autor

John Taylor Gatto, geboren am 15.12.1935 in Monongahela, Pennsylvania, studierte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Er arbeitete 30 Jahre lang als Lehrer und wurde für diese Tätigkeit mehrfach ausgezeichnet („New York City Teacher of the Year“ in 1989, 1990 und 1991, „New York State Teacher of the Year“ in 1991). Im Jahr 1991 erklärte er seinen Rücktritt, da er nicht länger „Kindern Schaden zufügen” wolle, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er arbeitet als Autor und veröffentlichte in den USA mehrere einflussreiche Bücher, in denen er das Schulsystem kritisierte (z.B. „A Different Kind of Teacher: Solving the Crisis of American Schooling“, 2000; „The Underground History of American Education, 2001; „Weapons of Mass Instruction: A Schoolteacher's Journey through the Dark World of Compulsory Schooling”, 2008).

Aufbau …

Der eigentliche Text von John Taylor Gatto umfasst nur rund 80 von 125 Seiten und besteht aus vier Kapiteln. Davor stehen ein Vorwort von Vera E. Birkenbihl, Anmerkungen der deutschen Herausgeberin Dagmar Neubronner und ein kurzer autobiographischer Text, danach folgen ein Nachwort zum zehnjährigen Jubiläum des Buches, ein Postscript des amerikanischen Verlegers Chris Plant von 2005, ein Vorwort zur Jubiläumsausgabe von Thomas Moore, eine Einführung des Herausgebers David Albert, eine Anmerkung desselben zur ersten Ausgabe des Buches sowie allgemeine Anmerkungen. Eine solche Gliederung des Buchinhalts wird sicherlich nicht nur diesen Rezensenten verblüffen!

… und Inhalte

Vera E. Birkenbihl beginnt ihr Vorwort mit folgenden Sätzen: „Als ich in einem Vortrag unter anderem die berühmten sieben ‚Gatto-Lektionen‘ (…) präsentierte, verteilten wir vorher ‚Kotztüten‘ (wie im Flugzeug) nach dem Motto: Es könnte einem schlecht werden, wenn man begreift, wie Regelschulen die Lernfähigkeit unserer Kinder systematisch untergraben“ (S. 7). Zugleich nimmt Birkenbihl die Lehrer in Schutz, „die von der Schule in den Hörsaal und dann zurück in die Schule gehen. Viele von ihnen haben das reale Leben ‚draußen‘ gar nie wirklich kennen gelernt. Und da man ihnen im Studium einredet, die teilweise menschenverachtenden Maßnahmen, die sie als SchülerInnen erlebt haben, seien pädagogisch wertvoll, werden sie vollends indoktriniert, und dann gilt das Jesus-Wort auch für sie (denn sie wissen nicht, was sie tun)“ (S. 7).

Was aber sind „die sieben Lektionen des Lehrers“? John Taylor Gatto schreibt:

