Ute Luise Fischer: Anerkennung, Integration und Geschlecht
Rezensiert von Prof. Dr. Gisela Hauss, 23.04.2010

Ute Luise Fischer: Anerkennung, Integration und Geschlecht. Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts.
transcript
(Bielefeld) 2009.
336 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1207-3.
29,80 EUR.
CH: 49,90 sFr.
Reihe: Gender studies.
Thema
Anerkennung, Integration und Geschlecht. Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts.
AutorIn oder HerausgeberIn
Ute Luise Fischer (PD Dr. rer. pol.) ist Privatdozentin an der Technischen
Universität Dortmund.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch beruht auf einem von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) finanzierten Forschungsprojekt. Es ist eine leicht überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift der Verfasserin, eingereicht 2008 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Dortmund.
Im Zentrum der Publikation steht die aktuelle Frage, die Öffentlichkeit und Politik umtreibt: Kann die Erwerbsarbeit heute noch zentrales Kriterium sein für ein gelungenes Leben? Muss man in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit nicht vielmehr Kritik üben am Topos der Arbeitsgesellschaft und der Tatsache ins Gesicht sehen, dass Arbeit ihre funktionale Fundierung verloren hat? Die Verfasserin wirft einen kritischen Blick auf das Plädoyer, dass jede und jeder für sich selbst verantwortlich sei, auf die damit zusammenhängende Koppelung der Einkommenssicherung an die Erwerbsarbeit und die Verschärfung des normativen und finanziellen Drucks zur Arbeitsaufnahme. Doch so einfach ist es nicht, Arbeit als Zentralwert der Gesellschaft in Frage zu stellen. An Arbeit ist nicht lediglich das Einkommen gebunden, sondern auch Lebenssinn und Bewährung. Hier knüpft die Verfasserin an und wendet damit die Krise der Arbeitsgesellschaft subjekttheoretisch: die Krise der Arbeitsgesellschaft wird zur kulturellen Krise der Bewährung, zur Krise des Lebenssinns.
Aufbau und Inhalt
Im Zentrum der Studie steht die Frage, welche Bedeutung die Bewährungsfelder Beruf, Familie und Gemeinwesen für Selbstverwirklichung und Lebenssinn haben. Wie verhalten sich diese Bereiche zueinander? Zeigt sich das Verhältnis für Männer und Frauen unterschiedlich? Oder anders gefragt, können heute noch Männer und Frauen zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Lebenssinn kommen? Wo lagern sinnstiftende Potentiale und wie sind diese in eine gesellschaftliche Anerkennungsordnung einbezogen? Mit dieser Fragestellung orientiert sich die Verfasserin an den Prämissen der objektiven Hermeneutik (Ulrich Oevermann): Jedem Mensch als Gattungswesen stellt sich die Frage nach der Bewährung seines Lebens, auf die er in den Bereichen Familie, Gemeinwesen und Beruf eine Antwort geben muss. Während Oevermann die Bewährung geschlechtsspezifisch ausdeutet, lässt die Verfasserin diese Frage offen. Ob Männern und Frauen die Frage nach der Bewährung anders beantworten, soll die Untersuchung zeigen.
Nach der Einführung des Buches widmet die Verfasserin rund 50 Seiten der theoretischen Grundlegung ihres Projektes (S.23 – 82). Hierbei bezieht sie sich weitgehend auf den strukturalistischen Ansatz von Ulrich Oevermann unter Rückgriff auf Soziologen wie z.B. Pierre Bourdieu (S.29) oder Max Weber (33ff). Mit Oevermann setzt sie objektive Sinnstrukturen als gegeben voraus und geht von universell gültigen Regeln und einem als mit sich selbst identischen, stabilen Subjekt aus. Der Auseinandersetzung mit einer poststrukturalistischen Kritik an dieser angenommenen Sinnstruktur sowie der kritischen Diskussion des Subjektbegriffs gibt sie dabei fast zu wenig Raum (z.B. S.24/25 und S. 58 – 60). Interessant wird die theoretische Einführung dort, wo sich die Verfasserin von Oevermann abgrenzt und z.B. dessen Behauptung geschlechtsspezifischer Bewährungsdynamiken nicht übernimmt, sondern für die Untersuchung offen lässt. Die theoretische Ausgangslage wird erweitert mit den von Axel Honneth beschriebenen Anerkennungsformen (S. 41 – 45). Ausgehend von der unbedingten Anerkennung in den diffusen Sozialbeziehungen der Primärfamilien kommt die Verfasserin zum Schluss, dass hier die Grundlagen für eine Bindungsfähigkeit gelegt werden, dass hier ein konsistenter Habitus entsteht. Darin sieht sie die Voraussetzung für das Funktionieren in den rollenspezifischen Feldern der beruflichen Bewährung unter marktwirtschaftlichen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen. Hier wie dort werden Selbstbezug und Bindung thematisch, im Feld der beruflichen Bewährung dann als Fähigkeit, Verträge abzuschliessen und Sachbindungen einzugehen.
