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Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger (Hrsg.): Krieg und Frieden im Prozess der Globalisierung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.03.2010

Cover Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger (Hrsg.): Krieg und Frieden im Prozess der Globalisierung ISBN 978-3-934730-87-8

Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger (Hrsg.): Krieg und Frieden im Prozess der Globalisierung. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2009. 176 Seiten. ISBN 978-3-934730-87-8. 24,90 EUR. CH: 47,50 sFr.

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Krieg und Frieden neu denken

Wie kann man umgehen mit der Situation, dass in der sich immer interdependenter verändernden und entgrenzenden Welt der Globalisierung „Gewissheiten“ in Frage gestellt und aufgehoben werden? Was die Globalisierung an positiver und negativer Entwicklung bewirkt, darüber gibt es zahlreiche Analysen, Prognosen, Kassandrarufe und euphorische Stellungnahmen (vgl. dazu die beiden Extrempositionen: Rezension zu Eva Hartmann u.a., Hrg., Globalisierung, Macht und Hegemonie, sowie: Rezension zu Sebastian Dullien, u.a. Der gute Kapitalismus … und was sich dafür nach der Krise ändern müsste). Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington werden auch „die überlieferten Antworten der Politik auf die Bedrohung der staatlich garantierten Rechtssicherheit wie z. B. das innerstaatliche Gewaltmonopol, das System der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen und andere Prinzipien des modernen Völkerrechts“ in Frage gestellt. Es bedarf, so der Tenor der Politikwissenschaftler, der Juristen, Soziologen, Philosophen und Theologen, angesichts der Globalisierung einer Auseinandersetzung mit den rechtsnormativen und politischen Konzepten der Friedenssicherung.

Autorenteam

Beim Institut für Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt wird diesen Fragen nachgegangen. In einer interdisziplinären Tagung im Januar 2002, nach den Ereignissen des 11. September, haben Wissenschaftler aus deutschen Hochschulen Antworten darauf gesucht, wie in der Moderne die zentralen Anliegen der Zivilisierung, der Befriedigung von Gesellschaften und ihrer Interaktionen durch ein republikanisch verfasstes Recht weiter entwickelt werden kann. Man kann nur darüber spekulieren, weshalb die Herausgeber des Sammelbandes, Matthias Lutz-Bachmann, Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität und Andreas Niederberger, Privatdozent, erst 2009 die 2002 gehaltenen Vorträge in den öffentlichen Diskurs bringen; vielleicht ist es die schwierige Thematik? Um so wichtiger ist es, die Frage nach „Krieg und Frieden im Prozess der Globalisierung“ interdisziplinär von kompetenten Referenten stellen zu lassen, heute genau so dringlich und aktuell wie vor fast einem Jahrzehnt.

Aufbau und Inhalt

Der Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin, Herfried Münkler, setzt sich in seinem Beitrag mit „Kriegsszenarien des 21. Jahrhunderts“ auseinander. Wenn die kriegerischen Auseinandersetzung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Erde ereigneten, „nur“ noch 17 Prozent (wie die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung, AKUF zählte) zwischenstaatliche Kriege im klassischen Sinne waren, kann das keine öffentliche Beruhigungspille sein; vielmehr bedeutet das, dass es sich bei den anderen Konflikten um innergesellschaftliche und transnationale Kriege handelt. Diese „low intensity wars“ bedingen nicht nur ein anderes Verständnis von gewaltsamen, nationalen und internationalen Auseinandersetzungen, sondern sie lenken den Blick auch auf die Umkehrung von Täter-Opfer-Relationen: Waren im Ersten Weltkrieg noch rund 90 Prozent der Gefallenen und Verwundeten kämpfende Soldaten, so sind es in den „neuen“ Kriegen mehr als 80 Prozent Zivilisten. Münkler formuliert daraus drei wichtige neue Erkenntnisse:

  1. Der Staat ist nicht mehr der Monopolist des Krieges. Die Privatisierung und Kommerzialisierung des Krieges schreitet voran;
  2. die in den Bürgerkriegen sich zeigende militärische Gewalt ist dezentriert und omnipotent;
  3. die traditionellen Grenzen und die (Kriegs-)Zielsetzungen funktionieren nicht mehr.