  1. Die erste Lektion, die ich unterrichte, ist Verwirrung“ (S. 18). So werde alles, was an Schulen gelehrt wird, aus dem Zusammenhang gerissen, sei der Stundenplan ein „Flickenteppich“, würde den Schülern nur ein „Werkzeugkasten oberflächlicher Begriffe“ mitgegeben. Die Kinder müssten die Lerninhalte so akzeptieren, wie sie vermittelt werden, und dann so wiedergeben. Kritisches Denken werde unterbunden, denn dann könnten ja auch z.B. die Dogmen des Lehrers hinterfragt werden.
  2. Das zweite Fach, das ich unterrichte, ist die unentrinnbare Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht. … Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass es den Kindern gefällt, mit Kindern gleichen Niveaus zusammengesperrt zu werden oder dass sie es zumindest widerspruchslos erdulden. Wenn ich meine Sache gut mache, können sich die Kinder nicht einmal vorstellen, anderswo zu sein, denn ich habe ihnen beigebracht, die höheren Lernniveaus zu beneiden und ihnen mit Ehrfurcht zu begegnen, auf die darunter liegenden Niveaus dagegen mit Verachtung herabzublicken“ (S. 20). So lerne jedes Kind, dass es – auch später als Erwachsener – „den ihm angemessenen Platz in der Pyramide hat“ (S. 21).
  3. Das dritte Fach, das ich unterrichte, ist Gleichgültigkeit“ (S. 21). Selbst wenn Lehrer einen interessanten Unterricht machen oder von den Kindern verlangen, zumindest Begeisterung zu heucheln, sei mit der Pausenglocke alles schlagartig vorbei: Die Schüler „müssen sich wie ein Lichtschalter an- und ausschalten lassen. Nichts Wichtiges wird in meiner oder irgendeiner anderen mir bekannten Unterrichtsstunde jemals zu Ende geführt. … Die eigentliche Lektion der Pausenglocke ist, dass es keine Arbeit gibt, die es wert ist, zu Ende geführt zu werden. Warum also sollte man sich für irgendetwas engagieren?“ (S. 21).
  4. Das vierte Fach, das ich unterrichte, ist emotionale Abhängigkeit. Mit Fleißbienchen und Smileys, mit Lächeln und Stirnrunzeln, Auszeichnungen, Ehrungen und Strafen bringe ich den Kindern bei, ihren Willen der vorherbestimmten Befehlskette zu unterwerfen“ (S. 22). Die Schüler hätten keine Rechte, ihre Individualität würde zugunsten der Anpassung unterdrückt, ein Widerstand werde bestraft.
  5. Das fünfte Fach, das ich unterrichte, ist intellektuelle Abhängigkeit. Gute Schüler warten darauf, dass ein Lehrer ihnen sagt, was sie tun sollen“ (S. 22). Die Lehrer hätten die Macht zu kontrollieren, was Kinder denken. Und wer so denke wie erwartet, sei ein guter Schüler und würde entsprechend benotet. Dies sei die wichtigste Lektion von allen: Wir müssten die Abhängigkeit von anderen Menschen akzeptieren, denn darauf basierten Hierarchien, Wirtschaft, Sozialwesen, Rechtssystem usw.
  6. Das sechste Fach, das ich unterrichte, ist labiles Selbstbewusstsein. … Unsere Welt würde so, wie sie ist, eine Flut selbstbewusster junger Leute nicht sehr lange überleben, daher unterrichte ich, dass die Selbstachtung eines Kindes von der Meinung eines Experten abhängen sollte. Meine Kinder werden beständig ausgewertet und beurteilt“ (S. 24). Menschen dürften sich nicht selbst einschätzen, sondern müssten lernen, das Urteil „objektiver“ Dritter zu akzeptieren.
  7. Die siebte Lektion lautet, dass man sich nicht verstecken kann. Ich lehre die Schüler, dass sie immer unter Beobachtung stehen und immer überwacht werden“ (S. 25). Auch der Austausch mit den Eltern diene der Kontrolle. Mit Hilfe der Hausaufgaben werde die Schule in die Familie hinein ausgedehnt, „wo die Schüler sonst ihre freie Zeit nutzen könnten, um etwas zu lernen, was nicht autorisiert ist, zum Beispiel von den Eltern, durch eigenes Erkunden oder durch Kontakt mit einer kompetenten Person in der Nachbarschaft“ (S. 25 f.). Privatheit bzw. Privatsphäre müssten den Menschen vorenthalten werden, um die Gesellschaft zentral kontrollieren zu können.

Gatto ist der Meinung, dass die amerikanische Gesellschaft vor 150 Jahren freier war, dass die Klassenschranken leichter überwunden werden konnten und die Menschen selbstbewusster waren. Auch damals hätten die Menschen gelernt, zu lesen, zu schreiben und zu rechnen – aber innerhalb von ungefähr 100 Stunden. Und sie eigneten sich Kenntnisse relativ schnell an – im Gespräch mit anderen Menschen. Das endete mit Einführung der Schulpflicht: Nun könnten Kinder nicht mehr ihr volles menschliches Potenzial entwickeln, bleiben „die meisten Menschen dazu verdammt, untergeordnete Bausteine einer Pyramide zu sein, die sich zur herrschaftlichen Spitze hin verjüngt“ (S. 28).

Die Schule trägt laut Gatto auch nicht zur Demokratisierung der Gesellschaft bei: „Kollektiverziehung kann nicht zu einer gerechten Gesellschaft führen, denn ihre tägliche Praxis ist eine Einübung in erzwungener Konkurrenz, in Unterdrückung und Einschüchterung“ (S. 75). Sie könne keine ideellen Werte vermitteln – wohl aber einen oberflächlichen „Massencharakter“ (Bertrand Russell). Und so schreibt der Autor provokant: „Die Monopolschule ist die Dressureinrichtung der Bienenstockgesellschaft“ (S. 93); sie fördere das „Kastenwesen“.