Zentrum und Mitte des Buches bildet die Präsentation der Forschung. Zwei Zentralfälle und vier weitere Fälle werden dargestellt und die Auswertung nachvollziehbar präsentiert (S.83 – 266). Dieser Teil gibt den Leserinnen und Lesern einen eindrücklichen Einblick in die Sequenzanalyse. Die Befragten sind in den 60er Jahren geborene Männer und Frauen, die Verfasserin beschreibt sie als ganz normale Bürgerinnen und Bürger mit hohem Bildungsniveau und einer anzunehmenden positiven Einstellung zum Gemeinwesen.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen die schon theoretisch hervorgehobene Bedeutung einer gelingenden Sozialisation. Habitus – Dispositionen, wie die Bindungsfähigkeit oder die „eigene Mitte“ beeinflussen die Positionierung in den Bewährungsfeldern. Gleichzeitig zeigen die Fallrekonstruktionen jedoch keine eindeutigen Linien geschlechterbezogener Differenzen. Die geschlechterübergreifenden Stellungsnahme zu den Bewährungsfeldern zeigt die Verfasserin entlang von vier Punkten auf: (1) Frauen und Männer sind gleichermassen einer Radikalisierung der Bewährungsdynamik ausgesetzt. Ob Frau oder Mann definieren sie ihren Lebenssinn in der Autonomieentfaltung, in einer authentischen Selbstverwirklichung. Der Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung findet sich gleichermassen in beiden Geschlechtern. (2) Es konnte keine schwindende Bedeutung der Leistungsethik festgestellt werden, die berufliche Bewährung wird vielmehr auf Frauen verallgemeinert. (3) Das Vereinbarkeitsproblem kann nicht mehr nur als Frauenthema behandelt werden. Die Verankerung des Bezugs auf sowohl ausserfamiliale als auch familiale Praxisfelder führt auch in männlichen Biographien zu Krisenkonstellationen und Ambivalenzen. Doch Frauen sind stärker den kulturellen „double binds“ ausgesetzt. Bei Frauen mit hohen Qualifikationen und Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung steht die Fürsorge für die Kinder im Schatten der beruflichen Bewährung, was zu inneren Konflikten führen kann bei der gleichzeitig hohen normativen Aufladung der Mutterrolle. (4) Ebenso wie familiäre Tätigkeiten stehen Gemeinwohlbeiträge im Schatten der Leistungsethik. Das ehrenamtliche Engagement scheint nachgeordnet und am ehesten verzichtbar für die Sinnstiftung zu sein.
Die Studie kommt zusammenfassend zum Ergebnis, dass sich eine für die Lebensführung und Sinnstiftung relevante Geschlechterdifferenz nicht finden lässt. Die Verfasserin kommt zum Schluss, dass strukturell die Möglichkeiten zur Autonomieentfaltung und auch die Anforderungen einer selbstbestimmten Lebensführung für das moderne Subjekt geschlechterindifferent eröffnet seien. Die Stärke und die Kohärenz des Habitus erweise sich im Fallvergleich als entscheidend für die Wahrnehmung und den autonomen Umgang mit Handlungsmöglichkeiten, womit die familiäre Sozialisation an Bedeutung gewinnt.