Lothar Brock, Frankfurter (em.) Politikwissenschaftler, analysiert das Verhalten von Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien in Krisen- und Konfliktsituationen mit seinem Beitrag „Demokratischer Friede – Republikanischer Krieg“. Zwar gebe es in der politikwissenschaftlichen Einschätzung die Gewissheit, dass Demokratien gegeneinander keine Kriege führten; doch wie wir wissen, ist die Frage, was Demokratie ist und wie sie interpretiert wird, eben nicht eindeutig. Brocks These, dass die öffentliche Akzeptanz oder Hinnahme militärischer Gewaltanwendung (bezogen auf die westlichen Demokratien) dadurch gestärkt werde, dass die rechtliche Selbstbindung von Demokratien im Umgang mit anderen Staaten, vor allem mit Nicht-Demokratien, als Wahrnehmung und gleichzeitig Einschränkung demokratischer Selbstbestimmung verstanden wird. Mit einer historischen und aktuell-politischen Betrachtung zeigt der Autor „das Spannungsverhältnis zwischen der Maxime der Selbstbestimmung… und dem Gebot der Bindung an ein staatenübergreifendes Recht, das der Vernunft eines friedlichen Miteinanders der Staaten entspricht, aber die demokratische Selbstbestimmung aushöhlen kann“, auf.

Hauke Brunkhorst, Soziologe an der Universität Flensburg, diskutiert die Frage: „Gerechter Krieg oder demokratische Konstitutionalisierung internationaler Regime?“. Die Hoffnungen, die nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konflikts aufkeimten, dass es in der Zukunft der Menschheit eine „Einhegung und Umgrenzung“ (Carl Schmitt) und damit auch die Überwindung des Legitimationsgedankens des „gerechten“ Krieges geben könnte, scheinen sich überholt zu haben. Der Autor geht vielmehr davon aus, dass eine Renaissance der Argumentationen für einen gerechten Krieg deutlich erkennbar sei. Er erkennt auch in den Verfassungen und staatsrechtlichen Formulierungen von supranationalen Organisationen, wie etwa der UNO und der EU, „einen strukturellen Widerspruch zwischen deklarierten und halbwegs wirksamen egalitären Rechten einerseits und hegemonialen und demokratisch defizitären Organisationsnormen andererseits“.

Der Politikwissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Klaus Dicke, fragt, ob es eine „kollektive Sicherheit in der Krise“ geben könne und zeigt Möglichkeiten und Grenzen der Friedenssicherung durch Recht und Politik auf. Anknüpfend an die Prinzipien, die von den Völker bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 erkenntnisleitend waren, diskutiert der Autor dieses „moderne Friedensvölkerrecht“ an den Beispielen der Krisen, sprich Kriege, wie etwa dem Irak-Krieg, Kosovo, Afghanistan…, die Fakten der bewaffneten Konflikte und die supranationalen Versuche zu deren Eindämmung. Für eine zukünftige kollektive Sicherheit und der Weiterentwicklung des Friedensvölkerrechts bedürfe es zum einen einer globalpolizeilichen Gefahrenabwehr und Prävention der neuartigen Bedrohung durch privatisierte und terroristische Gewalt; zum anderen müsse eine Reform der Möglichkeiten des Sicherheitsrats der UN einsetzen; und drittens sei eine grundsätzliche Einigung über die Bedeutung der Vereinten Nationen bei der Friedenssicherung erforderlich.

Norbert Lohfink, SJ, Professor (em.) für Exegese des Alten Testaments der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt/M. setzt sich in seinem Beitrag „Glaube und Gewaltanwendung“ mit den Gründungsdokumenten der drei monotheistischen Religionen von Judentum, Christentum und Islam auseinander. Der Begriff „heiliger Krieg“ wird sowohl im Alten Testament, wie auch als „Dschihad“ im Koran benutzt (vgl. dazu auch: Kai Hafez: Heiliger Krieg und Demokratie, transcirpt Verlag, Bielefeld 2009.in: socialnet Rezensionen 8667). Im Neuen Testament wird Gewalt legitimiert in der Gewaltenteilung von Staat und Kirche.