John Taylor Gatto hält das Schulsystem für nicht reformierbar. Die einzige Lösung sieht er in der Konkurrenz auf einem freien Markt, „wo Familienschulen, private Schulprojekte, weltanschaulich geprägte Schulen, Handwerk- und Landwirtschaftsschulen in großer Zahl existieren“ (S. 32) – wo jeder, der Freude am Unterrichten hat, dies tun kann. Hier könnten Kinder eigenmotiviert und selbsttätig lernen. „Wenn sich Kinder im richtigen Leben aufhalten dürfen anstatt in nach Jahrgängen geordneten Zellen, lernen sie mit Leichtigkeit Lesen, Schreiben und Rechnen, wenn diese Dinge in der Art von Leben, das sich um sie herum entfaltet, sinnvoll erscheinen“ (S. 37). Dann würden sie sich besser selbst erkennen, mehr Selbstvertrauen entwickeln und selbstloses Handeln im Dienst für andere einüben können. „Schon Aristoteles war der Ansicht, umfassende Teilnahme an einem komplexen Spektrum menschlicher Angelegenheiten sei der einzige Weg, um voll und ganz Mensch zu werden“ (S. 56).

Am wichtigsten ist laut Gatto das Lernen in der Familie: Diese sei das „Herzstück jeden guten Lebens“ (S. 45), und deshalb dürften die Kinder nicht wie bisher ihren Eltern durch die Schule entfremdet werden, sondern müsse der Austausch zwischen Eltern und Kind, müsse die Familienbande gefördert werden. Nur hier gäbe es „wirkliche Kommunikation“ in einer „echten Gemeinschaft“. So fordert Gatto: „Wir brauchen weniger Schule, nicht mehr“ (S. 55). Anstatt mehr „Beschulung“, anstatt des „Wegschließens“ der Kinder von der Welt müssten Kinder wieder mehr in Gemeinschaften agieren können, wo sie sich als einzigartige Individuen erleben, einen originellen Geist entwickeln, persönliche Werte finden und „reich im Geiste“ werden könnten.

Das Schulmonopol, die Massenbeschulung und die Zentralisierung im Bildungssystem müssten also durch selbst verwaltete lokale Gemeinschaften ersetzt werden: „An der Bildung der nächsten Generation sollten sich in jedem Gemeinwesen alle beteiligen: Firmen, Institutionen, alte Menschen und Familien“ (S. 95). Gatto fordert abschließend: „Lassen Sie jeden unterrichten, der es möchte; geben Sie den Familien ihre Steuergelder zurück, um selbst auszuwählen – wer könnte ein besserer Einkäufer sein, wenn es Vergleichsmöglichkeiten gibt?“ (S. 96).

Diskussion

In einer Zeit, in der in Deutschland im Anschluss an die PISA- und andere Vergleichsstudien intensiv über die Reproduktion sozialer Ungleichheit diskutiert und Abhilfe in der Ausdehnung der Bildungszeit auf die ersten sechs Lebensjahre, in der Einführung von Ganztagsschulen, in nationalen Bildungsstandards usw. gesehen wird, verweist das Buch von John Taylor Gatto darauf, dass es gerade dieses Schulsystem ist, das die gesellschaftliche Schichtung erhält und zementiert. Und während in Deutschland Rufe nach einer Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems zwecks mehr Chancengleichheit immer lauter werden, verdeutlicht Gatto, dass es auch in den amerikanischen Gesamtschulen ein ausgefeiltes „Schubladenprinzip“ gibt: „Im Laufe der Jahre hat die Differenziertheit, mit der Kinder von den Schulen eingeteilt werden, dramatisch zugenommen, so dass sie als Menschen unter dem Gewicht der ihnen zugeordneten Kategorien kaum noch zu erkennen sind“ (S. 20).

So provoziert Gattos Buch den Leser, die aktuellen Entwicklungen in Deutschland zu hinterfragen. Selbst wenn man seine Lösungsvorschläge nicht nachvollziehen möchte, sollte man sich dennoch auf die große Bedeutung der Familie zurückbesinnen. Schließlich haben in Deutschland und vielen anderen Ländern Hunderte von wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt, dass die Familie einen doppelt so großen Einfluss auf die kindliche Entwicklung und die Schulleistung hat als Kindertageseinrichtung und Schule. Sollte man da nicht lieber die Bildungsfunktion von Familien stärken als auf immer mehr Fremdbetreuung und immer mehr Schule zu setzen?

Fazit

Das provokante Buch von John Taylor Gatto sollte auch in Deutschland eine weite Verbreitung finden. Es ist sehr interessant zu lesen, wenn auch viele Aussagen repetitiv sind und sich ausschließlich auf die Situation in den USA beziehen.

Rezension von
Dr. Martin R. Textor
Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF)
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Es gibt 72 Rezensionen von Martin R. Textor.

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Zitiervorschlag
Martin R. Textor. Rezension vom 10.08.2009 zu: John Taylor Gatto: Verdummt noch mal! Dumbing us down. Der unsichtbare Lehrplan oder Was Kinder in der Schule wirklich lernen. Genius Verlag (Bremen) 2009. ISBN 978-3-934719-35-4. Originaltitel: Dumbing us down. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8028.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.


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