Auf den letzten 20 Seiten (S. 302 – 320) kontextualisiert die Verfasserin ihre Ergebnisse in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie in aktuellen Entwicklungen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen versteht sie als Ausdruck von Bewährungsmythen, die sich nicht so schnell ändern. Während die Stellungsnahmen zu den Bewährungsfeldern geschlechtsübergreifend beantwortet werden, finden sich in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (in die die Anerkennungsordnung eingelassen ist) geschlechtsspezifische Mythen. Diese sind widersprüchlich und lösen in starkem Masse für Frauen Konflikte aus. So wird einerseits Erwerbsarbeit strukturell aufgeladen, andererseits die Mutterrolle mythisch erhöht („gute Mutter“ vs. „Rabenmutter“). Die Verfasserin relativiert damit ihre Ergebnisse. Auf der Deutungsebene zeigt die Vereinbarkeitsdiskussion als Frauenthema eine hohe Überdauerungsfähigkeit. Die Verfasserin fordert dann auch den Bewährungsmythos „gute Elternschaft“ d.h. eine zwischen den Lebensbereichen ausbalancierte Leistungsethik. In diesem Sinne sei nicht mehr der Werktätige das Fundament des Gemeinwesens, sondern der Bürger. Die Vorherrschaft der beruflichen Bewährung müsse – so das Plädoyer der Verfasserin – ersetzt werden durch eine Anerkennung des Bürgers und seiner individualisierten Vorstellung eines sinnerfüllten Lebens.
Diskussion
Mit ihrer Habilitationsschrift legt Ute Luise Fischer einen beachtenswerten Beitrag zur Diskussion um die Thematik Gender und Arbeitsgesellschaft vor. Mit der Deutung der Krise der Arbeitsgesellschaft als kulturelle Krise der Bewährung bringt sie eine Sichtweise ein, mit der sich neue Perspektiven erschliessen lassen.
Anzumerken ist, dass die Verfasserin dabei in weiten Teilen von den Prämissen der objektiven Hermeneutik ausgeht, die – bis auf wenige Ausnahmen – unhinterfragt übernommen werden, wie z.B. die Suche nach Selbstverwirklichung im beruflichen Bewährungsfeld. All zu schnell scheint damit eine Psychologisierung einherzugehen, die den befragten Frauen z.B. eine fehlende Bindungsfähigkeit oder gar eine „fehlende Mitte“ zuschreibt, wenn sie im Beruf nicht Fuss fassen können. Gesellschaftliche Strukturen geraten dabei immer wieder aus dem Blick.
Mit dem befragten Sample wiederholt die Verfasserin die Mittelschichtsbias anderer Genderforschungen. Zwar weist sie selbstkritisch darauf hin, verallgemeinert ihre Ergebnisse dann jedoch ohne explizite Einschränkungen. Es ist sehr fraglich ob für Frauen aus den unteren sozialen Lagen, in prekären Arbeitsstellen, die Arbeit in gleicher Weise eine Stärkung der Autonomie bedeutet und mit Anerkennung verbunden ist. Historisch ist es für diese noch nicht lange her, dass sie sich eine Auszeit vom Arbeitsmarkt zugestehen konnten.
Und zuletzt ist das Buch – was nicht erstaunt als Habilitationsschrift – für Leserinnen und Leser nur dann gut zu lesen, wenn diese sich für eine detaillierte Einführung in die Prämissen der objektiven Hermeneutik interessieren oder aber diese bereits kennen.
Fazit
Mit der Deutung der Krise der Arbeitsgesellschaft als kulturelle Krise der Bewährung erschliesst das Buch eine interessante Argumentationslinie im Kontext Arbeit und Gender. Die Frage nach dem Sinn, den Männer und Frauen den Bewährungsfeldern Arbeit, Familie und Gemeinwesen geben, öffnet z.B. die Diskussion um die Vereinbarkeitsthematik auf neue Weise. Gleichzeitig ist es ein anspruchsvolles Buch, das Leserinnen und Lesern vor allem dann Gewinn bringt, wenn diese sich auf die Argumentationslogik der objektiven Hermeneutik einlassen können und wollen oder in dieser bereits bewandert sind. Es ist ein Buch, an das sich weiterführende Forschungsfragen anschließen, die neben Geschlecht weitere Differenzen in die Untersuchungen aufnehmen, wie z.B. die soziale Lage der Befragten, Alter oder Migrationserfahrung.
Rezension von
Prof. Dr. Gisela Hauss
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