Der Philosoph an der Tübinger Eberhard Karls Universität, Otfried Höffe, reflektiert „Grundlagen der globalen Koexistenz“, indem er nach den westlichen oder universellen Werten fragt. Es ist die global agierende Gewalt, die auf die fatalen Wirkungen der philosophischen und politischen Kontroversen in der Süd – West – Auseinandersetzung verweist (vgl. dazu auch: Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen, Bertelsmann Verlag, München 2009, in: socialnet Rezensionen 8994). Höffe mahnt dabei an, dass es in den ideologischen, politischen und religiösen Auseinandersetzungen „Bürgertugenden im Zeichen interkultureller Koexistenz“ geben müsse, die auf den Grundlagen stützen, dass sich keine Religion oder Weltanschauung das Recht herausnehmen dürfe, alleinige Wahrheit und Recht zu verkünden, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen und damit säkularisierte Rechtsauffassungen die kulturelle und religiöse Identität bestimmen, und dass schließlich ein gleichberechtigter Dialog auf Augenhöhe Partikularinteressen und hegemoniale Macht ablösen müsse.

Matthias Lutz-Bachmann referiert über die Herausforderungen für das Internationale Öffentlich Recht, indem er über „Androhung und präventiven Einsatz militärischer Macht“ nachdenkt. Die Vision vom „Ewigen Frieden“, wie sie Kant gedacht hat, erfordert eine global anerkannte und verpflichtende (Menschen-)Rechtsauffassung, dass „die Androhung von Gewalt und die Anwendung militärischer Machtmittel nicht mehr nur eine faktische Herausforderung für die bestehende internationale Ordnung, sondern zugleich stets auch eine Verletzung geltenden internationalen Rechts…“ darstellt. Er greift die Wortmeldungen der beiden US-amerikanischen Philosophen Michael Walzer und Allen E Buchanan auf, die in je unterschiedlicher Weise für eine grundlegende Reform der Vereinten Nationen plädieren und, mit Matthias Lutz-Bachmann darauf hinweisen, dass ein mit Durchgriffsrechten der Weltgemeinschaft ausgestattetes Recht „auch Prozesse der Verrechtlichung und Demokratisierung innerhalb der bestehenden Staaten weltweit angestoßen und rechtspolitisch unterstützt werden“ müssen.

Im Schlussbeitrag formuliert Andreas Niederberger Gedanken, wie „transnationale Demokratie im Angesicht ’alter’ und ’neuer’ Kriege“ durchgesetzt werden kann. Es ist die philosophische und aktuell-politische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der kollektiven Gewalt, die als neue Herausforderung für die Alternative Krieg oder Frieden in der transnationalen Demokratie zu leisten ist. Dabei bedarf es netzwerkartiger Strukturen, um zum einen das Ideal der transnationalen Demokratie zu realisieren, zum anderen aber auch der Berücksichtigung des „Prinzips der Nicht-Beherrschung“, nicht zu vergessen: die Herstellung von politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse, die ein „gutes Leben“ aller Menschen in unserer (Einen) Welt möglich machen.

Fazit

Die philosophischen, rechts-politischen, ethisch-moralischen und soziologischen Reflexionen über die lokal und global existierenden Fragen zur kollektiven Sicherheit in der globalisierten Welt sind notwendig und nützlich für die theoretische Bestimmung darüber, wie die Phänomene Krieg und Gewalt in der Welt erkannt und in praktisches politisches Handeln so umgesetzt werden können, dass es zu einer „Zivilisierung und Befriedung von Gesellschaften und ihren Interaktionen durch ein republikanisch verfasstes Recht“ kommt. Der Diskurs darüber befindet sich erst am Anfang eines Wandlungsprozesses. Die Autoren haben in ihren Beiträgen überwiegend die westliche Sicht dargestellt; es wäre sicherlich hilfreich und für den interkulturellen Dialog förderlich, wenn diese Auffassungen gespiegelt und konfrontiert würden mit den chinindischen, lateinamerikanischen, afrikanischen … weltanschaulichen, philosophischen und politischen Positionen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1695 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245